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»Wir sitzen alle im selben Boot«, verkünden die Regierenden vieler Länder. Doch dass vor dem Virus alle gleich wären, egal ob arm oder reich, hält einer näheren Betrachtung nicht stand.
VON DANIELA BRODESSER
Corona bringt aktuell massive Veränderungen und Einschnitte für den Alltag von uns allen. Viele haben ihre Jobs verloren oder sind in Kurzarbeit. Die Umstellung von Schulalltag auf Homeschooling musste innerhalb weniger Tage erfolgen. Mindestlohn-Jobs im Handel und in der Pflege sind plötzlich jene, die mit am wichtigsten sind. Ausgangsbeschränkungen und Unsicherheiten führen zu einem Leben von einem Tag zum anderen – plötzlich ist fast nichts mehr planbar. Entweder ist es nicht erlaubt, oder man hat schlicht kein Geld mehr dafür.
Für ungefähr eineinhalb Millionen Menschen sind die Auswirkungen anders. Denn ein Großteil der Maßnahmen haben bereits vorher zu ihrem Alltag gezählt: Isolation, fehlende soziale Teilhabe und ein Alltag, der sich nur von einem Tag zum anderen planen lässt, ist für armutsgefährdete Menschen auch bisher bittere Lebensrealität.
Armutsbetroffene trifft es härter
Natürlich gibt es auch für Betroffene Änderungen, und die sind gravierend. Wer vorher schon mit Armut zu kämpfen hatte, spürt die Krise noch stärker. Sei es beim Einkauf, wo viele der günstigsten Produkte nicht erhältlich sind oder geringfügige Jobs, die nun weggefallen. Viele Armutsbetroffene waren vorher prekär beschäftigt, zum Beispiel mehrfach geringfügig oder als freie DienstnehmerInnen. Mit viel Glück bekommt man eine Entschädigung, der Großteil wird aber im Regen stehen gelassen. Zu bedenken sind auch die Mehrkosten, die durch das Homeschooling entstehen: Das Ausdrucken der Unterlagen und Übungsblätter für die Kinder, die sündteuren Druckerpatronen, das Schulessen, das jetzt wegfällt – all das klingt nach nicht viel, ist für Armutsbetroffene aber meist nicht stemmbar. Andere Rechnungen müssen dann liegen bleiben. Die Spirale dreht sich weiter und weiter.
Gut gemeint von der Regierung ist die Stundung der Miete. Ich frage mich aber, wie es dann am Jahresende für viele Menschen aussieht. Es sind ja dann die normal laufende Miete und die Rückzahlungen fällig. Die meisten kämpfen jetzt bereits damit, die Miete zahlen zu können, und viele werden nicht sofort wieder eine Arbeit finden.
Zugespitzter Status quo
In einem Punkt – und das ist für mich persönlich eine der prägendsten und traurigsten Erkenntnisse dieser Krise – hat sich wenig bis nichts für Betroffene geändert: bei der sozialen Teilhabe. Für den Großteil der Menschen in diesem Land bedeuten die Ausgangsbeschränkungen eine extreme Umstellung ihres Alltags: Der Kaffee mit FreundInnen, das Mittagessen mit KollegInnen, trainieren im Fitnessstudio, samstags ins Kino oder Theater, der Ausflug am Wochenende – all das vermissen die meisten unglaublich und es fällt schwer. Für Armutsbetroffene Menschen ist das die tägliche Realität. Das war sie auch schon vor Corona. Dinge zu planen, die nächsten Wochen strukturieren zu können – all das ist trauriger Alltag, wenn man in Armut lebt. Man ist froh, wenn die nächste Woche planbar ist, doch meistens kommt eine unvorhergesehene Ausgabe für eine Rechnung oder für die Schule und wirft wieder alles über den Haufen. Für mich selbst bemerke ich diese Krise nur in einem: dem Homeschooling der Kinder. Denn auch vorher konnten wir uns weder Ausflüge noch Kino, essen gehen oder einen regelmäßigen Besuch des Hallenbades leisten. Armutsbetroffene verbringen ihren Alltag vor allem zuhause.
Physisch isolieren, nicht sozial
Aus eigener Erfahrung: Was sollten jene unbedingt vermeiden, die jetzt die finanziellen Auswirkungen von Corona zu spüren bekommen und vorher nie mit Armut zu tun hatten? Isolation vermeiden! Und damit meine ich nicht das Abstand halten. Auch wenn der Druck noch so groß ist, die Existenzängste noch so schlimm, die schlaflosen Nächte noch so lang, wichtig ist jetzt, sich nicht zurückzuziehen, sondern die sozialen Kontakte aufrecht zu erhalten. Denn Armut treibt viel zu oft in die Isolation. Schleichend. Meist bemerkt man es erst, wenn es zu spät ist. Es ist eine Spirale, aus der nur die wenigsten wieder rausfinden. Leider. Rückzug, Isolation, Existenzängste, Schlaflosigkeit – damit kämpfen fast alle Betroffenen und es macht krank. Die Ängste kann einem niemand nehmen, doch helfen gute Kontakte, diese Zeit ein wenig besser zu überstehen. Und vor allem eines: sucht die Schuld nicht bei euch selbst. Betroffenen wurde das schon viel zu lange eingeredet.
Armut ist kein Naturgesetz
Armut war und ist kein individuelles Problem. Armut ist strukturell bedingt. Es gab schon vor der Krise zu viele Arbeitssuchende auf zu wenige freie Stellen, es gab massive Probleme mit der Vereinbarkeit von Job und Kinderbetreuung und der Pflege von Angehörigen. Aktuell steigen die Arbeitslosenzahlen in noch nie dagewesenem Ausmaß an und niemand kann garantieren, wie es nach dem Überwinden von Corona auf dem Arbeitsmarkt weitergeht. Natürlich ist es wichtig, dass die Wirtschaft unterstützt wird. Doch auf uns hier unten zu vergessen, weder das Arbeitslosengeld noch die Ausgleichszulage zu erhöhen, spricht nicht für diese Regierung. Wobei ich persönlich es traurig finde, dass es eine Krise wie diese braucht, damit die Mehrheit entdeckt, dass das Arbeitslosengeld viel zu niedrig ist.
Menschen an und unter der Armutsgrenze bleiben weiterhin ungesehen, sie kommen schon irgendwie über die Runden. Wie sie das schaffen, wie viel Kraft dahintersteckt, wie zermürbend der Kampf gegen Armut ist und wie krankmachend Armut sein kann und infolge Auswirkungen auf die Teilhabe am Erwerbsleben hat – all diese Faktoren werden unter den Teppich gekehrt. Anstatt Armutsbetroffene zu beschämen, sie als Faule und Sozialschmarotzer zu präsentieren, wünsche ich mir, dass nach Corona ein Umdenken kommt. Armut ist so viel mehr als »nur« finanzielle Not. Sie isoliert, sie macht krank und sie zermürbt. Sie wäre für einen Staat wie Österreich leicht zu bekämpfen. Armut darf nicht mehr übersehen und übergangen werden. Denn durch Corona betrifft sie inzwischen noch mehr als die 1,5 Millionen der bereits bisher Gefährdeten.
Daniela Brodesser redet aus Erfahrung über Armut, Beschämung und prekäre Beschäftigung. Zusammen mit Kathrin Quatember betreibt sie den Podcast »Bitte stören« – Wir reden über Armut und Ungleichheit.
Alle und manche noch etwas mehr sind von Verboten und Verordnungen betroffen.
von MONIKA MOKRE und STEPHAN VESCO
»Einschränkungen sind notwendig, um Freiheit zu erlangen«, sagte Bundeskanzler Kurz in einer seiner zahlreichen Pressekonferenzen der letzten Zeit. Dies klingt geradezu nach einer religiösen Botschaft – büße im Diesseits, um im Jenseits in das Himmelreich eintreten zu dürfen. Und ebenso wie die Botschaft vom Himmelreich weckt auch die des Kanzlers gewisse Zweifel daran, ob dieser Zustand tatsächlich je erreicht wird – und wenn ja, wann.
Unklare Festlegungen und Prognosen sind in Religionen üblich, denn hier ist nicht Wissen gefragt, sondern Glauben. Im demokratischen Rechtsstaat hingegen sollten die Regeln klar und auch verständlich sein – und wie Alfred Noll kürzlich in einem Standard-Kommentar festgestellt hat, Rechtsstaatlichkeit muss insbesondere in Krisenzeiten eingehalten werden, um nicht Gefahr zu laufen, sie auf Dauer zu verlieren.
Verbote von Zusammenkünften
Die rasch aufeinander folgenden Gesetze und Verordnungen der letzten Zeit orientieren sich allerdings nicht an diesem Prinzip. Schon die Verordnung, die eine allgemeine Betretungsbeschränkung für den öffentlichen Raum vorsieht, ging über den Gesetzestext weit hinaus, der nur erlaubt, das Betreten bestimmter Orte zu untersagen. In den Tagen vor Ostern wurde nochmals nachgeschärft. Ein Erlass des Gesundheitsministers vom 1. April ordnete die Durchführung eines bundesweiten Verbots auch von Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen an (in Wien etwa mit Magistratsverordnung vom 3. April umgesetzt); allerdings explizit nur für den Fall, dass daran mehr als fünf nicht im gleichen Haushalt lebende Personen teilnehmen.
Dies führte zum einen dazu, dass sich die Bevölkerung verunsichert zeigte – war sie bisher doch, der Kommunikation der Bundesregierung folgend, davon ausgegangen, dass Zusammenkünfte in privaten Räumen ohnehin untersagt seien. Andererseits gab es Kritik daran, dass der § 15 des Epidemiegesetzes als Grundlage für die Verordnung herangezogen wurde. Diese Bestimmung sieht aber nur die Untersagung von Veranstaltungen vor, »welche ein Zusammenströmen größerer Menschenmengen mit sich bringen«. Damit werden kaum private Veranstaltungen gemeint sein.
In der Folge kündigte die Regierung einen Rückzieher an. In der Pressekonferenz vom 6. April äußerte sie, die bisher bestehenden Ausgangsbeschränkungen seien ausreichend, weil sich daraus bereits ein Verbot privater Zusammenkünfte mit nicht zum Haushalt gehörenden Personen ergeben würde. Der Erlass sei daher obsolet, so Anschober. Die entsprechende Verordnung des Wiener Magistrats wurde allerdings erst am 10. April aufgehoben.
Damit besteht auch nach wie vor keine direkte Handhabe der Polizei gegen Veranstaltungen in privaten Räumlichkeiten. Mit der Aufhebung der Verordnung ist ein Einschreiten der Exekutive jedenfalls nur mehr wegen Lärmerregung oder Anstandsverletzung zulässig. Eine zu Maßnahmen berechtigende Strafbarkeit wegen Corona wäre ausschließlich bei einem konkreten Verdacht auf eine Infektion wegen Gefährdung anderer gegeben. Das wurde selbst von Wiens Polizeipräsident Pürstl in einem Falter-Interview vom 8. April zugestanden.
Nicht unerwähnt bleiben soll aber, dass mit dem 3. Covid-Gesetz vom 6. April weitreichende Befugnisse zur Polizei hinsichtlich der bestehenden Einschränkungen im öffentlichen Raum geschaffen wurden.
Verlängerung des Zivildiensts
Vielfach problematisch sind auch die in der Coronakrise zur Anwendung kommenden Bestimmungen des Zivildienstgesetzes. Im Wesentlichen wurde dabei auf schon bestehende Vorschriften zum »außergewöhnlichen Zivildienst« zurückgegriffen, welche nun erstmals vollstreckt werden. Diese Form des Zivildienstes ist ausnahmsweise bei »Elementarereignissen, Unglücksfällen außergewöhnlichen Umfanges und außerordentlichen Notständen« vorgesehen. Zu seiner Ableistung kann die Verlängerung bestehender Zivildienste verfügt werden. Entsprechend wurden in der aktuellen Krise Zivildiener verlängert, deren Dienst an sich mit Ende März zu Ende gegangen wäre. Zusätzlich wurden jene eingesetzt, die sich auf den Aufruf der Regierung freiwillig gemeldet hatten.
Das Gesetz sieht nun allerdings eine ungleiche Bezahlung vor. Jene, die bereits Zivildienst leisten, erhalten zu ihrer üblichen Pauschalvergütung von € 346,70 nur einen Zuschlag von € 189,90, also € 536,60 insgesamt. Die freiwillig Gemeldeten erhalten hingegen zusätzlich zu den € 536,60 eine Entschädigung, wie sie einem Wehrpflichtigen zusteht, der einen Einsatzpräsenzdienst leistet, von € 1.140,34 netto. Gegen diese Ungleichbehandlung für gleiche Arbeit haben 60 Zivildiener bereits die Vorbereitung einer Klage veranlasst. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie Recht bekommen.
Weiters besonders problematisch ist die Tatsache, dass sogar jene Zivildiener verlängert wurden, die selbst einer Risikogruppe angehören. Die Zivildienstserviceagentur empfiehlt den Betroffenen lediglich, »alle gesundheitlichen Einschränkungen« dem Vorgesetzten in der Einrichtung zu melden. Diese habe die gemeldeten Einschränkungen dann »im Sinn ihrer Obsorgepflicht« zu berücksichtigen.
