artikel, einzeln in html

artikel, einzeln in html (386)

»Wir sitzen alle im selben Boot«, verkünden die Regierenden vieler Länder. Doch dass vor dem Virus alle gleich wären, egal ob arm oder reich, hält einer näheren Betrachtung nicht stand.

VON DANIELA BRODESSER

Corona bringt aktuell massive Verände­rungen und Einschnitte für den Alltag von uns allen. Viele haben ihre Jobs verlo­ren oder sind in Kurzarbeit. Die Umstel­lung von Schulalltag auf Homeschooling musste innerhalb weniger Tage erfolgen. Mindestlohn-Jobs im Handel und in der Pflege sind plötzlich jene, die mit am wich­tigsten sind. Ausgangsbeschränkungen und Unsicherheiten führen zu einem Leben von einem Tag zum anderen – plötzlich ist fast nichts mehr planbar. Entweder ist es nicht erlaubt, oder man hat schlicht kein Geld mehr dafür.

Für ungefähr eineinhalb Millionen Men­schen sind die Auswirkungen anders. Denn ein Großteil der Maßnahmen haben bereits vorher zu ihrem Alltag gezählt: Isolation, fehlende soziale Teilhabe und ein Alltag, der sich nur von einem Tag zum anderen planen lässt, ist für armutsgefährdete Men­schen auch bisher bittere Lebensrealität.

Armutsbetroffene trifft es härter

Natürlich gibt es auch für Betroffene Ände­rungen, und die sind gravierend. Wer vor­her schon mit Armut zu kämpfen hatte, spürt die Krise noch stärker. Sei es beim Einkauf, wo viele der günstigsten Produkte nicht erhältlich sind oder geringfügige Jobs, die nun weggefallen. Viele Armutsbetrof­fene waren vorher prekär beschäftigt, zum Beispiel mehrfach geringfügig oder als freie DienstnehmerInnen. Mit viel Glück bekommt man eine Entschädigung, der Großteil wird aber im Regen stehen gelas­sen. Zu bedenken sind auch die Mehrkos­ten, die durch das Homeschooling entste­hen: Das Ausdrucken der Unterlagen und Übungsblätter für die Kinder, die sündteu­ren Druckerpatronen, das Schulessen, das jetzt wegfällt – all das klingt nach nicht viel, ist für Armutsbetroffene aber meist nicht stemmbar. Andere Rechnungen müssen dann liegen bleiben. Die Spirale dreht sich weiter und weiter.

Gut gemeint von der Regierung ist die Stundung der Miete. Ich frage mich aber, wie es dann am Jahresende für viele Men­schen aussieht. Es sind ja dann die normal laufende Miete und die Rückzahlungen fäl­lig. Die meisten kämpfen jetzt bereits damit, die Miete zahlen zu können, und viele wer­den nicht sofort wieder eine Arbeit finden.

Zugespitzter Status quo

In einem Punkt – und das ist für mich per­sönlich eine der prägendsten und traurigs­ten Erkenntnisse dieser Krise – hat sich wenig bis nichts für Betroffene geändert: bei der sozialen Teilhabe. Für den Großteil der Menschen in diesem Land bedeuten die Ausgangsbeschränkungen eine extreme Umstellung ihres Alltags: Der Kaffee mit FreundInnen, das Mittagessen mit KollegIn­nen, trainieren im Fitnessstudio, samstags ins Kino oder Theater, der Ausflug am Wochenende – all das vermissen die meis­ten unglaublich und es fällt schwer. Für Armutsbetroffene Menschen ist das die täg­liche Realität. Das war sie auch schon vor Corona. Dinge zu planen, die nächsten Wochen strukturieren zu können – all das ist trauriger Alltag, wenn man in Armut lebt. Man ist froh, wenn die nächste Woche planbar ist, doch meistens kommt eine unvorhergesehene Ausgabe für eine Rech­nung oder für die Schule und wirft wieder alles über den Haufen. Für mich selbst bemerke ich diese Krise nur in einem: dem Homeschooling der Kinder. Denn auch vor­her konnten wir uns weder Ausflüge noch Kino, essen gehen oder einen regelmäßigen Besuch des Hallenbades leisten. Armutsbe­troffene verbringen ihren Alltag vor allem zuhause.

Physisch isolieren, nicht sozial

Aus eigener Erfahrung: Was sollten jene unbedingt vermeiden, die jetzt die finan­ziellen Auswirkungen von Corona zu spü­ren bekommen und vorher nie mit Armut zu tun hatten? Isolation vermeiden! Und damit meine ich nicht das Abstand halten. Auch wenn der Druck noch so groß ist, die Existenzängste noch so schlimm, die schlaf­losen Nächte noch so lang, wichtig ist jetzt, sich nicht zurückzuziehen, sondern die sozialen Kontakte aufrecht zu erhalten. Denn Armut treibt viel zu oft in die Isola­tion. Schleichend. Meist bemerkt man es erst, wenn es zu spät ist. Es ist eine Spirale, aus der nur die wenigsten wieder rausfin­den. Leider. Rückzug, Isolation, Existenz­ängste, Schlaflosigkeit – damit kämpfen fast alle Betroffenen und es macht krank. Die Ängste kann einem niemand nehmen, doch helfen gute Kontakte, diese Zeit ein wenig besser zu überstehen. Und vor allem eines: sucht die Schuld nicht bei euch selbst. Betroffenen wurde das schon viel zu lange eingeredet.

