Zum Streit über die neuen Mittelstreckenraketen in Europa.
VON WALTER BAIER
Das Ende der Systemkonkurrenz führte zwar zu einer Erweiterung der NATO, nicht aber zu einer Entmilitarisierung Europas. Auch wenn die Landkarten neu gezeichnet wurden, die Drohung einer atomaren Vernichtung schwebt weiterhin genau über unseren Köpfen. Statt durchaus eigennütziger Friedenspolitik setzt Österreich auf europäische Streitkräfte und erhöhte Rüstungsausgaben.
Sollte Russland sich nicht bis Anfang Februar verpflichten, seine neuen Marschflugkörper zu verschrotten, so werden sich die USA nicht mehr an den 1987 geschlossenen Vertrag über die Beseitigung der Mittelstrecken in Europa gebunden fühlen und ein paar hundert atomar bestückte Raketen in Westeuropa stationieren. So lautet das Ultimatum, das der US-Präsident Russland gestellt hat. Die Antwort aus Moskau folgte prompt und lautete, dass man Gleiches mit Gleichem zurückzahlen werde.
Anders gesagt: Wenn sich die atomaren Supermächte im Streit darüber, wie oft sie die Welt vernichten können müssten, um von einem strategischen Gleichgewicht zu sprechen, nicht einigen, so einigen sie sich doch darauf, dass der Testlauf für den nuklearen Holocaust in Europa stattfinden soll.
Das Kalkül gleicht demjenigen, das Europa zu Ende der 70er-Jahre an den Rand eines Atomkrieges gerückt hatte. Die USA stellen in Europa mit Atomsprengköpfen bestückte Raketen auf, die russische Städte in weniger als fünf Minuten in Asche verwandeln könnten. Die russische Seite rüstet für einen Entwaffnungs- oder Gegenschlag, der sich logischer Weise dorthin richtet, wo die Raketen abgefeuert werden: Westeuropa. Der Rest wäre dann Verhandlungssache zwischen den Oberbefehlshabern. So die schwarze Theorie, der zufolge sich das Inferno regional begrenzen und die Eskalation unterbrechen ließe.
Trump und Putin mögen die Illusion hegen, dem Desaster erste Reihe, fußfrei, aus mehreren tausend Kilometern Entfernung beiwohnen zu können; für die Europäer_innen kann diese nicht bestehen. Sie müssen wissen, dass der auf »Europe begrenzte Atomkrieg« bereits in den ersten 30 Minuten Dutzende Millionen Menschenleben kosten und das Ende ihrer Staaten bedeuten würde.
Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Vertrages bestand die Möglichkeit, Europa effektiv abzurüsten, insbesondere atomwaffenfrei zu machen. Die USA, die den Kalten Krieg gewonnen hatten, ließen diese historische Möglichkeit ungenützt. Durch die sukzessiven Erweiterungen der NATO, neue Stützpunkte und atomar bestückbare Raketen in Osteuropa wurden neue Spannungen provoziert.
Auf der anderen Seite besann sich Russland, als es die durch den Übergang zum Kapitalismus ausgelöste Krise überwunden hatte, seiner traditionellen imperialen Ansprüche. Es will wieder gelten. Und wie die Krisen in der Ukraine und Syrien zeigen, verfügt es auch über die entsprechenden Machtmittel. Man kann dieses neu erwachte russische Machtbewusstsein und seine strategischen Ziele vollkommen ablehnen, aber man muss sie ernst nehmen.
Statt in dieser Situation eskalierender internationaler Spannung etwas zu unternehmen, um die Lage zu beruhigen, einigten sich EU-Mitgliedsstaaten, darunter Österreich, 2017 auf die »Permanent Structured Cooperation« (PESCO), ein Militärkonzept, dessen Ziel es ist, über eine drastische Erhöhung der Rüstungsausgaben und bessere Koordinierung der Streitkräfte den Weg zu einer europäischen Armee zu öffnen.
Auch das zur Rechtfertigung eines EU-Militarismus bemühte Argument, man müsse, um sich von der unberechenbaren US-Politik frei zu strampeln, autonome militärische Mittel schaffen, würde mit der Aufstellung der neuen Raketen nun aber obsolet. Stehen einmal die Raketen, so sitzt der alleinige Herr über Krieg und Frieden in Europa nicht in Brüssel, weder bei der EU noch bei der NATO, sondern im Weißen Haus.
Spätestens jetzt muss der Öffentlichkeit klarwerden, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten, von denen die meisten der NATO angehören, eine sicherheitspolitische Kehrtwendung einleiten müssen. Auch ohne die neuen Raketen und PESCO ist Europa übermilitarisiert. Frieden kann nicht durch noch mehr Rüstung, sondern nur durch eine friedliche Politik, die auf Abbau statt auf Zuspitzung der Konfrontation zielt, gesichert werden.
Österreich ist ein neutraler Staat in der EU, und diese Stellung wurde von der EU im EU-Vertrag von Lissabon auch anerkannt. Von der österreichischen Regierung kann daher verlangt werden, sich aus allen der Neutralität widersprechenden Bindungen an die NATO zu befreien und im Rahmen der EU auf eine entmilitarisierte Außenpolitik zu dringen.
Vor allem darf es im Bereich der besonders gefährlichen nuklearen Mittelstreckenraketen nicht zu einem Wettrüsten kommen. Man muss aber weiterdenken. Lateinamerika etwa ist ein Kontinent ohne Atomwaffen. Warum sollte es nicht ebenso möglich sein, alle in Europa stationierten und auf Europa zielenden Atomwaffen abzubauen. Und wenn der Weg zum atomwaffenfreien Europa noch weit ist, warum nicht mit einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa den Anfang machen. Wäre das nicht ein lohnendes Ziel für die Europapolitik eines neutralen Kleinstaats?