Mit dem 2. Covid-Gesetz vom 21. März neu dazugekommen sind Bestimmungen für die Zuweisung von Zivildienern an bestimmte Einrichtungen, die festlegen, dass einer Beschwerde gegen die Zuweisung keine aufschiebende Wirkung zukommt. Das heißt, dass die Zivildiener einer Zuweisung unbedingt Folge zu leisten haben, jedenfalls solange das Verwaltungsgericht nicht über die Beschwerde entschieden hat. Wer sich weigert, muss wie bisher schon mit einer Geldstrafe von bis zu € 2.180 oder unter Umständen (wenn er sich dem Zivildienst überhaupt »entziehen« möchte) gar mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr rechnen. Das gilt wohlgemerkt auch für jene, die sich freiwillig gemeldet haben.
In den erläuternden Bemerkungen heißt es, dass man ein »unbürokratisches System« einführen wollte und weiters, dass »[all] dies im Lichte der obgenannten außerordentlichen Ereignisse selbst im Hinblick auf die damit verbundenen Beschränkungen der persönlichen Freiheit sowie der Freiheit der Erwerbstätigkeit sachlich gerechtfertigt erschein[en]« würde. Daran, vor allem an der Verhältnismäßigkeit, sind erhebliche Zweifel angebracht.
Schwer nachvollziehbar ist schließlich eine neue Bestimmung, welche es ermöglicht, auch gewinnorientierte Unternehmen als Träger des Zivildienstes anzuerkennen. Mit der bescheidmäßigen Anerkennung können diesen Zivildiener zugewiesen werden. Für diese fallen als Spesen dann lediglich die dem Bund zu erstattenden Kosten für den Einsatz der Zivildienstleistenden an, das heißt für verlängerte Zivildiener nur € 536,60 monatlich.
Situation in Gefängnissen
Und schließlich gibt es diejenigen, die schon vor der Krise nicht frei waren und auch danach keine Freiheit erwarten dürfen: InsassInnen von Gefängnissen. Das 2. Covid 19-Gesetz ermächtigt die Justizministerin unter anderem dazu, den Besuchsverkehr für die Dauer der vorläufigen Maßnahmen auf telefonische Kontakte zu beschränken. Es ist seit dem 22. März in Kraft. Am 23. und am 26. März erließ die Justizministerin Verordnungen, die diese Regelung umsetzen.
Zweifellos würde ein Ausbruch von Covid 19 in den beengten Verhältnissen einer Justizanstalt zu einer sehr kritischen Situation führen. Damit lässt sich der Entfall von Tischbesuchen argumentieren, doch zur Zeit gibt es auch keine Besuche hinter einer Glasscheibe – mit dem Argument, dass BesucherInnen die JustizwachebeamtInnen anstecken könnten, die ihrerseits dann den Virus in die Anstalt bringen. JustizwachebeamtInnen sind allerdings nicht interniert, sie haben in ihrer Freizeit ebenso viel – oder wenig – Kontakt mit anderen Menschen wie die gesamte Bevölkerung. Mittlerweile bestätigte Fälle einer Infektion bei JustizwachebeamtInnen und einem Häftling zeigen, dass es unmöglich ist, Justizanstalten von der Pandemie abzuschirmen. Auch nicht durch ein Besuchsverbot. Daher stellt sich die Frage, ob dieses totale Verbot notwendig und verhältnismäßig ist. Es gibt gute Gründe, beides zu verneinen, denn es gibt keinen sachlichen Grund, Gefangene aufgrund der Krise schlechter zu behandeln als andere, im Gegenteil sind sie eine Gruppe, deren wenige verbleibende Rechte besonders geschützt werden müssen. Das wird auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt, wonach das Besuchsrecht in den Schutzbereich des Rechts auf Familienleben nach Artikel 8 der Menschenrechtskonvention fällt.
Die Justizministerin nennt Telefonie und Videotelefonie als Ersatz für die entfallenden Besuche. Dies ist einerseits offensichtlich kein auch nur annähernd vollwertiger Ersatz für die persönliche Begegnung. Und funktioniert andererseits auch nicht. Für Videotelefonie fehlen die technischen Einrichtungen; eine erhebliche Erweiterung der Telefonkontakte scheitert bisher in vielen Anstalten an der langsamen bürokratischen Umsetzung im Strafvollzug. Telefonzeiten hängen noch dazu von den finanziellen Möglichkeiten der Gefangenen ab, denn Telefonieren im Gefängnis ist sehr teuer. Und eine Übernahme der Telefonkosten durch den Staat, die im Vergleich zu allen anderen Hilfspaketen finanziell eher vernachlässigbar wäre, ist noch nicht einmal angedacht.
Auch könnte man der Gefahr des Corona-Ausbruchs im Strafvollzug mit anderen Maßnahmen begegnen. Etwa durch eine Reduzierung der Belegung der Anstalten: durch Aussetzung der Untersuchungshaft, vermehrte Entlassung auf Bewährung bei kurzen Strafen oder Strafresten, vermehrte Genehmigung von Fußfesseln. Letzteres wiederum mit finanzieller staatlicher Unterstützung, denn auch die Kosten für die Fußfessel können von vielen Gefangenen nicht aufgebracht werden. Auch von solchen Plänen haben wir bisher nichts gehört; allerdings wird wohl versucht, den Strafantritt von neuen Gefangenen aufzuschieben. Gleichzeitig wurden jedoch bereits gewährte und gesetzlich ebenso verankerte Vollzugslockerungen, wie Freigänge oder Ausgänge gestrichen, und bereits bewilligte Anträge auf elektronisch überwachten Hausarrest nicht umgesetzt, da es kein Personal gebe, um die Fußfesseln anzulegen.
Der Rechtsstaat braucht Kontrolle – auch und gerade in Krisenzeiten. An dieser Kontrolle fehlt es zur Zeit allgemein, noch mehr allerdings im Gefängnis, das von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet bleibt und in dem alle Möglichkeiten der Gefangenen, sich selbst zu organisieren – etwa in einer Gewerkschaft – untersagt sind.
Monika Mokre, Stephan Vesco sind Mitglieder der Solidaritätsgruppe für die Gründung einer Gefangenengewerkschaft Österreich.
Vier Fragen an acht Künstler*innen.
Erst überbieten sich »alle« in radikalen Maßnahmen, jetzt soll die Wirtschaft wieder schrittweise hochgefahren werden. Was ist daran zu unterstützen, was geht zu weit? Wie weit können BürgerInnenrechte suspendiert werden? Bleibt Konsum eine beliebte Freizeitbeschäftigung und Zeichen von Normalität?
REMI BRANDNER: Ich kann ja nicht behaupten, dass es mir bis jetzt in der so genannten Krise schlecht geht. Ich gebe wesentlich viel weniger Geld aus (das ich freilich auch nicht habe…). Ich habe mich vermutlich nicht angesteckt … (oder hatte es in leichter Form; kann genauso gut ein anderes Virus gewesen sein).
Ich komme – da berufliche »Ablenkungen« weitgehend weggebrochen sind – endlich dazu, meinen Saustall auszumisten, ihn zu sichten, zu sortieren: Zeitungen, Bücher, Requisiten, Musikinstrumente, Texte, Noten, Kleider und (potentielle und echte Kostüme), Lebensmittel – die Liste ließe sich lange fortsetzen. Das ist überfällig, da die Übersicht schon lange nicht mehr möglich war, mir schon lange alles über den Kopf gewachsen ist. (Remi Brandner ist Schauspieler und Musiker)
CHRISTINE SCHÖRKHUBER: Normalität ist ja ein relativer Begriff. Alles was halbwegs erträglich ist wird nach einer Weile Normalität, das ist mehr eine Frage des Zugangs. Das Reiseverbot gilt jetzt eben für alle. Und eigentlich war es nicht normal, dass davor manche reisen durften und andere nicht. Die Idee Europäische Union ging meiner Meinung nach bereits in der Flüchtlingsthematik verloren.
Was das Tracking betrifft, fürchte ich momentan eher den völlig unreflektierten Gebrauch von fb, twitch, zoom etc. und das inflationäre Unterzeichnen von Nutzungsbedingungen. Die Daten, die jetzt bereits schon ständig freiwillig hergegeben werden, sind zur Überwachung der BürgerInnen weit besser geeignet als es z. B. die Corona App wäre. (Christine Schörkhuber ist Medienkünstlerin, Musikerin und Kulturaktivistin)
ANKE ARMANDI: Die Luft wirkt reiner, frischer. Vor unserem Fenster in der sonst recht befahrenen Heinestraße steht die Allee in zartem Grün. Doch der friedliche Rückzug ins Private wie in einer Art neuen Biedermeierzeit wird jeden Tag von neuen Informationen und Verordnungen auf die Probe gestellt und trügt. Immer wieder kommt die Angst um den Arbeitsplatz meines Mannes, um die Großeltern, die für uns hinter verschlossenen Grenzen in Italien und Deutschland wohnen, die Sorge, sie mögen gesund bleiben und die Frage, wann wir uns wiedersehen. Zwei künstlerische Projekte sind abgesagt, sie werden im Herbst nachgeholt. Mir geht dabei auch Geld verloren, aber ich arbeite weiter. Ich habe neue Bilder im Kopf, die von unserer Lage erzählen. Mir brennt es unter den Fingernägeln, sie zu malen, aber die Tage verrinnen im Nu. Ich muss einkaufen und mit meiner fast zehnjährigen Tochter bis in den Nachmittag hinein Hausübungen machen. Nach einem Monat ist es schwer, sie zu motivieren. Wann sperren die Schulen endlich wieder auf? Meine Tochter weint in letzter Zeit immer wieder, weil sie ihre Freunde vermisst. Ich spüre eine große Verantwortung für sie, während mein Mann sich konzentrieren muss auf das Home Office. Plötzlich fühle ich mich in die 50iger Jahre versetzt, als wäre es selbstverständlich, mich um Kind und Haushalt zu kümmern, während der Vater um den Arbeitsplatz kämpft.
Ich sehe auch Chancen. Wenn all die Maßnahmen möglich sind, das strikte Einhalten zum Schutz vor Corona und die finanzielle Unterstützung des Staates – könnte man nicht das gleiche strikte Vorgehen für den Klimaschutz und mehr soziale Gerechtigkeit umsetzen? Wir brauchen wieder ein Gefühl für die Menschheitsfamilie, wie ich immer wieder höre in Predigten im Fernsehen. Das gefällt mir. Das Aufeinander-Aufpassen, Innehalten, Verlangsamen und Nachdenken über uns. (Anke Armandi ist Malerin und Performerin)
ELISE MORY: Am Anfang meiner persönlichen CoVid19 Krise war die Absage einer Theatervorstellung. Aber wie dann der Shutdown der Wirtschaft verkündet wurde, kam der Schock. Ich habe das in einem von der ÖVP regierten Land undenkbar gehalten, es wurde Ernst. Dann kamen tägliche Pressekonferenzen und ich war nur damit beschäftigt, mitzukommen. Für mein Leben zu übersetzen. Da war für kritische Stimmen und Gedanken kein Platz. Langsam lichtet sich der Nebel und es wird sichtbar, wer verteilt das Geld (WKO), wer bekommt es (großzügige Parteisponsor*innen), wer darf Sport betreiben (Segelflieger*innen und Schütz*innen), wer bekommt Applaus und wer die Boni? Und wer bleibt dabei auf der Strecke? (#leavenonebehind) (Elise Mory ist Musikerin)
Kann es überhaupt ein Zurück zu Normalität geben? Kollabiert die kapitalistische Ökonomie? Bleibt es bei der rabiaten Abschottung der Staaten – EU ade? Wie werden wir uns in der Öffentlichkeit bewegen können?
MARGOT HRUBY: Ich werde jedenfalls das Kollabieren der kapitalistischen Ökonomie freudig einklatschen! Zu befürchten sind Bargeldabschaffung und sowieso Totalüberwachung. »Retten« würde uns die Kommunikation und die Solidarität. Momentan regieren aber Nationalismus, pseudomoralische Besserwisserei und Denunziantentum. Leider! (Margot Hruby ist Schauspielerin und Sängerin)
ELISE MORY: In den letzten Tagen hören wir jetzt viel vom Weg zurück in die Normalität. Es wird also davon ausgegangen, dass wenn alle Maßnahmen (also die neue Umschreibung für Gebote und Verbote) zurückgenommen wurden, wir wieder da sind, wo wir vor dem Ausbruch der Covid 19-Krise waren. Das halte ich für unmöglich und auch nicht erstrebenswert. Denn auf einmal wird sichtbar, wen unsere Gesellschaft aller braucht, dass wir alle dazu gehören, wo was fehlt. Ich fände es schade, wenn wir nicht mehr als Applaus für die Mitarbeiter*innen in den sogenannten systemerhaltenden Berufen haben. Wir sollten auch nicht vergessen, was es bedeutet, wenn Pfleger*innen nicht einreisen dürfen und was die leisten, die einfach hierbleiben und weiter arbeiten, weil’s ja sonst nie mand (für das Geld) macht. Diese Krise bringt meiner Meinung nach unübersehbar an die Oberfläche, was neoliberale Politik anrichtet. Dass wir in Österreichs Krankenhäusern paar unbelegte Intensivbetten in Reserve haben, erweist sich als größtmöglicher Glücksfall und ist allein dem Umstand zu verdanken, dass noch nicht das gesamte österreichische Gesundheitssystem von der neoliberalen Effizienzlogik ergriffen wurde. Wir waren aber gerade im Endspurt dorthin. Und da will ich nicht mehr hin.
