Ein pädagogisches Antitoxin von Florian Haderer
Zentrale Impulse und Ansätze der Entwicklung von kritischer Bubenarbeit, Männer*forschung und Männlichkeitstheorie sind aus feministischen und queeren Bewegungen und Forschungstraditionen entstanden. In ihren Zielen wünscht gendersensible Bubenarbeit nichts weniger als in ihrer Männlichkeit reflektierte und empathische junge Männer* und ein (geschlechter-)solidarisches Leben für alle.
Einen Erfolg feministischer Kämpfe seit der Moderne markiert, dass die Kategorie Geschlecht in der Reflexion und Analyse gesellschaftlicher und kultureller Praxen etabliert ist. Es sind Frauen*, Lesben und Schwule, People of Color und andere, die sich mit ihren Bewegungen Räume erkämpfen und schaffen, aus denen heraus sie in aktivistischen Bündnissen nicht nur fundamentale Gesellschaftskritik formulieren, sondern auch widerständige Strategien entwickeln und umsetzen. Mit dem Begriff des Patriarchats etabliert die Frauen*bewegung einen performativen Kampfbegriff feministischer Kritik, der ab Mitte des 20. Jahrhunderts Geschlechterverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse auffasst und einen Zustand der Ungerechtigkeit beschreibt, den es zu überwinden gilt. Sehr stark zeigt die feministische Selbstreflexion die historisch gewachsene Verschränkung von patriarchalen Strukturen mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise, sowie die die Geschlechterverhältnisse fortschreibende hegemoniale Rolle des Staates auf. Die Wahrnehmung des systemischen und systematischen Charakters von geschlechtsbasierter Diskriminierung und Unterdrückung wird mit Aufkommen der Gender- und Queer-Studies von Frauen auf FLINT* (Frauen*, Lesben, Intersex-, Nonbinary- und Transpersonen) ausdifferenziert, die Kritik am Patriarchat um die Kritik an der Heteronormativität sozialer Ausverhandlungsprozesse verschärft. Auch die Geschlechtsidentität von Männern wird mit dem Begriff des Cis-Mannes begrifflich neu gefasst und damit für andere Identifikationen (z.B. für Transmänner) geöffnet. Allen Anstrengungen gemeinsam ist das Bedürfnis, stärkere und solidarischere Akteur*innen im Kampf gegen Diskriminierungsmechanismen sein zu können. Diese Mechanismen zeigen sich in kulturellen und juristischen Beschränkungen für FLINT*, welche sich durch die Interdependenz mit rassistischer und klassistischer Unterdrückung maßgeblich auf die soziale Welt und die gedankliche und materielle Unabhängigkeit von FLINT* auswirken.
Gendersensible Bubenarbeit wäre ohne diese Vorarbeit nicht denkbar und entwickelte sich als Alternative zur schon etablierten Mädchenarbeit. Eine gendersensible Förderung von Jungen steht dabei, wie manchmal moniert, nicht im Widerspruch zu einer Förderung von anderen Geschlechtern, zu Feminismus oder Frauenbewegung. Allen diesen Traditionen ist gemeinsam, dass sie auf geschlechtliche und sexuelle Gleichberechtigung und gesellschaftliche Gerechtigkeit abzielen.
