Dass die staatlich verordneten Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus katastrophale Folgen haben, steht außer Zweifel. Und zwar auf jedem Gebiet unseres ökonomischen, sozialen, kulturellen, emotionalen und persönlichen Lebens. Die aktuellen Ereignisse erfordern eine Ergänzung und Erweiterung der Argumentation. Diese soll in der kommenden Dezember Ausgabe geleistet werde.
VON KARL REITTER
Folgen der staatlich verordneten Maßnahmen und deren desaströse Auswirkungen sind derzeit nur vage abzuschätzen. Dass diese Maßnahmen inzwischen sogar Todesopfer gefordert haben, scheint unbezweifelbar. »Die Coronavirus-Pandemie hat die Versorgung von Nicht-COVID-19 Kranken weltweit schwer beeinträchtigt. Das geht aus einer Umfrage der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Mai in 155 Ländern hervor.« (medmedia.at 30.06.2020) Andere Berichte verweisen auf die Gefahr von zusätzlichen Hungertoten angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs. Diese Tatsachen können kaum ernsthaft bestritten werden – da es aber scheinbar keine Alternativen gibt, werden sie mit Bedauern akzeptiert. Der überwiegende Teil der Linken reagiert auf die staatlichen Maßnahmen kaum. Wohl wird die Einhaltung der Verfassung durchaus eingefordert, aber letztlich kommen viele Linke über das Echo der staatlichen Regelungen »Ich schau auf dich, du schaust auf mich« kaum hinaus. Oder, wie es der linke Publizist Wolf Wetzel formulierte: »Es ist sicherlich nicht ungerecht, wenn man festhält, dass die Linke im Lockdown nicht existierte.« (Wetzel, tele polis, 21.5.2020)
Gehen wir einen Schritt zurück zu der Zeit, als Covid-19 noch unbekannt war. Im November letzten Jahres schrieb die Kleine Zeitung: »1.400 Tote im Vorjahr. Die Grippe ist wieder im Anmarsch. Die Todesfälle betrafen nicht nur Risikogruppen wie chronisch Kranke und hoch Betagte, sondern auch Kinder. … 2017/2018 waren es wegen einer stärkeren Influenzawelle um die 2.800 Opfer.« (Kleine Zeitung 13.11.2019) Nur zum Vergleich: Bis Ende September sind 802 Menschen an Covid-19 verstorben. Wie hat Politik und Öffentlichkeit auf diesen Mahnruf reagiert, was wurde unternommen, um bei der nächsten Grippewelle nicht wieder hunderte, ja tausende Grippetote beklagen zu müssen? Abgesehen von der Aufforderung, sich impfen zu lassen, nichts. Dann kam das Virus nach Europa, die Leichenberge in Bergamo und später in Madrid erschütterten Öffentlichkeit und Politik. Ein kaum erforschter Virus drohte, eine Todesspur durch Europa zu ziehen. Die ersten Maßnahmen waren von Panik und Angst bestimmt. Wie Kurt Langbein berichtet, folgte die Bundesregierung damals der Prognose des »Complexity Science Hub Vienna (CSH), eine von Ministerien und Firmen finanzierte Forschungseinrichtung«. (Langbein, Falter, 30.9.2020) Doch weder ist der befürchtete Kollaps des Spitalwesens eingetreten noch waren zehntausende Toten zu beklagen. Von einem Kollaps des Gesundheitssystems konnte niemals die Rede sein. Der Höchststand an Corona-PatientInnen auf Intensivstationen war zu Beginn April; etwa 20 Prozent der Intensivbetten waren belegt. Zum Stichtag 30.9.2020 sind es 12 Prozent, obwohl die Zahl der »Fälle« damals etwa 11.000 betrug, Ende September waren es 45.000. (Quelle: info.gesundheitsministerium.at)
Politik und Öffentlichkeit starren trotz sinkender Todesraten weiter ausschließlich auf Infektionszahlen
Nach über sechs Monaten Erfahrung wissen wir mehr. »Die anfangs als Begründung für die Maßnahmen genannte Sterblichkeit von bis zu fünf Prozent hat sich nicht bewahrheitet. Heute gehen die Forscher davon aus, dass 0,27 bis 0,36 Prozent der an Covid-19 Erkrankten nicht überleben.« (Langbein, Falter, 30.9.2020) Wir könnten uns also alle freuen: Covid-19 hat offenbar seine Gefährlichkeit nach und nach etwas eingebüßt. Die Todesraten sind also nach und nach zurückgegangen, eine Tatsache, die von niemandem bestritten wird. Folgendes Schaubild beruht auf den offiziellen Zahlen des Robert-Koch-Instituts für Deutschland. Der Autor Joachim Schappert setzt die wöchentlich positiv Getesteten mit den wöchentlichen Sterbefällen in Beziehung und errechnete folgender Grafik:
Ich habe, basierend auf den offiziellen Daten des Gesundheitsministeriums, sowohl die Infektionszahlen als auch die Todesfälle im Zeitverlauf aufsummiert, das Ergebnis ist beeindruckend (Stand 1.11.2020): siehe Abb. 2 unten.