VERONIKA EBERHART: Den Versuch der Digitalisierung vieler kultureller Bereiche sehe ich persönlich als fast unerträglich. Wie fühlst du dich, wenn du zwei Stunden in den Computer schaust? Wie fühlst du dich, wenn du zwei Stunden lang tanzt, durch einen Raum gehst oder dich einfach nur drehst? Die Wahrnehmung wird in der Digitalisierung völlig beschnitten und der Körper fixiert.
Leider glaube ich zudem auch, dass unser Begehren und Wahrnehmen so stark von kapitalistischer Logik durchdrungen ist, dass ein Umgestalten von Lebensrealitäten, die einen egalitäreren Ansatz hätten, auch ein totales Umwerfen von Begehrensstrukturen mit sich bringen müsste. Aber die politische Vorstellungen seitens jener, die Entscheidungen für Gesellschaften treffen, haben sich nicht verändert, im Gegenteil, denkt man an Ungarn und Polen, werden die momentanen Umstände eher dazu genutzt um noch nationalistischer und faschistischer zu regieren. Es gibt kein Umdenken in der Aufwertung von Reproduktionsarbeit, kein Umdenken in der Aufwertung von Pflegearbeit. Warum ist es nicht vorstellbar, dass das Pflegen von alten (oder bedürftigen) Menschen oder das Ernten von Lebensmitteln, die wir essen, höher entlohnt werden? Alleine nur eine kleine Verschiebung innerhalb des neoliberalen Systems scheint unmöglich, wie also soll ein Sturz funktionieren? Die Frage nach Status ist essentiell im Neoliberalismus, und diese wird ökonomisch gewertet. Vielleicht bringt die aktuelle Situation eine kleine Statusaufwertung jener Dienstleistungsberufe, die tragend für eine Gesellschaft sind. (Veronika Eberhart ist bildende Künstlerin und Musikerin)
CHRISTINE SCHÖRKHUBER: Wirklich relevant finde ich die Aufwertung vieler Berufe, die nun als kritische Infrastruktur erkannt wurden und in einem anderen Licht gesehen werden. Plötzlich wird klar, was für die Gesellschaft unerlässlich ist: Pflegeberufe, LagerarbeiterInnen, Supermarktkassierinnen, BetreuerInnen, Post, Energie- und Wasserversorgung. All diese Berufe waren vorher nicht besonders hoch angesehen und auch nicht besonders gut bezahlt. Es bleibt zu hoffen, dass dies sich auch nachhaltig im Bewusstsein festsetzt. Denn niemand hat bisher noch einen CEO im Büro vermisst.
DENICE BOURBON: Ganz klar hoffe ich, dass dies den ersten Schritt zum langsamen Tod des Kapitalismus darstellt. Natürlich hoffe ich das. Aber alle sagen mir ständig, dass ich Wahnvorstellungen habe, hahaha. Aber ich wünsche mir, dass die Menschen neu darüber nachdenken müssen, wie wir leben und wohin wir unser Geld stecken, wenn wir eine Gesellschaft jenseits der Konzerne haben wollen. Ich möchte, dass die Menschen ernsthaft darüber nachdenken, wie es wäre, aus der Quarantäne rauszukommen, und alles, was übrig wäre, Imax Kinos, Mc Donalds, Starbucks, der Praterdome-Nachtclub und H&M sind, weil alle anderen Unternehmen starben, während ihre Kund_innen eingesperrt waren. Auch hier bin ich mit Greta Thunberg einer Meinung: zurück zu welcher Normalität? Diese Normalität war verkorkst, warum sollten wir zu ihr zurückkehren?
Genauso mit dem Wunsch nach Umarmungen: wenn es menschlicher Kontakt ist, wonach sich die Leute am meisten sehnen, führt dies vielleicht zu einer ganz neuen Sichtweise auf das, was im Leben wichtig ist? Auch all die Menschen, die nun hysterisch in der Natur joggen und zum ersten Mal in ihrem Leben wandern, anstatt in ihren Autos herumzufahren, und jetzt so tun, als sei dies das Wichtigste, was ihnen je passiert ist – vielleicht werden sie gar ihre SUVs verkaufen? Hahahaha
Und außerdem: der Himmel ohne Flugzeuge ist ziemlich fantastisch grad; wir müssen anscheinend doch nicht zu jedem Geschäftstreffen um die Welt fliegen, wenn wir skypen können, oder einmal im Monat per Flugzeug Städtereisen tätigen, um uns erfüllt zu fühlen (was hinterher ja sowieso nie der Fall ist) … just sayin’ (Denice Bourbon is a Star)
Gibt es nicht auch die positive Seite: wie überlebt der Neoliberalismus sein Desaster? Erzwingt die Krise das Grundeinkommen? Öffnet sich gar das Tor zum Kommunismus?
ELISE MORY: Ganze Branchen sind auf Almosen des Staates angewiesen, und nicht wenige werden sich die Frage stellen, ob es nicht viel einfacher wäre, wenn jede*r ein Grundeinkommen hätte. Meine Anstellung neben der freiberuflichen Tätigkeit sichert mir gerade mein Einkommen, denn ich habe keine Ahnung, wann ich wieder eine Konzertgage erhalten werde. Noch weniger weiß ich, wann ich wieder mit Menschen aus verschiedenen Ländern und in verschiedenen Ländern zusammen etwas tun darf. Denn in diesen Zeiten, wo ständig an die gesellschaftliche Verantwortung und den Zusammenhalt appelliert wird, ist von internationalen Lösungen noch wenig zu sehen. Am deutlichsten zeigt sich das wieder einmal im (Nicht)Umgang mit tausenden geflüchteten Menschen, eingesperrt in unhaltbaren Zuständen, abgewehrt mit »Keine Zeit, wir haben jetzt Krise.«
CHRISTINE SCHÖRKHUBER: Was ich selber gerade tue: Wir haben die virtuelle, Community-basierte Bühne echoraeume. klingt.org ins Leben gerufen. Es gibt dort auch Chats, man kann »zusammensitzen« nach den Veranstaltungen und sich austauschen. Mittlerweile machen zwölf Contributors ihre Veranstaltungen dort. Wir haben einen unabhängigen, Open Source-basierten Streamingserver errichtet und versuchen so weit wie möglich, das auch ohne Datenkraken Repräsentanz zu schaffen und Kulturarbeit zu leisten. Das Ziel ist, einerseits MusikerInnen weiter Gagen bezahlen zu können und das Kulturleben am Laufen zu halten, andererseits das idealistische Experiment der frühen Tage des Internets wieder neu zu wagen. Community-basierte Projekte sind noch kein Kommunismus – aber herausfordernd genug, und ein wichtiger Schritt.
ANNEMARIE KLINGER: Ich weiß es nicht, ob unsere Gesellschaft kollabieren wird. In vielem, wie dem sozialen Zusammenhalt, zeigt sie innerhalb Österreichs (noch) ihre Stärke. Allerdings reicht dieser kaum über Grenzen hinaus. Und blickt man weiter, ist das Bild so erschreckend, wie es auch schon vor dieser Krise war – doch wo es noch Kritik gegen eine Abschottung gab, wird sie nun »im Namen der Sicherheit« zur Kenntnis genommen, wie so manches andere. Das ist beängstigend. Es wird sich zeigen, wie stark die Zivilgesellschaft sein kann, wenn sie für Demokratie und Menschenrechte, für Kultur und Menschlichkeit eintritt. Und welche Rolle dabei nationalen Regierungen zukommen kann und wird. Wir befinden uns vor einem Paradigmenwechsel – die Welt wird nach der Krise nicht mehr dieselbe sein. Vielleicht ist es eine Chance. (Annemarie Klinger ist Theaterwissenschafterin und Lektorin)
Was denkst du?
MARGOT HRUBY: Ich versuche gerade sehr intensiv gar nicht zu denken. Das gelingt mir aber leider nur schlecht.
DENICE BOURBON: Die Krise sollte das Grundeinkommen erzwingen, aber der Neoliberalismus an der Macht wird diese Idee bis aufs Blut bekämpfen. Ein Wandel wird wahrscheinlich nur kommen, wenn die Massen ihn wie bei der Französische Revolution erzwingen. Wir alle wissen, dass die Menschen (meistens) nur dann für eine Veränderung kämpfen, wenn sie sich persönlich mit den Zielen identifizieren können. Wenn also jede_r massiv und persönlich am Arsch ist, weil das kapitalistische System zu bröckeln beginnt, dann hoffe ich, dass sie die Guillotine für Benko und Red Bull herausholen, anstatt sich gegenseitig die Köpfe abzuhacken. Und natürlich: Unterschätzt niemals den Faktor kollektiver Verweigerung. Verweigern, verweigern, verweigern. So viele von uns wie möglich. Sie können uns nicht alle ins Gefängnis werfen.
Zur Wiedereröffnung des Künstlerhauses Wien.
VON EVA BRENNER
Die Schlacht ist geschlagen – nach dreijähriger Renovierung des ehrwürdigen Künstlerhauses Wien fand das avantgardistische ReOPENING mit viel Pomp, hunderten Gästen, politischer und anderer Prominenz am 6. März statt. KünstlerInnen, KulturvermittlerInnen, KulturpolitikerInnen, Kunstaffine und Schaulustige strömten auf den Karlsplatz, wo eine von den Glocken der Karlskirche übertönte Eröffnungsperformance rosa gekleideter Live Ball-Figuren das »Begräbnis« des selbstverwalteten Künstlerhauses einläuteten. Im Inneren ging es mit den offiziellen Ansprachen weiter, in denen eine ohnmächtige Kultur-Nomenklatura (Ludwig, Lunacek) der politischen Kapitulation vor der Privatwirtschaft gratulierte.
150 Jahre Geschichte Vergangenheit
Seit 1868 hatte hier die älteste Künstlerhaus-Vereinigung Europas internen Spannungen und Spaltungstendenzen getrotzt und basisdemokratisch zusammengewirkt, um ihr eigenes Haus mit Wechselausstellungen der Mitglieder zu bespielen. In dreijähriger Umbauzeit ist aus der ehrwürdigen Institution mit 439 Mitgliedern im historischen Stil mitten im Herzen der Stadt ein modischer Eventschuppen geworden, finanziert, renoviert und orchestriert von Bautycoon Hans-Peter Haselsteiner und sekundiert von seinem Freund, dem Albertina-Direktor Klaus-Albrecht Schröder, der ebendort eine Dependance mit dem Titel Albertina modern errichtet hat, die von nun an die österreichische Kunst nach 1945 im Kontext der internationalen Moderne zeigen wird.
Die jahrelange Unterförderung der öffentlichen Hand hat zu diesem Ausverkauf geführt, sodass die KünstlerInnen sich gezwungen sahen, dem Angebot des Kunstmäzens, der das Haus als »devastierte Kaschemme«, »Ratzenburg« und Schande der Stadt verunglimpfte, zuzustimmen. Haselsteiner übernahm also 2015 74 Prozent des Hauses, zahlte nichts für den Standort, investierte 57 Millionen in die Generalsanierung und sagte die Zahlung laufender Betriebskosten zu. Ein exzellenter »Deal« für den Strabag-Eigentümer, dessen Firma den Umbau machte, und der so quasi gratis eine überaus attraktive Immobilie Stadt erwarb. Im Gegenzug stellte er Forderungen bezüglich künftiger Nutzung, war er doch auf der Suche nach einer Ausstellungsplattform für seine eben aus der Baumax-Pleite zugekaufte Essl-Kunstsammlung, die unter KennerInnen als »äußerst mittelmäßig« gilt (Lore Heuermann).
Die Albertina modern wird künftig das Erd- und Untergeschoss und die angrenzenden Räumen des Seitentrakts bespielen, der seit 1974 experimentelles Theater beherbergte (Künstlerhaustheater, dietheater) und zuletzt unter dem Namen »Brut« heimatlos geworden ist, was neben den Protesten der bildenden nun auch den Aufschrei der darstellenden KünstlerInnen auf den Plan rief, denn bisher wurde noch kein Ersatzquartier für das »Brut« gefunden.
Die Künstlerhaus-Eröffnungsausstellung »Alles war klar« wurde vom norddeutschen Kurator Tim Voss nicht vorrangig Künstlerhaus-Mitgliedern, sondern diversen zeitgenössischen KünstlerInnen aus überlassen, in seinen Augen ein Zeichen notwendiger Öffnung. Als »Paarlauf zweier Ungleicher« bezeichnete der Standard-Kritiker den Umstand, dass bereits auf der neuen Fassade neben der überdimensionalen Albertina modern-Aufschrift die »Künstlerhaus Vereinigung«-Schrifttafel kaum sichtbar ist. Im Obergeschoß drängt sich eine Auswahl von Kunstwerken der 25 ausgewählten Künstlervereinigung-Mitglieder in einem einzigen Raum aneinana. eine Zeichnung von Lore Heuermann – und wird in beigespult. Der Fokus der Ausstellung gehört den Gästen und präsentiert 48 Positionen, eine gemischte Palette bunter Collagen, Bilder, Skulpturen und Installationen, die kaum nachvollziehbare Referenzen zur Geschichte des Hauses aufnehmen. So montierte – sie hat aus Baustellen für die neue Wiener U-Bahn-Linie Lehm gegraben und daraus Tontafeln gebrannt.