Armut ist kein Naturgesetz

Armut war und ist kein individuelles Pro­blem. Armut ist strukturell bedingt. Es gab schon vor der Krise zu viele Arbeitssu­chende auf zu wenige freie Stellen, es gab massive Probleme mit der Vereinbarkeit von Job und Kinderbetreuung und der Pflege von Angehörigen. Aktuell steigen die Arbeitslosenzahlen in noch nie dage­wesenem Ausmaß an und niemand kann garantieren, wie es nach dem Überwinden von Corona auf dem Arbeitsmarkt weiter­geht. Natürlich ist es wichtig, dass die Wirtschaft unterstützt wird. Doch auf uns hier unten zu vergessen, weder das Arbeitslosengeld noch die Ausgleichszu­lage zu erhöhen, spricht nicht für diese Regierung. Wobei ich persönlich es traurig finde, dass es eine Krise wie diese braucht, damit die Mehrheit entdeckt, dass das Arbeitslosengeld viel zu niedrig ist.

Menschen an und unter der Armuts­grenze bleiben weiterhin ungesehen, sie kommen schon irgendwie über die Run­den. Wie sie das schaffen, wie viel Kraft dahintersteckt, wie zermürbend der Kampf gegen Armut ist und wie krankma­chend Armut sein kann und infolge Aus­wirkungen auf die Teilhabe am Erwerbsle­ben hat – all diese Faktoren werden unter den Teppich gekehrt. Anstatt Armutsbe­troffene zu beschämen, sie als Faule und Sozialschmarotzer zu präsentieren, wün­sche ich mir, dass nach Corona ein Umden­ken kommt. Armut ist so viel mehr als »nur« finanzielle Not. Sie isoliert, sie macht krank und sie zermürbt. Sie wäre für einen Staat wie Österreich leicht zu bekämpfen. Armut darf nicht mehr über­sehen und übergangen werden. Denn durch Corona betrifft sie inzwischen noch mehr als die 1,5 Millionen der bereits bis­her Gefährdeten.

Daniela Brodesser redet aus Erfahrung über Armut, Beschämung und prekäre Beschäftigung. Zusammen mit Kathrin Quatember betreibt sie den Podcast »Bitte stören« – Wir reden über Armut und Ungleichheit.

AA FB share

Alle und manche noch etwas mehr sind von Verboten und Verordnungen betroffen.

von MONIKA MOKRE und STEPHAN VESCO

»Einschränkungen sind notwendig, um Freiheit zu erlangen«, sagte Bundes­kanzler Kurz in einer seiner zahlreichen Pressekonferenzen der letzten Zeit. Dies klingt geradezu nach einer religiösen Bot­schaft – büße im Diesseits, um im Jenseits in das Himmelreich eintreten zu dürfen. Und ebenso wie die Botschaft vom Himmel­reich weckt auch die des Kanzlers gewisse Zweifel daran, ob dieser Zustand tatsäch­lich je erreicht wird – und wenn ja, wann.

Unklare Festlegungen und Prognosen sind in Religionen üblich, denn hier ist nicht Wissen gefragt, sondern Glauben. Im demo­kratischen Rechtsstaat hingegen sollten die Regeln klar und auch verständlich sein – und wie Alfred Noll kürzlich in einem Stan­dard-Kommentar festgestellt hat, Rechts­staatlichkeit muss insbesondere in Krisen­zeiten eingehalten werden, um nicht Gefahr zu laufen, sie auf Dauer zu verlieren.

Verbote von Zusammenkünften

Die rasch aufeinander folgenden Gesetze und Verordnungen der letzten Zeit orien­tieren sich allerdings nicht an diesem Prin­zip. Schon die Verordnung, die eine allge­meine Betretungsbeschränkung für den öffentlichen Raum vorsieht, ging über den Gesetzestext weit hinaus, der nur erlaubt, das Betreten bestimmter Orte zu untersa­gen. In den Tagen vor Ostern wurde noch­mals nachgeschärft. Ein Erlass des Gesund­heitsministers vom 1. April ordnete die Durchführung eines bundesweiten Verbots auch von Zusammenkünfte in geschlosse­nen Räumen an (in Wien etwa mit Magis­tratsverordnung vom 3. April umgesetzt); allerdings explizit nur für den Fall, dass daran mehr als fünf nicht im gleichen Haushalt lebende Personen teilnehmen.