Statt Erleichterung weiter Panikmache
Man stelle sich vor, es wäre umgekehrt: Das Virus wirke immer tödlicher, was zugleich auch immer mehr schwerst Erkrankte bedeuten würde. Weitere drastische Maßnahmen wären wohl angebracht. Anstatt jedoch der Erleichterung angesichts der sinkenden Gefährlichkeit Ausdruck zu verleihen, passiert geradezu das Gegenteil. »Angesichts solch guter Nachrichten wäre eigentlich zu erwarten, dass ein Jubelsturm durch die Medien und die Bevölkerung geht, da inzwischen vom neuen Coronavirus offenbar weitaus weniger Gefahr ausgeht, als es anfänglich der Fall war.« (Kuhbandner, telepolis, 21.9.2020 ) Doch exakt das Umgekehrte geschieht. Mit allerlei Ausflüchten und Halbwahrheiten wird diese Entwicklung systematisch kleingeschrieben. Vor allem wird behauptet, das statistische Sinken der Todesrate sei auf steigende, positive Fallzahlen bei Jungen und Jüngsten zurückzuführen, die selten schwer erkranken oder gar sterben. Die Frankfurter Allgemeine titelt daher: »Noch retten die Jungen die Statistik«. (14.8.2020) Das ist irreführend. Wieder sprechen die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (für Deutschland) eine andere Sprache: siehe Abb. 3
Selbst die Sterberate der über 80jährigen ist von Anfang März bis Mitte September von 35 auf 5 Prozent gesunken. Nun kann es für diese Entwicklung viele Gründe geben: Diskutiert wird eine verbesserte medizinische Behandlung, zudem werden durch die Ausweitung der Testungen Menschen als positiv gemeldet, die so gut wie keine Symptome haben, aber so die Verhältniszahlen beeinflussen. Zudem kann es falsche Testergebnisse geben, Menschen werden als positiv gezählt, obwohl sie es nicht sind, und, zu guter Letzt, das Virus kann mutiert sein und so seine Gefährlichkeit eingebüßt haben. Möglicherweise spielen alle Faktoren zusammen. »Unabhängig davon, welcher Fall konkret zutrifft, wäre die vom Coronavirus für die Bevölkerung ausgehende Gefahr inzwischen in jedem Fall vergleichsweise gering.« (Kuhbandner, telepolis, 21.9.2020) Doch die Mainstream-Presse setzt weiterhin auf Panikmache und versteigt sich in abstruse Behauptungen: Oliver Klein macht sich auf der Webseite des ZDF geradezu Sorgen: »Warum die Todesrate in den USA kaum steigt«, grübelt er und behauptet: »Ein weiterer Aspekt ist, dass offenbar doch mehr Menschen an Corona sterben als in den offiziellen Statistiken genannt.« (Klein, 19.07.2020) In fast allen Studien wird das Gegenteil angenommen: »Die nach wie vor verfolgte Praxis ist es, einen Todesfall selbst dann als Coronavirus-Todesfall zu zählen, wenn die Person zwar an anderen Ursachen verstorben ist, aber ein positives Coronavirus-Testergebnis aufweist.« (Kuhbandner, telepolis, 21.9.2020 ) Das Journal Fokus wiederum meint, »Schuld« an den sinkenden Quoten seien junge Menschen, die die Infektion nicht erkennen: »Viele junge Menschen bemerken ihre Infektion angesichts komplett ausbleibender Symptome nicht einmal.« (Fokus 8.9.2020)
Weiterhin: Starren auf Infektionszahlen
Inzwischen wissen wir auch, dass positiv nicht gleich positiv ist. »Es gehe nicht wie bei den PCR-Tests nur um ein Ja oder Nein zur Anwesenheit von Sars-CoV-2-Viren, sondern um eine Schätzung der Viruslast, womit sich auch abschätzen lassen könnte, wie ansteckend eine Person ist. ›Es ist wirklich irrational‹, so wird der Epidemiologe Michael Mina von der Harvard T. H. Chan School of Public Health zitiert, ›die Erkenntnis zu übergehen, dass dies ein quantitatives Thema ist.‹« (Rötzer, telepolis, 3.9.2020) »Außerdem gilt: Zwar können auch symptomfrei Infizierte andere Menschen anstecken; ob ein Positiv-Getesteter tatsächlich infektiös ist, kann jedoch nur über aufwendige Virenanzucht in einer Zellkultur nachgewiesen werden.« (Schappert, telepolis, 21.8.2020) Wäre es nun nicht hoch an der Zeit, die getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus unter diesen Gesichtspunkten zu evaluieren? Wäre es nicht sinnvoll, folgende Anregung von Joachim Schappert aufzugreifen? »Vor dieser Entwicklung erscheint die Forderung vernünftig, Corona-Eindämmungsmaßnahmen nicht mehr ausschließlich von den Positiv-Getesteten abhängig zu machen, sondern auch von der tatsächlichen Bedrohungslage, die durch die Zahl der schwer Erkrankten und Verstorbenen repräsentiert wird.« (Schappert, telepolis, 30.9.2020)