Im zentralen White Cube Eventraum lobte eine mit fake joy sprudelnde Aktrice, Mercedes Echerer, die »gelungene« Renovierung vor zahlreichen Ehrengästen mit den Worten: »Auf diesen Augenblick haben wir alle jahrelang gewartet!« Dieser peinliche Kniefall vor dem Mäzen wollte vertuschen, was jede/r mit bloßem Auge sehen könnte: Aus den stattlichen Gründerzeiträumen wurden weiß getünchte, charakterlose Ausstellungsräume gemacht, die historischen Parkettböden durch Baumarkt-Billig-Auflagen ersetzt, die holzgetäfelten Flügeltüren von kalten Stahlrahmen, die Decken von hochgezwirbelter Beleuchtungstechnik verkleidet.
Interview mit Künstlerhaus-Mitglied Lore Heuermann (geb. 1937)
Wie beurteilst du als Mitglied des Künstlerhauses die (un-)»freundliche« Übernahme durch die Familienstiftung des Baulöwen Haselsteiner. Das Haus war eineinhalb Jahrhunderte im Besitz der KünstlerInnen-Vereinigung Europas, die jetzt über knapp 26 Prozent verfügt und ihre Aktivitäten auf das Obergeschoss mit knapp 900 Quadratmetern beschränken muss.
LORE HEUERMANN: Ich sag’s mal platt: Früher galt, dass ein Mäzen ein Mäzen ist! Die Medicis waren gebildete Gefühlsmenschen, sie haben Künstler gefördert, ohne Konditionen zu diktieren. Sie wollten sich sicherlich nicht etwas unter den Nagel reißen.
Haselsteiner behauptet, es gäbe in Wien kein Museum für die zeitgenössische Kunst nach 1945 und er würde nun diesem Manko abhelfen.
LORE HEUERMANN: In Wahrheit suchte er einen prominenten Ausstellungsort für seine kurz davor erworbene Essl-Sammlung, die er als Dauerleihgabe bis 2044 dem Museum Albertina übergeben hat. Wo bekommt man heute um den Preis einer Renovierung ein so zentral gelegenes Museumsgebäude? Das ist ein unfairer Deal gewesen, auf die Künstler Innen wurde dabei keine Rücksicht genommen.
Albertina-Direktor Schröder wiederum nutzt die Gelegenheit, um für sich eine attraktive Dependance zu schaffen, die mehr als das Doppelte an Ausstellungsfläche zur Verfügung hat – und erhält nach Hinausdrängen des »Brut«-Performance Zentrums den sog. französischen Salon gratis dazu.
LORE HEUERMANN: Es wirkt nach konzertierter Aktion. Obwohl der Kulturauftrag der Albertina die grafische Sammlung sein sollte, wird Schröder nicht müde, sich mit wenig Neues bietenden Mega-Schauen der Österreichischen und internationalen Modernen in die Schlagzeilen zu bringen.
Die grüne Kulturpolitikerin Eva Blimlinger nennt die Situation ein »Resultat des
Versagens der Kulturpolitik«. Wie hätte ein anderer Weg ausgesehen?
LORE HEUERMANN: Die Stadtpolitik hätte der Künstlerhaus-Vereinigung mehr als lächerliche 600.000 Euro an jährlichen Subventionen und ein Renovierungsbudget gestatten müssen. In diesem Szenario war das Schicksal besiegelt, zumal die Mitglieder mit internen Streitigkeiten in die Presse kamen.
Der weitaus potentere WG-Partner Albertina modern wird mit ca. 2.500 Quadratmetern Ausstellungsfläche und weit höherem Marketing-Etat die Aufmerksamkeit vollends abziehen. Wie kann die Künstlerschaft als Junior daneben existieren?
LORE HEUERMANN: Die zeitgenössische Kunst hatte es immer schwer in Wien, es ist eine Musik- und Theaterstadt. Hier gab es nie besonders viel Verständnis für die bildende Kunst, viele KünstlerInnen darben dahin. Ich beispielsweise habe mir als Künstlerin und alleinerziehende Mutter von drei Kindern eine sehr niedrige Pension erworben, nach einem halben Jahrhundert Arbeit.
Haselsteiners Vermögen wird auf ca. 1,8 Milliarden geschätzt, er kann sich 57 Millionen ungeschaut leisten. Pathetisch hebt sein Freund Schröder dies als »größte mäzenatische Leistung, die der bildenden Kunst in Österreich nach 1945 zugutekommt«, hervor (Profil 9, 23. 2. 2020). Entspricht das den Tatsachen?
LORE HEUERMANN: Haselsteiner und Schröder folgen ausschließlich Eigeninteressen – und die sind wirtschaftlicher Natur. Das verkaufen sie dann als Wohltat für die Kunst. Es geht dabei nicht um Qualität, sondern um Quoten, um die Auslastungszahlen.
Hat es Proteste der Mitglieder gegen die Übernahmebedingungen gegeben?
LORE HEUERMANN: Es gab unendlich viele Sitzungen und Streitigkeiten. Die jetzige Lösung wird als »Win-Win«-Situation verkauft, sie ist aber definitiv eine schlechte kulturpolitische Entscheidung. KünstlerInnen sind oft ängstlich und un politisch mit ihrem Überlebenskampf beschäftigt, wollen keine Verantwortung übernehmen. Das war in meiner großen Zeit, den 70er Jahren, anders. Ich saß in diversen Kunstbeiräten, und mir ging es um Objektivität und Förderung von Kunst und KünstlerInnen.
Hätten die Mitglieder die Neustrukturierung ablehnen können?
LORE HEUERMANN: Ich denke ja. Nein-Sagen ist wichtig! Ich habe einmal seinerzeit, wo ich das Geld gebraucht hätte, nein gesagt zu einer Ausstellung in Kärnten unter Jörg Haider. Man muss sich trauen, »nein« zu sagen!
Was bedeutet die Verdrängung des »Brut« und die Ausbreitung der Albertina für die Wiener Kulturszene?
LORE HEUERMANN: Für mich hat sowohl Theater wie Kino – letzteres darf ja bleiben – eine echte Bereicherung im Künstlerhaus dargestellt. Der unfreiwillige Auszug des Theaters, ein experimentelles Performance Zentrum, ist sehr schade – damit wird diese Kunstform wieder an die Peripherie verdrängt. Schröder ist ein genialer Selbstdarsteller, aus der BACA kommend, der die etablierte Moderne in touristischen Jubiläums-Ausstellungen abfertigt.
Du hast europaweit, in Asien oder auch im Nahen Osten ausgestellt. Du bist mit knapp 83 Jahren immer noch ungemein aktiv. Hast du als Künstlerhaus-Mitglied das Gefühl, anerkannt zu sein im Kanon der Wiener ZeitgenossInnen?
LORE HEUERMANN: Nein, ich bin eigentlich überhaupt nicht »präsent«. Ich mache zwar jedes Jahr Ausstellungen, österreichweit und im Ausland – aber die Berichterstattung ist zumeist enden-wollend. Museen bevorzugen es, etwas zu zeigen, das bereits Resonanz hat. Wer nicht ständig in den Medien vorkommt, ist nicht vorhanden.
Von nun an wird es weniger Platz, Mitsprache und mediale Bedeutung für die selbstbestimmte Kunst im Künstlerhaus geben – was ist deine Hoffnung für die Zukunft?
LORE HEUERMANN: Dass wir, die KünstlerInnen, nicht die Lust am Engagement verlieren.
Danke für das Gespräch.
Unpassend zum 75. Jahrestag der Befreiung wurde eine Jahrzehnte alte Forderung der KPÖ erneut abgelehnt. Die Entscheidung traf ein Geheimausschuss der Stadt Wien, basierend auf einem geheimen Gutachten.
Von Manfred Mugrauer
Die KPÖ startete erstmals im Jahr 1976 die Initiative, eine öffentliche Fläche oder ein Wohnhaus in Wien nach ihrem langjährigen Vorsitzenden Johann Koplenig (1891–1968) zu benennen. Dieser stand von 1924 bis 1965 an der Spitze der Partei. Als die KPÖ im April 1945 gemeinsam mit SPÖ und ÖVP die Zweite Republik mitbegründete, gehörte Koplenig als Staatssekretär ohne Portefeuille der Provisorischen Regierung an. Bis 1959 war er Abgeordneter zum Nationalrat. Im Juli 1977 begründete der damalige Wiener Bürgermeister Leopold Gratz (SPÖ) seine Ablehnung damit, dass noch mehr Zeit zu den Jahren 1945 und 1955 vergehen müsse, bis ein solcher Schritt möglich werde. Offenbar ist auch im Jahr 2020, exakt 75 Jahre nach der Befreiung Österreichs vom Faschismus, noch nicht genügend Zeit vergangen, eine entsprechende Ehrung Koplenigs umzusetzen.
Beschlüsse der Bezirksvertretung
Zunächst kam im Jänner 1988 – anlässlich des bevorstehenden 50. Jahrestags des »Anschlusses« Österreichs an das Deutsche Reich – Bewegung in diese Angelegenheit: Damals fand ein Antrag der beiden grünalternativen Bezirksräte von Wien-Brigittenau, eine Verkehrsfläche nach Johann Koplenig zu benennen, die Zustimmung aller fünf Parteien der Bezirksvertretung, also – neben SPÖ, Grünalternativen und KPÖ – auch jene von ÖVP und FPÖ. 30 Jahre später, am 21. November 2018, wiederholte sich dieses Procedere: Mit den Stimmen von SPÖ, Grünalternativen, NEOS und einer Bürgerliste (die KPÖ bzw. Wien Anders sind in der Brigittenauer Bezirksvertretung nicht vertreten) wurde ein Antrag beschlossen, einen Teil des Höchstädtplatzes nach dem KPÖ-Politiker zu benennen. Dem vorausgegangen war ein beharrliches Lobbyieren der KPÖ Brigittenau für den »Johann-Koplenig-Platz«.
Ein wesentlicher Unterschied der Initiative des Jahres 1976 zu jenen von 1988 und 2018 besteht darin, dass es der KPÖ zunächst um eine Umbenennung des Höchstädtplatzes ging, wo sich bis 1992 die Parteizentrale befand. Der Platz erinnert an den Ort jener Schlacht, in der Prinz Eugen 1704 im Spanischen Erbfolgekrieg über die Truppen Frankreichs und Bayerns siegte. Da ein solcher Schritt jedoch mit Kosten für die AnrainerInnen verbunden wäre, ist eine Umbenennung einer Verkehrsfläche in Wien de facto nicht durchzusetzen. Aus diesem Grund zielten die späteren Beschlüsse der Bezirksvertretung darauf ab, nur einen Teil des Höchstädtplatzes – nämlich jenen, auf dem sich ein Denkmal für Koplenig befindet – nach ihm zu benennen. Mit einer solchen Maßnahme wären keine Adressänderungen und keine Neubeschilderungen verbunden.
Sowohl 1988 als auch 2018 wurde als Begründung für die beabsichtigte Benennung hervorgehoben, dass Koplenig als Vizekanzler der Provisorischen Regierung ein Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 war und darin auch die Verdienste der KPÖ im antifaschistischen Widerstand und um die österreichische Unabhängigkeit zum Ausdruck kämen. Nichtsdestoweniger folgten in beiden Fällen wie auf Knopfdruck antikommunistische Reflexe: 1988 warnte der damalige ÖAAB-Landessekretär vor einer »Verewigung des Möchtegern-Stalins« und empfahl der SPÖ, sich vom »Antifaschismus-Weihrauch« nicht »völlig benebeln zu lassen«. 30 Jahre später rückten mit Andreas Unterberger und Christoph Ortner zwei altbekannte Speerspitzen der Reaktion aus, um Koplenig eine Mitverantwortung »für die millionenfachen Morde des Stalinismus« anzulasten. 1988 wie 2018 wurde die Legende vom versuchten »Kommunistenputsch« im Oktober 1950 aufgewärmt, für den Koplenig verantwortlich gemacht wurde. »Alle Linken sind gut und alle anderen sind böse und Nazi«, ließ Unterberger aus seinem politischen Online-Paralleluniversum Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) als dessen angebliches politisches Motto ausrichten.
Stadt versus Bezirk
Eine weitere Parallele zwischen 1988 und heute besteht zuletzt darin, dass die Brigittenauer Initiative jeweils am Straßenbenennungsausschuss der Stadt scheiterte. So wurde Ende Februar dieses Jahres bekannt, dass der Unterausschuss für Verkehrsflächenbenennungen den Antrag der Bezirksvertretung des 20. Bezirks vom November 2018 abgelehnt habe. Die Öffentlichkeit wurde nur deshalb über diesen Beschluss in Kenntnis gesetzt, weil Bezirksvorsteher Hannes Derfler (SPÖ) am 19. Februar eine diesbezügliche Anfrage in der Sitzung der Bezirksvertretung zu beantworten hatte.
Die Anfrage kam vom parteifreien Bezirksrat Erwin Krammer (bis 2017 NEOS), der es sich aufgrund seiner politischen Bedeutungslosigkeit zur Lebensaufgabe gemacht hatte, gegen den geplanten Koplenig-Platz ins Feld zu ziehen. Ende November 2018 mobilisiere er die »Kronen-Zeitung« und kritisierte Rot-Grün dafür, »kommunistisch-marxistischen Massenmördern« Denkmäler setzen zu wollen. In den folgenden Monaten packte er im Verlauf einer Pressekampagne sein gesamtes Oberstufenwissen über den Kommunismus aus, mit bemerkenswertem Mut zur Lücke. So entblödete er sich nicht, Koplenig dafür anzuprangern, bis 1945 in Moskau »in einer warmen Stube« gesessen zu sein und Beiträge für Radio Moskau gesprochen zu haben. Mit diesem Vorwurf zielte der Sales Manager einer großen österreichischen Bank darauf ab, auf das angeblich privilegierte Los der antifaschistischen ExilantInnen und Vertriebenen gegenüber ihren kriegsgebeutelten Landsleuten anzuspielen. Dass Koplenig Vorsitzender jener Partei war, die im antifaschistischen Kampf den größten Blutzoll zu entrichten hatte, und er in seinen Radiobeiträgen zum Widerstand gegen den Hitlerfaschismus aufrief, vergaß Krammer zu erwähnen.