Wenn die Annahme stimmt, dass patriarchale und heteronormative Strukturen vor allem auch von Cis-Männern und ihren Männlichkeitsbildern perpetuiert werden, dann kann es doch nur hilfreich sein, die Burschen und jungen Männer* in ihrer Selbstreflexion und Identitätsfindung zu unterstützen. In den neueren Diskursen ist der Begriff der »toxischen Männlichkeit« Mode geworden und beschreibt Handlungen von Männern, die sich an stereotypen Normen orientieren, die sie dazu veranlassen, sich selbst und anderen zu schaden. Also so in etwa das Gegenteil eines sich um sich und das Wohlbefinden seines Umfelds kümmernde Person. Diese Männlichkeit ist giftig und nährt sich aus idealtypischen Männlichkeitsbildern. Ein Gegengift sieht die kritische Bubenarbeit in der Arbeit an alternativen, identitätsstiftenden Bilder, in die Burschen sich einpassen, wenn sie von anderen als Männer betrachtet werden bzw. werden wollen. Es geht um Anforderungen, um als »richtiger« Mann akzeptiert zu werden und diese Anforderungen werden von der Gesellschaft, der Familie, der Erwachsenenwelt, den peer groups, politischen und religiösen Institutionen und/oder popkulturellen Vorbildern in Musik und Sport formuliert. In der Arbeit mit den Buben und jungen Männern heißt das, nachzufragen, was sie von sich fordern, was oder wem sie nacheifern, wem sie gehorchen (müssen), wen oder was sie als stark empfinden, welche Wünsche sie in sich tragen, was sie wütend macht und wie sie mit ihrer Wut umzugehen gelernt haben, wo und bei wem sie sich verstanden fühlen – und es birgt den Versuch, ihnen alternative Identifikationsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Dafür muss aber erst ein Zugang zu den Buben gefunden werden, um direkt mit den Buben zu arbeiten, sie wahrzunehmen und ihnen zuzuhören. »Wir fragen viel und geben keine Antworten«, sagt Phillipp Leeb, der Gründer und Obmann des Wiener Vereins Poika (Verein zur Förderung gendersensibler Bubenarbeit in Unterricht und Erziehung) im Interview mit dem Augustin vom 17. November 2020. »Das sind sie nicht gewohnt, sie bekommen immer Antworten von Lehrern, Eltern, vom Internet. Wer hört den Jugendlichen aber wirklich zu?« Wer interessiert ist an dem, was Jugendliche denken, müsse sie fragen, was sie denken. Und das geht, indem man ihnen Räume anbietet, sich mit sich selbst, ihren Männlichkeitsbildern und den Vorstellungen von ihnen selbst auseinanderzusetzen. »Während feministische Mädchenarbeit schon lange safe spaces schafft, um darin über Problematiken oder schwierig besetzte Themen zu sprechen, haben Schulen und Jugendzentren die Burschen während dieser Zeit einfach auf den Fußballplatz geschickt«, stellt Rick Reuther, der auch bei Poika mit Burschen und jungen Männern arbeitet, in einem Interview in der April-2019-Ausgabe vom feministischen Magazin an.schläge fest.
Männlichkeitskonstruktionen bzw. männliche Identitäten verknüpfen sich häufig eng mit Erwerbsorientierung. Burschen binden Familienplanung oft an ihre Fähigkeit, eine Familie alleine finanzieren zu können, manche wenden sich von der Schule ab, weil sie davon ausgehen, dass sie ohnehin arbeitslos werden und sich daher Schule nicht lohnt. Die Buben dazu zu bringen, sich konstruktiv mit ihrer Berufs- und Lebensplanung zu beschäftigen, kann einen wichtiger Schub bringen, durch den Burschen eine Vorstellung von sich kreieren, an die sie auch glauben können und die nicht mit Verantwortung überfrachtet ist. Buben können dem Männlichkeitsversprechen des Versorgers zumeist genauso viel abgewinnen wie dem Versprechen von Souveränität und Überlegenheit. »Gekränkte Männlichkeit, jugendliche Enttäuschung trifft auf politische Extremisten, auf jemanden, der sagt, ich verstehe dich, räche dich an der Gesellschaft, schlag zu«, erläutert Philipp Leeb. In diesem Zusammenhang bietet genderkritische Bubenarbeit frühe Arbeit zur Rechtsextremismus- und Radikalisierungsprävention.
Gendersensible Bubenarbeit hat jedoch immer auch die Frage im Auge, wie geschlechterreflektiert gearbeitet werden kann, ohne Geschlechterstereotype zu verstärken. Die Buben gibt es nicht. Bubenrealitäten unterscheiden sich nach gesellschaftlichen Ungleichheitslinien wie Rassismus, sozio-ökonomischen Klassen bzw. Milieus, sexueller Orientierung etc. Eine Auseinandersetzung mit den Überschneidungen zwischen Geschlecht und anderen Linien der Ungleichheit ist mithin notwendig, um Geschlechterstereotype über Jungen nicht noch zu verschärfen, um Motivationen und Anlässe für Jungen zu unterschiedlichen Formen dominanten Verhaltens zu verstehen, um Geschlecht nicht gegen andere Unterscheidungslinien auszuspielen, kurz: um eine subjektorientierte und adressatengerechte Pädagogik zu machen.
Florian Haderer lebt nach einigen Jahren als Lehrer in Sarajewo und Halle wieder in Wien und unterrichtet an einer MS. Dazwischen schreibt er Prosa und Theaterstücke. Der Text folgt in weiten Teilen den Ausführungen in: *Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungenarbeit, Geschlecht und Bildung. Herausgeber_ innen: Dissens e.V. & Katharina Debus, Bernard Könnecke, Klaus Schwerma, Olaf Stuve. 2012 Dissens e.V., Berlin