Kein Zurück mehr möglich
Angesichts der enormen Schäden, die die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 angerichtet haben, ist es für die herrschenden Kreise kaum noch möglich, Fehler einzugestehen oder gar Überreaktionen einzuräumen. Stattdessen legitimieren tägliche Horrormeldungen die massiven Eingriffe in Gesellschaft und Ökonomie. Steigen die Zahlen der Infizierten, müssen eben noch drastischere Maßnahmen her – Diskussion beendet.
Vom Todesvirus zur heimtückischen Bedrohung
Schien es angesichts der Leichenberge von Bergamo so, als ob eine Infektion schwere Krankheit oder gar den Tod bedeuten könnte, hat sich nun das Bedrohungsbild verändert. Das Heimtückische an Corona ist nun nicht mehr die Erkrankung, sondern umgekehrt die Tatsache, dass viele, insbesondere jüngere Menschen, es gar nicht wirklich merken, dass sie das Virus in sich tragen. Nicht offensichtlich Erkrankte müssen gemieden werden, sondern kerngesunde, insbesondere jüngere Menschen. Der Paranoia sind so keine Grenzen gesetzt. Versuchen symptomlose Menschen ein halbwegs normales Sozialleben zu praktizieren, werden sie als verantwortungslose Subjekte denunziert. »Wer an einer Neuauflage des kollektiven Ausnahmezustands samt Totalschaden der Wirtschaft schuld wäre, ist zum Glück auch schon geklärt: Es sind all jene Bürger, die sich den Anordnungen der Politik widersetzen. ›Der Weg von der Hirnlosigkeit weniger zur Arbeitslosigkeit vieler ist ein kurzer‹, diagnostizierte jüngst Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer sympathisch und einfühlsam, wie man ihn kennt. Immerhin war schon länger nicht mehr von ›Lebensgefährdern‹ die Rede, wie noch zu Beginn der Pandemie. Aber das kommt vielleicht auch wieder.« (Rosemarie Schwaiger, Profil, 19.09.2020)
Kann die Linke noch reagieren?
Für eine ganze Phase schien es so, als ob Kritik an den verheerenden Maßnahmen von extremen Rechten, ObskurantInnen und ReichsfahnenträgerInnen beherrscht würde. Wer an der Sinnhaftigkeit der Maßnahmen Zweifel hegte, fand sich rasch in diese Szene eingemeindet. Linke Opposition entfaltete sich wohl anhand der Frage der Vereinbarkeit mit der Verfassung, die – was inzwischen mehr oder minder zugegeben wurde – durchaus gebrochen wurde. Aber das unausgesprochene Totschlagargument lautet nach wie vor: Na, wenn schon, solange wir auch durch illegale und halblegale Maßnahmen vor dem Virus geschützt werden, müssen wir halt ein Auge zudrücken. Ich sehe Anzeichen, dass sich das Blatt doch wenden könnte. Immer mehr Linke bezweifeln die Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit so mancher Verordnung. Überlassen wir doch das Thema schlechthin nicht weiter den Rechten und Ultrarechten. Thomas Schmidinger schrieb auf Facebook: »Ich erlebe das schon zunehmend auf verschiedenen Ebenen so, dass die Leute langsam die Geduld verlieren. Wenn all das nicht endlich einmal auch von links kritisch thematisiert oder noch besser lösungsorientiert angegangen wird, wenn stattdessen Kritik daran weiter immer gleich ins rechtsextreme Verschwörungseck gestellt wird, kann sich irgendwann die FPÖ (und THC) am Corona-Thema sanieren!« (Schmidinger, Facebook, 3.10.2020) Dem möchte ich nichts hinzufügen.