Empört reagierte die KPÖ Brigittenau auf die bekannt gewordene Ablehnung durch das Rathaus. Bürgermeister Ludwig habe mit dieser Aktion seinen Parteifreund Derfler »auflaufen« lassen, so die kommunistische Bezirksorganisation in einer ersten Stellungnahme. Dem Vernehmen nach hatte die Rathaus-SPÖ gegenüber dem Brigittenauer Bezirksvorsteher ihr Einverständnis signalisiert, nach Jahrzehnte langer Obstruktion nun doch einen Teil des Höchstädtplatzes nach Johann Koplenig zu benennen. Andernfalls ist es auch kaum erklärbar, dass die SPÖ Brigittenau selbst im November 2018 einen dahingehenden Antrag in der Bezirksvertretung einbrachte.
Geheimsache Koplenig
Was die SPÖ letztlich zu einem Umdenken bewog, bleibt ebenso rätselhaft wie mehrere andere Umstände der Ablehnung. Fest steht, dass die Benennung neuer Verkehrsflächen vom Gemeinderatsausschuss für Kultur und Wissenschaft beschlossen wird. Dem gehen ein Erhebungsverfahren der Kulturabteilung (MA 7) der Stadt Wien und eine Vorberatung im Unterausschuss für Verkehrsflächenbenennungen voraus. Eben dieser Ausschuss hat sich nun gegen Koplenig ausgesprochen, wobei laut einem Online-Bericht der Gratiszeitung »Heute« ein Gutachten der MA 9 (Wienbibliothek) ausschlaggebend gewesen sein soll. In diesem Papier wird wörtlich zu bedenken gegeben, dass Koplenig »zeit seines Lebens die totalitäre Ideologie des Kommunismus sowie die Politik der Sowjetunion auch unter der Terrorherrschaft Stalins bedingungslos unterstützt« habe und – horribile dictu – sein Ziel die »Diktatur des Proletariats« gewesen sei. Angesichts der Tatsache, dass von den HistorikerInnen der Wienbibliothek ein Minimum an wissenschaftlichem Anspruch erwartet werden kann, drängte sich die Frage auf, ob es sich hierbei tatsächlich um die offizielle Begründung der Ablehnung durch den Unterausschuss handelt, oder ob diese erstaunlich Argumentation womöglich durch andere Passagen im genannten Gutachten relativiert wird. Dies herauszufinden war jedoch trotz intensiver Recherchen genauso unmöglich wie Näheres über den Unterausschuss selbst in Erfahrung zu bringen.
Weder aus der Informationsdatenbank des Wiener Landtages und Gemeinderates noch in den zugänglichen Protokollen lassen sich Informationen darüber gewinnen, wie sich der Unterausschuss für Verkehrsflächenbenennungen konkret zusammensetzt und welche Beschlüsse er wann genau gefasst hat. Eine Anfrage im Büro der zuständigen Stadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ), wieviele stimmberechtige und beratende Mitglieder ihm angehören und wie genau das Abstimmungsergebnis über den Johann-Koplenig-Platz lautet, hat immerhin ergeben, dass zehn (namentlich nicht genannte) Mitglieder aller im Wiener Gemeinderat vertretenen Parteien dieses Gremium formieren und dessen Entscheidung einstimmig – also auch mit den Stimmen von SPÖ und Grünen – gefasst worden sei.
Darüber hinaus kann das am 5. März ausgefertigte Schreiben der zuständigen Abteilungsleiterin und der Leiterin des Referats »Kulturelles Erbe« als Musterbeispiel einer wenig informierten und wenig konstruktiven – und damit letztlich auch ineffizienten – Verwaltung gelten, wurde darin doch erschöpfend darüber informiert, aus welchen Gründen eine »Umbenennung« des Höchstädtplatzes grundsätzlich nicht in Frage komme, obwohl der zuständigen Behörde bekannt sein sollte, dass der Antrag der Brigittenauer Bezirksvertretung nicht auf eine Umbenennung, sondern auf die Benennung einer Teilfläche abzielte. Insofern gingen sämtliche Belehrungen über die »weitreichenden Konsequenzen für die betroffenen BewohnerInnen und Unternehmen« ebenso am Kern der Sache vorbei wie der groteske Hinweis, dass »Firmen die komplette Korrespondenz und Aufschriften auf Firmenfahrzeugen ändern müssten«. Kein Wort wurde jedoch über das Gutachten der MA 9 verloren, um dessen Übermittlung gebeten worden war, um eine transparente Auseinandersetzung über diese zu einem Politikum gewordene Angelegenheit zu ermöglichen. Einzuwenden wäre ferner, dass das Procedere einer Teilbenennung eines Platzes in Wien bereits erprobt wurde, etwa beim Helmut-Zilk-Platz als Teil des Albertinaplatzes, also selbst rein formale Ablehnungsgründe ins Leere führen.
Der Eindruck, dass geschichtspolitisch weitreichende Entscheidungen in Wien von geheimen Ausschüssen getroffen werden, wurde in weiterer Folge bestätigt. Die Sitzungen der Gemeinderatsausschüsse und -unterausschüsse seien nicht öffentlich, weshalb „auch deren Beschlüsse, wie die Einrichtung eines Unterausschusses für Verkehrsflächenbenennungen sowie dessen Mitglieder nicht öffentlich“ seien, wie die zuständige Referatsleiterin und Abteilungsleiterin informierten. Die konkrete Nachfrage, ob sich die in »heute.at« zitierte Begründung tatsächlich im Gutachten der MA 9 finden lasse, blieb erneut unbeantwortet, weshalb weiter der Verdacht im Raum stehen bleibt, dass die konsultierten ExpertInnen der MA 9 gut beraten wären, das aktuell verordnete Home-Office dafür zu nutzen, online einen Taferlklassler-Grundkurs »Politische Bildung« zu absolvieren.
Eine Mauer des Schweigens wurde jedoch nicht nur vom Wiener Rathaus aufgebaut: Hatten sich die Brigittenauer Bezirksgrünen im November 2018 noch über den antikommunistischen Fanatismus von Bezirksrat Krammer lustig gemacht und die antifaschistischen Verdienste Koplenigs betont, war dem Grünen Rathausklub keine Stellungnahme zu entlocken, ob und warum Koplenig im Unterausschuss die Zustimmung verweigert wurde. Dasselbe gilt für den Sinneswandel der SPÖ. Erübrigt hatte sich eine Anfrage bei den NEOS, die zwar den Beschluss der Brigittenauer Bezirksvertretung mitgetragen hatten, in einschlägigen Facebook-Postings aber frühzeitig durchklingen ließen, einem Koplenig-Platz im Kulturausschuss letztlich nicht zuzustimmen. Von der Bezirksvertretung wiederum war nicht in Erfahrung zu bringen, ob und mit welcher inhaltlichen Begründung der Unterausschuss seine Ablehnung in Richtung Brigittenau kommunizierte. Zuletzt war auch die »Heute«-Redaktion zu keiner Auskunft darüber bereit, auf welcher Grundlage wörtlich aus einem nicht öffentlichen und von der MA 7 für geheim erklärten Gutachten zitiert werden konnte. In Summe läuft die Geheimniskrämerei darauf hinaus, eine seriöse Auseinandersetzung über diese geschichtspolitisch brisante Ablehnung des Koplenig-Platzes zu verhindern, obwohl im 75. Jahr der Befreiung Österreichs zweifelsohne ein öffentliches Interesse daran vorhanden sein sollte.
Verweigerte Anerkennung
Es greift dennoch zu kurz, allein plumpen Antikommunismus für die Ablehnung des Johann-Koplenig-Platzes verantwortlich zu machen. Peter Autengruber, Herausgeber des Lexikons der Wiener Straßennamen, hat in einem aktuellen Beitrag in den »Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft« insgesamt 41 Verkehrsflächen festgestellt, die in Wien nach KommunistInnen benannt wurden. Bemerkenswerterweise fanden 21 – also mehr als die Hälfte – der bisherigen Benennungen in den letzten 20 Jahren statt, was insgesamt von einer Entspannung des in den Jahrzehnten davor dominierenden Antikommunismus zeugt. Nicht zu übersehen ist jedoch die Tatsache, dass fast alle dieser Verkehrsflächen nach kommunistischen Opfern der NS-Justiz und nach solchen KommunistInnen benannt wurden, die sich in weiterer Folge wieder von der KPÖ abwandten. Bei diesen Personengruppen findet der im Gutachten genannte Maßstab einer »totalitären Ideologie« offenbar keine Anwendung. Für sie gilt nicht, dass die Haltung zur Sowjetunion zum wichtigsten Entscheidungskriterium erhoben wird.
Demgegenüber würde ein Platz für Johann Koplenig, den damaligen Vorsitzenden und wichtigsten Repräsentanten der Partei, eine Anerkennung nicht nur des antifaschistischen Widerstands der KPÖ, sondern auch ihrer Aufbauleistungen nach 1945 bedeuten. Vor einem solchen Schritt schreckt die SPÖ auch im Jahr 2020 weiterhin zurück. Die KPÖ war die einzige politische Kraft, die im März 1938 zum Kampf für die Wiederherstellung eines selbstständigen demokratischen Österreich aufrief. In den folgenden Jahren trug sie die Hauptlast des antifaschistischen Widerstandskampfes. Folgerichtig trug die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, in der der »Anschluss« für null und nicht erklärt wurde, auch die Unterschrift ihres Vorsitzenden Koplenig. Wenn dieser Tage der Unterzeichnung dieses Gründungsdokuments der Zweiten Republik gedacht wird, werden sämtliche im Rathaus vertretene Parteien daran erinnert werden müssen, dass sie der KPÖ geradezu demonstrativ eine Anerkennung ihrer geschichtlichen Leistungen verwehrt haben.
Weblinks:
https://www.wienerzeitung.at/meinung/kommentare/2051863-Kein-Platz-fuer-Koplenig.html
http://www.kpoe.at/innenpolitik/landespolitik/2020/die-kalten-krieger-im-wiener-rathaus
Ist das moderner Kannibalismus, ohne sich schmutzig zu machen? Die psychiatrischen und psychosomatischen Rehas und Stationen sind voll mit diesen Menschen – im Volksmund heißt es Burnout, aber es ist viel mehr als das.
VON MARTINA WITTELS
1. Wer ist krank? Ich? Krank bin ich nicht, das ist nur der Körper, der nicht mehr so möchte, wie ich. Das ist alles. Ich bin fleißig, so war ich immer, eigentlich seit ich denken kann. Niemand hat je gefragt, wie das alles zu schaffen sei. Ich bin mit zehn Jahren schon in der Kälte im Hof gestanden und habe Holz gehackt oder Wäsche gewaschen. Das war keine Frage von Können, das war eine Frage von Watschen oder keine Watschen. Aber jetzt bin ich ein Nichts, denn der Körper macht nicht mehr mit. Ich will ja und ich könnte auch, aber er, der Falott, macht schlapp. Seitdem fühle ich mich nutzlos und muss weinen, wenn ich daran denke, was ich früher mühelos in derselben Zeit erledigt habe. Zu Hause hat mein Mann, weil ich ihn gebeten habe, den Geschirrspüler auszuräumen, zu mir gesagt: »Ich bin nicht Deine Putze! – na ja, irgendwie hat er ja recht. Er hat nie im Haushalt geholfen, warum sollte er jetzt wissen, wie das geht?
2. Ich arbeite in der Reinigung und habe zehn Studentenheime betreut. Das hat immer perfekt geklappt. Ich habe meine Mitarbeiterinnen gut koordiniert und der Chef hat zu Weihnachten regelmäßig das höchste Lob über uns ausgeschüttet. In den Sommermonaten haben wir die Zimmer der Studentenheime an Gäste vermietet, da konnte ich mehr Personal einstellen, und auch das hat gut geklappt. Alles hat funktioniert wie am Schnürchen.
Ich bin aus Bosnien und vor dem Krieg schon nach Österreich gekommen. Ein Neffe von mir ist im Krieg getötet worden, er war erst sieben Jahre, aber sonst habe ich keine Menschen aus meinem näheren Umfeld verloren. Ja, von Nachbarn und Bekannten gab es Berichte, aber nicht innerhalb meiner Familie.
Ich habe zwei Kinder und habe fast durchgehend Vollzeit gearbeitet, es hat mir Freude bereitet und ich habe trotzdem alles für die Familie gegeben. Mein Mann wollte sich scheiden lassen, seit Jahren spricht er schon davon. Ich habe die Familie stets hochgehalten und hätte alles für ihren Fortbestand getan, aber vor ein paar Wochen hat es mir gereicht und ich habe mir die Scheidungspapiere geholt und sie unterschrieben. Jetzt sind wir geschieden und ich bin traurig.
Seit ein paar Monaten bin ich krankgeschrieben. Mein Chef hat seine Frau zu seiner Stellvertreterin gemacht, seitdem ist sie mir ständig in die Quere gekommen und hatte an Abläufen, die vorher für alle gepasst haben, etwas auszusetzen. Sie hat begonnen, mir überall dreinzureden, sie wollte sich profilieren. Mir haben die Worte gefehlt, auch in Bosnisch. Ich habe mich nicht verteidigen können und habe eines Tages unter Tränen meinem Chef die Schlüssel – das waren viele, ich hatte Schlüssel für alle Studentenheime und für alle Zimmer – auf den Tisch gelegt und bin gegangen. Seitdem hat er versucht, mich zurückzuholen, aber er hätte nichts an der Situation mit seiner Frau geändert. Ich kann das nicht. Ich habe sehr viel gearbeitet und ich habe sehr gut gearbeitet. Jetzt kann ich nicht mehr. Ich schlafe schlecht, ich bin traurig, nichts interessiert mich mehr und ich bin mutlos geworden. Das war ich nie, ich war immer eine starke Frau!
3. Ich war nach der Umschulung in der Altenbetreuung tätig. Da war ich schon 38 Jahre, als ich im Heim begonnen habe, und ich habe die alten Menschen geliebt. Sie brauchen Schutz und ich redete gerne mit ihnen, ich hörte ihnen gerne zu, sie haben so viel erlebt und so viel Erfahrung, und nun welken sie dahin. Sie brauchen unsere Anerkennung. Aber ich konnte nicht länger bei meinen Alten stehen bleiben und ihnen meine Aufmerksamkeit schenken, denn ich musste jeden Handgriff dokumentieren und mich rechtfertigen, wenn ich zum Waschen statt neun Minuten zwölf gebraucht hatte. Stellen Sie sich das vor. Neun Minuten zum Waschen eines ganzen Menschen. Sie können erahnen, wie das abgelaufen ist. Und dann kam die Chefin, eine 36-jährige Madame, die aufsteigen wollte und der es nur wichtig war, die Vorgaben ihrer Vorgesetzten zu erfüllen. Sonst wär’s ja auch mit dem Aufstieg vorbei gewesen. Manchmal war sie sogar ganz nett und sagte, sie verstehe schon, dass es nicht zu schaffen sei, aber die Vorgaben seien eben so und basta. Wer das nicht einsehe, könne ja gehen. Die hat leicht lachen mit ihren 36 Jahren, aber ich, was soll ich machen, ich bin jetzt 54! Wohin soll ich wechseln? In ein anderes Heim, in dem es genauso ist wie hier? Manchmal geraten ganz junge Menschen in die Altenpflege, die lachen anfangs viel und scherzen mit den Alten, aber die verstehen das gar nicht, ist ihnen alles zu schnell, zu verschieden. Beim dritten Wochenende, an dem jemand von den Jungen einspringen musste, weil eine Kollegin erkrankt ist, sind die wieder weg. Klar, die lassen sich ihre Freizeit nicht durch den Job vermasseln. Ich habe zu allem Ja und Amen gesagt und habe die Not der anderen verstanden, auch die der Chefin. Immer war ich die erste, die sie anrief, wenn jemand ausfiel, und nie habe ich sie im Stich gelassen. Das habe ich 16 Jahre durchgehalten. Mein Mann und meine Kinder haben oft gefragt, ob ich nicht weniger arbeiten wolle, aber wer hätte den Kredit abbezahlt? Heute sind wir schuldenfrei. Dann habe ich einen Bandscheibenvorfall bekommen mit rasenden Schmerzen im Bein. Ich habe wirklich nicht mehr können. Zwei Tage habe ich es noch mit Schmerzmittel versucht, aber am Abend habe ich geweint, so weh hat das getan. Dann bin ich in Krankenstand gegangen und habe Physiotherapie angefangen. In der dritten Woche habe ich einen Brief bekommen – die Kündigung. Seitdem erhole ich mich nicht mehr. Ich weine und weine, ich kann es einfach nicht fassen. Nach 16 Jahren mit all meinem Einsatz und meiner Hilfsbereitschaft, nach all den Nachtdiensten, für die ich eingesprungen bin. Kein persönliches Wort – ein Zweizeiler – Ende.
* * *
Drei Geschichten, die Auswirkungen von Dauerbelastung spiegeln. Das menschliche Stresssystem ist ein uraltes und es hat sich entwickelt, um das Überleben zu sichern: Angriff, Flucht oder Erstarrung. Mehr gibt es nicht, mehr braucht es nicht. Die Menschheit hat mit diesen drei Fähigkeiten überlebt, lange bevor das Großhirn wachsen konnte. Nicht gefressen zu werden, nicht aus den Bäumen zu fallen und sich verschiedensten äußeren Bedingungen anzupassen – diese waren die wesentlichen Leistungen. Die kürzeste Zeit in der Menschheitsentwicklung fürchten sich Menschen vor Vorgesetzten und werden durch die Zeitmangel gedreht. Sie haben den Kampf der Unterdrückten um Gerechtigkeit abgeschrieben und bangen um ihre Zukunft, mit allem Reichtum, Konsum, Wohlstand und einem funktionierenden Sozial- und Gesundheitssystem. Dauerhafter Stress ist dennoch nichts, womit der Körper zurechtkommt, ohne dauerhaft Schaden zu nehmen.
Die Bereitstellung von vermehrter Energie, um ein Projekt oder eine besondere Arbeitsaufgabe zu schaffen, setzt voraus, dass es sich um einen begrenzten Zeitraum handelt und Aussicht auf Bewältigung besteht. Nach Vollendung stellt das Belohnungssystem Dopamin zu Verfügung; es durchflutet das Gehirn und ein Gefühl von Sicherheit und Zufriedenheit stellt sich ein. Danach kann das System seine zusätzlichen Energiereaktoren herunterfahren und sich erholen.
Geht man in eine Bar und bestellt Mojitos, wird man den Barkeeper beobachten können, wie er mit einem Holzklöppel den Limetten zu Leibe rückt, um damit den köstlichen Saft aus ihnen zu stampfen. Er würde niemals für den nächsten Drink dieselben Limetten nochmals auszupressen versuchen. In der heutigen Arbeitswelt, besonders in den Bereichen, in denen wenig ausgebildete Frauen arbeiten, wird hingegen versucht, immer noch ein paar Lebenstropfen, Leistungstropfen aus den bereits Erschöpften herauszuquetschen. Und sie sind willig, sie wollen den Lebenssaft hergeben unter allen Umständen unter Aufwendung der unmenschlichsten Kraft, denn es ist das, was von ihnen verlangt wurde und wird und was sie von sich selbst erwarten: alles zu schaffen, gleichgültig, wie schwer und unmenschlich der Aufwand sein mag.
Bei dauerhaft anhaltendem Stress – Aktivierung des sympathischen Nerven systems – wird das Regulationssystem zwischen Anspannung und Entspannung dereguliert. Verschiedene Hormone stellen die Energie fürs Überleben bereit, aber es kommt nicht zur Flucht, es kommt nicht zum Kampf, diese Reaktionen werden der gesellschaftlichen Norm geopfert – sicher zu Recht, sonst gäbe es Mord und Totschlag –, aber es kommt dadurch zu keiner Entladung dieser massiven Mobilisierung von Kraft und muskulärer Anspannung. Die Reaktion, die in unserer Gesellschaft sehr gut erhalten blieb, ist die Erstarrung – das Totstellen. Nach jahrelangen übergroßen Anstrengungen, dem Druck standzuhalten, zu funktionieren und das Erwartete zu »bringen«, saust die nervliche Übererregung ins Gegenteil – in eine parasympathische Starre –, und die Menschen fühlen sich wie tot, leer, erschöpft, fühllos, wie Hüllen, innerlich aufgefressen. Ist das moderner Kannibalismus, ohne sich schmutzig zu machen?
Die psychiatrischen und psychosomatischen Rehas und Stationen sind voll mit diesen Menschen – im Volksmund heißt es Burnout, aber es ist viel mehr als das. Es ist eine potentielle Lebensbedrohung, denn im Körper kommt es zu konstant am Köcheln gehaltenen Entzündungsreaktionen, zur Schwächung des Immunsystems, zu Dys regulation von Blutdruck und Puls, und dies führt wiederum zu vielen anderen Erkrankungen. Belastungen sind wie Samenkörner, die auf einen fruchtbaren oder weniger fruchtbaren Boden fallen und dort entsprechend der Vorbelastungen und der aktuellen Bedingungen aufgehen, wuchern oder begrenzt werden können. So schrecklich die Auswirkungen des COVID 19 Virus ist, die gesellschaftliche Ruhe, die es bewirkt, ist wohltuend. Leider wird nachher das Schwungrad doppelt und dreifach so schnell gedreht werden, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Aber vielleicht, wenn die Quarantäne noch länger dauert, können sich einige erschöpfte Menschen jetzt gerade erholen.
Dr. Martina Wittels, Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin, Fachärztin für psychosomatische und psychotherapeutische Medizin (in D), arbeitet im Kardinal Schwarzenberg-Klinikum im Pongau.
Seelisches Leid und der Wunsch nach einem gelingenden Leben.
VON EVA LEUTNER
Das Leben hierzulande als psychisch kranker Mensch ist ein individuelles Projekt, das Großteils von Stigma und Scham geprägt ist. In vielen Fällen sind manifeste Armut, Diskriminierung und Exklusion die Folge. Mit Manfred Lütz bleibt zu ergänzen: »Wenn man als Psychiater und Psychotherapeut abends Nachrichten sieht, ist man regelmäßig irritiert. Da geht es um Kriegshetzer, Terroristen, Mörder, Wirtschaftskriminelle, eiskalte Buchhaltertypen und schamlose Egomanen – und niemand behandelt die. Ja, solche Figuren gelten sogar als völlig normal. Kommen mir dann die Menschen in den Sinn, mit denen ich mich den Tag über beschäftigt habe, rührende Demenzkranke, dünnhäutige Süchtige, hochsensible Schizophrene, erschütternd Depressive und mitreißende Maniker, dann beschleicht mich mitunter ein schlimmer Verdacht: Wir behandeln die Falschen! Unser Problem sind nicht die Verrückten, unser Problem sind die Normalen!«1
Vergangenheit wissen, um Gegenwart zu begreifen
Die Beziehungen von Menschen, Organisationen und Institutionen werden überwiegend von den Interessen derjenigen bestimmt, die über Kapital und Macht verfügen.
Die Geschichte der Versorgung von psychisch kranken Menschen legt, so wie das in allen gesellschaftlichen Bereichen der Fall ist, die jeweiligen Machtverhältnisse und die damit verbundenen Werthaltungen offen.
Vor der Zeit der Aufklärung wurden die »Irren« in »Tollhäusern« untergebracht und mit Eisenketten an Pritschen gefesselt. Mit der Aufklärung und ihrem zentralen Begriff der »Vernunft« setzte sich langsam die Idee durch, dass Irresein heilbar ist, die Rückführung der »Unvernünftigen« zur Vernunft schien machbar. Die Verrückten wurden als kranke Menschen anerkannt, die einer ärztlichen Behandlung bedürfen, Gewaltanwendungen an ihnen wurden nachweislich reduziert.
Mit dem Übergang zum industriellen Zeitalter änderten sich auch die Prioritäten staatlicher Fürsorgepolitik. Die Separation der psychisch kranken Menschen von den »Normalen« war die neue Stoßrichtung, die häusliche Betreuung wurde durch die zunehmende Urbanisierung erheblich schwieriger. Die Folge war eine permanente Überbelegung der Irrenhäuser, die letztendlich in der Anstaltspsychiatrie endete. Die Behandlung der Menschen erfolgte also außerhalb ihres sozialen Umfeldes, die Konsequenzen dieser Politik, dieses separierenden und verwahrenden Charakters der Krankenbehandlung, ist bis heute eine wesentliche Grundlage für Stigma und Diskriminierung.
Bereits vor dem 1. Weltkrieg wuchsen zarte Pflänzchen einer »Sozialen Psychiatrie«, deren VertreterInnen dafür plädierten, Unterstützungsmaßnahmen auch gemeindenah, außerhalb der Anstalten aufzubauen. Durch den Krieg rissen diese reformerischen Ansätze ab. Die von den Herrschenden eingeforderte »Gefechtsbereitschaft für den Krieg« befeuerte Konzepte über die Nutzlosigkeit von psychisch kranken und behinderten Menschen, Sozialdarwinismus und Degenerationslehre waren Futter für die sich ausbreitende Menschenfeindlichkeit.
Das nahmen die NationalsozialistInnen begierig auf und setzten es mit mörderischer Konsequenz zuerst durch Zwangssterilisierungen und dann durch tausende Morde im Rahmen des »Gnadentoderlasses« um.
Aktuelle Herausforderungen
Am 26. September 2008 wurde die »UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« von Österreich ratifiziert. Österreich hat sich damit verpflichtet, diese Bestimmungen umzusetzen.
Der zentrale Begriff dieser Konvention ist »Inklusion«. Inklusion ist vorwiegend eine Anpassungsleistung der Gesellschaft, während sich beim Integrationskonzept der Mensch an die vorhandenen Strukturen anzupassen hatte. Es distanziert sich von einem paternalistisch orientierten Fürsorgegedanken. Dieses Konzept sollte aus meiner Sicht für alle Menschen gültig sein, nicht nur für Menschen mit Behinderung. Es geht letztendlich um eine Akzeptanz der Vielfalt des Seins.
Am Arbeitsmarkt hat sich diese österreichische Verpflichtung zur UN-Konvention jedoch noch nicht herumgesprochen: Trotz Zeiten der Hochkonjunktur waren Menschen mit Behinderungen bzw. auch Menschen mit gesundheitlichen Vermittlungseinschränkungen deutlich häufiger und länger von Arbeitslosigkeit betroffen als Menschen ohne diese Handicaps.
Und trotz dieser Tatsachen werden aktuell arbeitslose Menschen aufgrund ihrer Vermittlungswahrscheinlichkeit vom AMS mittels Algorithmus unterteilt und unterschiedlich behandelt: Klasse A (rasch vermittelbare Servicekunden), Klasse B (Betreuungskunden mit mittleren Chancen) sowie Klasse C (Beratungskunden, die schwer vermittelbar sind). Von der Einteilung abhängig ist dann, welche AMS- Fördermaßnahmen – etwa Qualifizierungskurse – gewährt werden. So eine Vorgangsweise geht eindeutig auf Kosten von Menschen mit Behinderungen, insbesondere von Menschen mit psychischen Problemen. Sie sind überwiegend in die Klasse C eingestuft, obwohl sie nur nachweislich dann in der Arbeitswelt wieder Fuß fassen können, wenn sie durch geeignete Trainingsangebote in einer wertschätzenden Atmosphäre und mit Hilfe des unendlich wertvollen Faktors Zeit Stabilität und Selbstsicherheit wiedererlangen. Vor der Entscheidung, dieses System einzusetzen hat, keine Evaluierung der Auswirkungen stattgefunden. Die Folgen tragen die Betroffenen.
Neben Inklusion sind für Menschen mit psychischen Erkrankungen »Empowerment und Recovery« zentrale Konzepte. Empowerment meint eine Haltung von ProfessionistInnen, die ermöglicht, dass psychisch kranke Menschen Würde, Stärke, Kraft und Mut wiedererlangen. Das ist nicht das Ergebnis einer gelungenen Therapie, sondern der mutigen Auseinandersetzung der betroffenen Menschen mit sich und ihrer Erkrankung. Das funktioniert jedoch nur, wenn diese ProfessionistInnen im Rahmen von flachen Hierarchien in den Dienstleistungsbetrieben selber ein größtmögliches Maß an Transparenz und Entscheidungskompetenzen erfahren.
Recovery meint »einen persönlichen Prozess von Wachstum und Entwicklung, in dem Betroffene die persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen einer psychischen Erkrankung überwinden und zurück zu einem sinnhaften, erfüllten und selbstbestimmten Leben finden«.
Sowohl Inklusion als auch Empowerment-Orientierung sind große politische Konzepte, die aus meiner Sicht nicht nur für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen relevant sind – wenn sie denn als politische Konzepte verstanden und umgesetzt werden.
Miniresümee
Die moderne Sozialpsychiatrie braucht das Know-how der psychiatrieerfahrenen Menschen, um mit ihnen gemeinsam innovative Unterstützungskonzepte auf Basis von Empowerment und Recovery zu erarbeiten. Und sie braucht ein hohes sozial politisches Engagement, das Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen übt, anstatt Missstände abzufedern und damit zur Einzementierung der bestehenden Verhältnisse beizutragen.
Eva Leutner, MAS, ist Geschäftsführerin der pro mente kärnten GmbH.
Literaturempfehlung: Sozialpsychiatrie – theoretische Grundlagen und praktische Einblicke. Herausgeber Werner Schöny, Springer Verlag
1 Dr. Manfred Lütz (Chefarzt der psychiatrischen Alexianer Klinik in Köln-Porz): »Irre! Wir behandeln die Falschen – unser Problem sind die Normalen: Eine heitere Seelenkunde«.
Was mache ich aus dem, was mit mir gemacht wurde?
VON HELGA WOLFGRUBER
In den letzten Jahren hat die Depressionsforschung mit einer Unzahl von Studien über Entstehung/Ursachen und Verlauf von Depressionen aufgewartet. Unter anderem aufgrund unterschiedlicher Interessen der AuftraggeberInnen wird aber die Frage, wie äußere, soziale Belastungs-Faktoren zu inneren Risiko-Faktoren werden können, nicht immer einhellig beantwortet.
Befürchtet das medizinisch-therapeutische Feld den Verlust von Deutungshoheit und Macht, fürchtet die Pharmaindustrie den Verlust ihrer Profite? Als in den 1960er Jahren Psychopharmaka den Markt eroberten, hat sich der »Marktwert« der Depression deutlich erhöht und die Diagnosezahlen stiegen rasant an.
Die Bewertung von normal/abnormal, gesund/krank ist immer auch kulturhistorischer Beeinflussung ausgesetzt und bewegt sich innerhalb unscharfer Grenzen, bestimmt aber die Richtung der Behandlung.
Fakten
Die WHO betont, dass im Rahmen der »Global Burden of Disease« Depressionen seit 2015 einen Spitzenplatz unter jenen Erkrankungen einnehmen, die weltweit zu den meisten gesundheitlich eingeschränkten Lebensjahren führen. Und für 2030 bedeutet das, dass in den westlichen Industrieländern die Depression die größte individuelle und volkswirtschaftliche Krankheitslast sein wird. Derzeit übersteigt die Zahl der Erkrankten die 300 Millionengrenze. Obwohl bei Frauen die Diagnose dreimal so häufig gestellt wird wie bei Männern, ist deren Selbstmordrate dreimal so hoch.
Von Mythen zur Realität
Mit einigen Mythen der Vergangenheit wurde aufgeräumt: Depression trifft NICHT nur schwache Menschen (aber: der Krankheitsverlauf von sozioökonomisch unterprivilegierten Menschen ist ungünstiger); Psychopharmaka allein heilen NICHT (sie können sogar das Kranksein-Gefühl und Chronifizierung fördern); Depression hat NUR genetische Ursachen (endogene Depression wurde aus dem Diagnosemanual gestrichen; soziale Faktoren werden berücksichtigt).
Aber Wissenschaft, gesellschaftliche Institutionen und vor allem eine veränderungsscheue Politik widmen sich zu wenig den krankmachenden, sozialen Lebensbedingungen. Dazu bedürfte es des Hinterfragens hyperindividualisierter, autonomieversessener Leistungsparadigmen unserer kapitalistischen Arbeits- und Lebenswelt. Aber es ist kein Zufall, dass den »Leiden an der Arbeitswelt« (Burnout, früher Erschöpfungsdepression genannt) große öffentliche Beachtung geschenkt wird. Menschen müssen »arbeitskräftig« bleiben, um das »Werkl am Laufen zu halten«. Depressive Menschen begehren zwar nicht auf, aber sie fallen aus dem Produktionsrad. Den stilleren Leiden von Kindern, alten Menschen, Hilfsbedürftigen, Geflüchteten, Reproduk tionsarbeiterInnen wurde noch keine »eigene Diagnose« gewidmet. Obwohl sich in den Räumen der Privatheit sehr viele Hamsterräder zur Produktion von seelischen Erkrankungen drehen, finden sich diese Personengruppen eher als störender »Kostenfaktor« in den Medien wieder. Das Leid vieler depressiver, überforderter Hausfrauen inspirierte zwar schon in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Pop.Musik, die Psychiatrie reagierte aber fast ausschließlich mit der Verordnung von Tranquilizern, jenen besungenen »mother’s little helpers«. Eine gendersensible Medizin steckt leider noch immer in den Kinderschuhen.
Spätkapitalistische Depressions-Theorien
Der Soziologe Martin Dornes führt die Depressionszunahme auf erweiterte individuelle Gestaltungsspielräume und Wahlmöglichkeiten zurück. Die damit verbundenen Überforderungsgefühle können letztlich zu Erschöpfung und Depression führen: Wer die Wahl hat, hat die Qual.
Verdankt sich diese Entwicklung also dem neoliberalen Dogma der Lebensgestaltung unter möglichst großer Eigenverantwortlichkeit?
Oder besteht das Pathogene weniger in einer übergroßen, strukturarmen Freiheit, wie es der Philosoph Byung Chul Han beschreibt, sondern vielmehr in den gleichzeitig steigenden, konkreten Leistungsanforderungen an das Individuum? Müdigkeit und Erschöpfung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels und Vor-Zeichen von Depressivität spielen in beiden Theorien eine zentrale Rolle.
Ich möchte aber nicht jede als falsch empfundene, individuelle Entscheidung dem Kapitalismus oder ausschließlich exogenen Faktoren in die Schuhe schieben. Das käme einer völligen Entmachtung des Subjekts gleich. Daher ein Aspekt, der sich dem intrapsychischen Anteil des depressiven Erlebens widmet.
Die psychoanalytische Theorie versucht das Entstehen einer späteren Depression mit einem missglückten Versuch der Verarbeitung von Verlusten/Trennungen in der frühen Kindheit zu erklären. Genauer gesagt werden (Liebes-)Enttäuschungen oder direkte Verluste (Tod, Abwesenheit) begehrter Bezugspersonen angenommen, die in vergleichbaren Enttäuschungssituationen des Erwachsenenlebens eine Disposition für das Wiedererleben verdrängter Gefühle bedeuten können.
Die Reaktion auf Kränkung und Enttäuschung kann in narzistische Regression und in Symptome einer Depression münden: Hemmung, Apathie, Rückzug, Herabsetzung des Selbstwertgefühls, Verharren in der Opferrolle, Gier nach Entschädigung, Wut als Ausdrucksform der Trauer und letztendlich die Wendung der Aggression gegen die eigene Person sind Ausdruck davon.
Verlusterfahrungen INNEN und AUSSEN
Inneres Erleben und äußere Bedingungen stehen aber immer in einem dialektischen Zusammenhang, formen biographische Besonderheiten und begünstigen auch den angst- und verlustreichen Weg »in die Dunkelheit«.
Angesichts der globalen Informations- und Bilderflut kann leicht der Faden oder die Übersicht verloren gehen. Der Imperativ zu Leistung und permanenter Betriebsamkeit gefährdet Denk- und Erlebnisräume als Orte der Kreativität und kann uns die Fähigkeit zum »kontemplativen Verweilen« verlieren lassen. Die Langlebigkeit des Patriarchats könnte, besonders bei Frauen, zum Verlust der Geduld oder Beherrschung führen. Verliere ich die Arbeitsfähigkeit oder den Arbeitsplatz, verliere ich auch oft die Wohnung, Ansehen, Sicherheit, Orientierung oder FreundInnen. Können das erste Schritte in die soziale Isolation sein? Was bedeutet der Verlust von Schlüssel oder Schirm gegen den Verlust von Heimat oder des Lebens naher Menschen durch Krieg und Tod? Legt das nicht den Grundstein zu Traumatisierung mit depressiven Folgen? Ein Spiel oder eine Wette zu verlieren wird mein inneres Gleichgewicht nicht nachhaltig erschüttern. Wie geht es mir aber, wenn mir mein Glaube an Gerechtigkeit oder Selbstachtung verloren geht? Weil ich mich gegen Demütigungen und Entwertungen durch Schule, am Arbeitsplatz oder durch geliebte Personen nicht ausreichend zur Wehr setzen konnte?
Nähere ich mich einer Depression, wenn Hoffnung auf Veränderung schwindet? Wenn Antrieb und Energie nachlassen oder ein Gefühlsverlust innerer Leere (Entfremdungsgefühlen) Platz macht, nachdem ich jahrelang gegen Ohnmachtsgefühle angekämpft habe? Bin ich immer krank, wenn ich die Gesundheit verliere?
Betrachtet man diese Verlusterfahrungen durch die »symptomsuchende« Brille, dann wird sichtbar, wie fruchtbar der Boden des Alltagslebens für Depressionen ist.
Widerstandsressourcen
Warum es manchen Menschen, trotz vergleichbarer Verlust- und Belastungserfahrungen, besser gelingt, gesund zu bleiben oder zu werden als anderen, versucht das Konzept der Salutogenese zu erklären.
Aaron Antonovsky, der Begründer dieses Modells, macht drei Komponenten für den Erwerb von Resilienz/Widerständigkeit verantwortlich: Erstens das Gefühl von Verstehbarkeit: ich begreife mein Tun, ich weiß um mein Wissen. Zweitens das Gefühl von Bewältigbarkeit: ich schaffe die an mich gestellten Anforderungen, fühle mich nicht überfordert. Und drittens das Gefühl von Sinnhaftigkeit bzw. von Bedeutsamkeit: das, was ich tue, ergibt für mich (oder andere) Sinn und ich bekomme dafür Anerkennung. Wer auf diese weitgehend in der Kindheit erworbenen Ressourcen zurückgreifen kann, wird mit individueller Krankheitserfahrung besser umgehen können. Vorausgesetzt die sozioökonomischen Verhältnisse ermöglichen das. Den Zusammenhang zwischen steigender sozialer Ungleichheit und dem steilen Anstieg von »Verzweiflungsopfern« in der Klasse der ArbeiterInnen durch Suizid, Drogen und Alkoholmissbrauch belegen zwei US Ökonomen (Case, Deaton) in ihrem jüngst erschienenen Buch.
Ein langer Weg
Das Problembewusstsein hat zwar allgemein zugenommen, das Wissen über Hilfsangebote hat sich verbreitert und die gesellschaftliche Stigmatisierung hat abgenommen, trotzdem finden psychisch Kranke noch immer sehr spät den Weg in eine ärztliche oder psychotherapeutische Praxis. Dieser Weg ist dann oft gepflastert mit falschen Diagnosen und Medikamenten, aber auch mit der Scheu vieler Betroffenen, das schambesetzte Gefühl der Wertlosigkeit – ein Symptom depressiven Leidens – »herzuzeigen«. Das lange Verbergen-müssen von psychischem Leiden, das vermeintliche Aushalten-Müssen belastender Lebenssituationen kostet Kraft und endet oft im totalen Verlust von Lebensqualität oder im Selbstmord.
In berührenden Selbstzeugnissen hat Mark Fisher, ein britischer linker Autor, festgestellt, dass man in dem undurchdringlichen Labyrinth eines depressiven Lebens einer Aufgabe nicht gewachsen ist: der Selbstwerdung.
Was hilft?
Die Voraussetzung für dieses »Sein oder Werden« müsste durch notwendige strukturelle Maßnahmen von Politik geschaffen werden. Auch das Gesundheitswesen, im Besonderen die Psychiatrie, sollte, ausgehend vom Sozialen, neu gedacht werden. Es ist die größer werdende Schere zwischen Arm und Reich, es sind die vielen Stressfaktoren durch ungleiche Macht- und Chancenverteilung, es ist die Hierarchisierung vieler Lebensbereiche, es ist die zunehmende Prekarisierung der Arbeitswelt mit Einkommensunsicherheit und es ist die Zunahme sozialer Frustration, die depressive Erkrankungen zu einem alltäglichen »Abfallprodukt« des neoliberalen Individualisierungsprozesses machen. Und die nach einer radikaleren Umgestaltung unseres gesellschaftlichen Lebens schreien.
Kritik ein Lebenselixir?
Friedrich Nietzsche hatte sicher nicht die Absicht, mit seinen Aussagen Depressionsprophylaxe zu betreiben. Ein Zitat könnte aber als Empfehlung dazu gelesen werden: »Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches. Es ist oft ein Beweis davon, dass lebendige, treibende Kräfte in uns sind, welche eine Rinde abstoßen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil etwas in uns leben und sich bejahen will. Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen.«
Ein Ort, an dem diese Form der Widerständigkeit praktiziert werden könnte, ist politisches Engagement. Wenn individuelle Empörung den Weg über Kritik in sinnvolles, kollektives Handeln schafft und ein bewältigbares Ziel anpeilt, dann wäre dieses solidarische Handeln auch für das Individuum ein Weg zu einem bedeutungsvolleren Leben.
Das Gesundheitssystem ist krank! Aber, ist es das Gesundheitssystem? Woran ein Recht auf Gesundheit scheitert.
VON ANKE STRÜVER
Wenn es um die Gesundheitsversorgung in den EU-Mitgliedsstaaten geht, wird meist auf das vorherrschende Solidar- und Gleichheitsprinzip und die großen Unterschiede zu den USA verwiesen. Wer hierzulande älter als fünfzig ist, wird sich aber auch an die großen Unterschiede zu den 1970er Jahren erinnern. Seitdem sind die Abgaben für die gesetzlichen Krankenkassen kontinuierlich gestiegen und die Versorgungsleistungen gesunken; wer es sich leisten kann oder will, gleicht Letzteres heutzutage durch private Zusatzversicherungen aus. Diese Bestandsaufnahme ist allgemein bekannt und vor allem weitgehend anerkannt. Dennoch – oder gerade deswegen – gehen Politiker*innen gerne mit stolzen Aussagen wie diesen an die Öffentlichkeit: »Der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist Spiegel für den Wohlstand der Gesellschaft.« Sie verweisen damit auf eine (individualisierte) Wohlstandsgesellschaft, die sich von der (kollektiven) Wohlfahrtsgesellschaft seit den 1980er Jahren erfolgreich emanzipiert hat und die in den neoliberalen Gesellschafts- und Gesundheitsreformen und der Verschiebung von Versorgung auf Selbstsorge ihren erschreckenden Höhepunkt gefunden hat.
Versorgung
Der oft zitierte Ausspruch des römischen Dichters Vergil »der größte Reichtum ist Gesundheit« ist auf Englisch viel eingängiger (»the greatest wealth is health«) und wird seit fünf Jahren als Teil der Agenda 2030 der UN bzw. der Sustainable Development Goals als Slogan plakativ vermarktet (siehe bspw. https://www.unenvironment.org/news-and-stories/story/ greatest-wealth-health). Für das Erreichen dieser Art von Reichtum steht, zumindest in Mitteleuropa, der gesicherte Zugang zu hochwertigen grundlegenden Gesundheitsdiensten im Mittelpunkt. Doch genau das, der Zugang zu Gesundheitsdiensten, und seien sie noch so gut (oder gar umsonst) reicht bei weitem nicht aus für eine gesunde Gesellschaft. Vor ziemlich genau zehn Jahren haben Wilkinson & Pickett (2010) ihre Studie zu den gesundheitlichen Auswirkungen gesellschaftlicher Ungleichheiten publiziert: Sie machen deutlich, dass sich gesamtgesellschaftliche Ungleichheiten stärker auf die Gesundheit der marginalisiert und prekarisiert lebenden Menschen auswirken als auf die der Situierten. Umgekehrt hängt eine Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten von der Steigerung der gesellschaftlichen Gleichheit ab. Kurz gesagt: sozial gleichere Gesellschaften sind auch gesündere Gesellschaften.
Verhältnisse und Verhalten
Bereits 2008 hatte die Weltgesundheitsorganisation einen Bericht zu sozialen Determinanten von Gesundheit betitelt mit »Soziale Ungerechtigkeit ist für den Tod von Menschen im großen Stil verantwortlich« (WHO 2008). Der Bericht bezieht sich vor allem auf globale Ungleichheiten. Doch er macht erstens verständlich, dass und inwiefern gesellschaftliche Ungerechtigkeit der zentrale Faktor für Gesundheit und Krankheit ist. Und er stellt zweitens heraus, dass eine Verbesserung der globalen Gesundheitssituation nur über eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse erreichbar ist.
In den Debatten um Gesundheit spielt der Begriff der Verhältnisse eine umkämpfte Rolle. Anders als Ansätze zur Public Health, die in der Regel die sozialen Determinanten von Gesundheit über quantitativ orientierte Risikoanalysen bestimmen und/oder auf Verhaltensänderungen abzielen, spricht die WHO gesellschaftliche Konstellationen an, wodurch sich die WHO-Kritik durchaus auf nationale Gesellschaften übertragen lässt. Denn sozioökomische Armut, fehlende Bildung, Migrationserfahrung, Wohnraummangel, Umweltgifte etc. resultieren nicht zwangsläufig in schlechten sozialräumlichen Verhältnissen; sie machen nicht direkt krank und verringern nicht automatisch die Lebensqualität und Lebenserwartung. Vielmehr handelt es sich dabei um gesellschaftlich ungerecht strukturierte und vermittelte Prozesse.
So zeigt sich bspw. in vielen europäischen Städten, dass Menschen, die sozioökonomisch, soziokulturell oder sozialräumlich marginalisiert werden, eine kürzere Lebenserwartung haben und überdurchschnittlich häufig an psychischen wie physischen chronischen Krankheiten leiden (vgl. Poliklinik 2020). Dies kann nicht – oder zumindest nicht allein – über einen gesicherten Zugang zu Gesundheitsdiensten (s. o.) und/oder eine verbesserte Qualität der medizinischen Versorgung reformiert werden, da soziale Faktoren wie Wohnungsgrößen und Mieten, Arbeitslosigkeit und Einkommensunsicherheiten, Alters-Diskriminierung oder Rassismus die Gesundheit nachweisbar stärker beeinflussen als lokale räumliche oder soziale Verhältnisse oder individuelles (Fehl-)Verhalten.
Gesundheitliche Ungleichheiten sind also nicht nur Effekte von Verteilungsungleichheiten, sie werden nicht direkt und unmittelbar durch Umweltfaktoren oder sozialen Stress hervorgerufen. Denn sonst müsste bspw. eine hohe Konzentration von Umweltgiften in der direkten Wohnumgebung alle dort lebenden Menschen krank und »gleich krank« machen. Gesundheitliche Ungleichheiten sind aber auch nicht nur auf individuell krankmachendes Verhalten oder fehlende Selbstsorge zurückzuführen.
Verteilung
In Ergänzung zum oben zitierten »wealth is health« ist mittlerweile der Ausspruch »health is wealth« auf dem Vormarsch (Stanwell-Smith 2017). Er definiert Gesundheit als Lebensstil und Lebensziel, als Voraussetzung für Freiheit und Wohlbefinden und verwehrt damit nicht nur chronisch wie akut Erkrankten diese Rechte, sondern reduziert (vermeintliche) Freiheit auf erfolgreiche Selbstsorge oder zumindest einen risikoarmen Lebensstil; d. h. das Recht auf Gesundheit wird individualisiert. Im Umkehrschluss bedeutet Gesundheitsgerechtigkeit in einer Gesellschaft der Gleichheit, dass alle ihre Lebensumstände wählen und gestalten können. Das ist allerdings weniger im Sinne eines bewusst verfolgten gesunden Lebensstils und damit verbundenen Verhaltensänderungen zu verstehen (z. B. geringer Nikotin- und Alkoholkonsum, gesteigerte sportliche Aktivität, Umzug in »bessere« Nachbarschaft etc.). Es geht viel grundlegender um die basalen Möglichkeiten der Teilhabe und Einflussnahme; darum, die eigenen Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen selbst, aktiv und in Solidarität mit anderen verändern zu können.
In der EU ist derzeit absolute Armut weniger ein Problem als die relative Ungleichheit in der Gesellschaft – von der alle in einer ungleichen Gesellschaft betroffen sind. Aber der in niedrigeren sozialen Statusgruppen durch das Erleben von Ungleichheit erhöhte und teilweise chronische Stress steigert das Krankheitsrisiko (vgl. Exner 2013; Wilkinson & Pickett 2010, 2018). Der soziale Stress kann zu gesundheitsschädlichem Verhalten führen (Nikotin- und Alkoholsucht, Bewegungsarmut, Über- oder Untergewicht) und ist somit kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem. Gesundsein ist dadurch genauso wenig individuelle Leistung wie Kranksein individuelles Versagen. Strukturelle Ungleichheit, die sich u.a. in Gesundheit oder Krankheit verkörpert, kann durch Umverteilung und gesellschaftliche Teilhabe bekämpft werden – und zwar im Sinne einer Verteilungsgerechtigkeit, die viel komplexer als Gleichbehandlung oder Gleichverteilung wäre (Fraser 2009). Erst die Anerkennung struktureller Ungleichheit ermöglicht, durch ökonomische Umverteilung und politische Teilhabe Ungerechtigkeit zu bekämpfen – und Gleichheit zu erreichen.
Verwertung versus Verantwortung
Ökonomische Umverteilung und soziale Teilhabe sind gleichwohl kaum ausreichend, um das kranke System zu heilen. So lange kapitalistische Verwertungsprinzipien dominieren, reproduzieren sich strukturelle soziale Ungleichheiten, die sich durch neoliberale Regierungspraktiken und Austeritätsmaßnahmen noch verstärken. Im übertragenen Sinne sind hier weniger akut oder chronisch erkrankte Menschen krank, als ein System, das nur über die ( Re-)Produktion von Ungleichheiten funktioniert. In ihrem neuen Buch fokussieren Wilkinson & Picket (2018) die Auswirkungen von Austeritätsmaßnahmen und der wachsenden Arbeits- und Einkommensungleichheiten auf (vermeintlich individuelle) Probleme wie fehlendes Gefühl von Anerkennung und Angstzustände, die in physischem wie psychischem Stress resultieren. Sie mahnen zudem den Rückbau des finanzialisierten Kapitalismus zu egalitär-kooperativen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen an – und koppeln damit viel stärker als die Sustainable Devlopment Goals die Steigerung der sozialen Gleichheit an wachstumskritische ökologische und ökonomische Produktions- und Arbeitsformen. Wenn »der Gesundheitszustand einer Bevölkerung Spiegel für den Wohlstand einer Gesellschaft ist«, dann wäre ein etabliertes Recht auf Gesundheit Ausdruck von Verantwortung – und Spiegel für den Gleichheitsgrad einer Gesellschaft.
Anke Strüver ist Professorin am Institut für Geographie und Raumforschung der Universität Graz.
Zitierte Literatur:
Exner, Andreas (2013): Gesundheit und soziale Gleichheit. In: Initiative Solidarisch G’sund (Hrsg.): Gesundheit für alle! Wien: Mandelbaum, S. 26–55.
Fraser, Nancy (2009): Scales of Justice. Reimagining Political Space in a Globalizing World. New York: Columbia University Press.
Poliklinik (2020): Poliklinik Veddel. Hamburg. http://poliklinik1.org/konzeptvision (08.03.2020)
Stanwell-Smith, Rosalind (2017): Health is wealth. In: Perspectives in Public Health 137 (4), 198.
WHO (2008): Closing the gap in a generation. Health equity through action on the social determinants of health. Genf: WHO.
Wilkinson, Richard & Kate Pickett (2010): the Spirit Level : Why Equality is Better for Everyone. London: Penguin.
Wilkinson, Richard & Kate Pickett (2018): The Inner Level: How More Equal Societies Reduce Stress, Restore Sanity and Improve Everyone’s Well-being. London: Allen Lane.