Dies führte zum einen dazu, dass sich die Bevölkerung verunsichert zeigte – war sie bisher doch, der Kommunikation der Bun­desregierung folgend, davon ausgegangen, dass Zusammenkünfte in privaten Räumen ohnehin untersagt seien. Andererseits gab es Kritik daran, dass der § 15 des Epidemie­gesetzes als Grundlage für die Verordnung herangezogen wurde. Diese Bestimmung sieht aber nur die Untersagung von Veran­staltungen vor, »welche ein Zusammen­strömen größerer Menschenmengen mit sich bringen«. Damit werden kaum private Veranstaltungen gemeint sein.

In der Folge kündigte die Regierung einen Rückzieher an. In der Pressekonfe­renz vom 6. April äußerte sie, die bisher bestehenden Ausgangsbeschränkungen seien ausreichend, weil sich daraus bereits ein Verbot privater Zusammenkünfte mit nicht zum Haushalt gehörenden Personen ergeben würde. Der Erlass sei daher obso­let, so Anschober. Die entsprechende Ver­ordnung des Wiener Magistrats wurde allerdings erst am 10. April aufgehoben.

Damit besteht auch nach wie vor keine direkte Handhabe der Polizei gegen Veran­staltungen in privaten Räumlichkeiten. Mit der Aufhebung der Verordnung ist ein Ein­schreiten der Exekutive jedenfalls nur mehr wegen Lärmerregung oder Anstands­verletzung zulässig. Eine zu Maßnahmen berechtigende Strafbarkeit wegen Corona wäre ausschließlich bei einem konkreten Verdacht auf eine Infektion wegen Gefähr­dung anderer gegeben. Das wurde selbst von Wiens Polizeipräsident Pürstl in einem Falter-Interview vom 8. April zugestanden.

Nicht unerwähnt bleiben soll aber, dass mit dem 3. Covid-Gesetz vom 6. April weit­reichende Befugnisse zur Polizei hinsicht­lich der bestehenden Einschränkungen im öffentlichen Raum geschaffen wurden.

Verlängerung des Zivildiensts

Vielfach problematisch sind auch die in der Coronakrise zur Anwendung kommenden Bestimmungen des Zivildienstgesetzes. Im Wesentlichen wurde dabei auf schon beste­hende Vorschriften zum »außergewöhnli­chen Zivildienst« zurückgegriffen, welche nun erstmals vollstreckt werden. Diese Form des Zivildienstes ist ausnahmsweise bei »Elementarereignissen, Unglücksfällen außergewöhnlichen Umfanges und außer­ordentlichen Notständen« vorgesehen. Zu seiner Ableistung kann die Verlängerung bestehender Zivildienste verfügt werden. Entsprechend wurden in der aktuellen Krise Zivildiener verlängert, deren Dienst an sich mit Ende März zu Ende gegangen wäre. Zusätzlich wurden jene eingesetzt, die sich auf den Aufruf der Regierung frei­willig gemeldet hatten.

Das Gesetz sieht nun allerdings eine ungleiche Bezahlung vor. Jene, die bereits Zivildienst leisten, erhalten zu ihrer übli­chen Pauschalvergütung von € 346,70 nur einen Zuschlag von € 189,90, also € 536,60 insgesamt. Die freiwillig Gemeldeten erhal­ten hingegen zusätzlich zu den € 536,60 eine Entschädigung, wie sie einem Wehr­pflichtigen zusteht, der einen Einsatzprä­senzdienst leistet, von € 1.140,34 netto. Gegen diese Ungleichbehandlung für glei­che Arbeit haben 60 Zivildiener bereits die Vorbereitung einer Klage veranlasst. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie Recht bekommen.

Weiters besonders problematisch ist die Tatsache, dass sogar jene Zivildiener ver­längert wurden, die selbst einer Risiko­gruppe angehören. Die Zivildienstservice­agentur empfiehlt den Betroffenen ledig­lich, »alle gesundheitlichen Einschränkun­gen« dem Vorgesetzten in der Einrichtung zu melden. Diese habe die gemeldeten Ein­schränkungen dann »im Sinn ihrer Obsor­gepflicht« zu berücksichtigen.

Mit dem 2. Covid-Gesetz vom 21. März neu dazugekommen sind Bestimmungen für die Zuweisung von Zivildienern an bestimmte Einrichtungen, die festlegen, dass einer Beschwerde gegen die Zuwei­sung keine aufschiebende Wirkung zukommt. Das heißt, dass die Zivildiener einer Zuweisung unbedingt Folge zu leisten haben, jedenfalls solange das Verwaltungs­gericht nicht über die Beschwerde ent­schieden hat. Wer sich weigert, muss wie bisher schon mit einer Geldstrafe von bis zu € 2.180 oder unter Umständen (wenn er sich dem Zivildienst überhaupt »entzie­hen« möchte) gar mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr rechnen. Das gilt wohlge­merkt auch für jene, die sich freiwillig gemeldet haben.

In den erläuternden Bemerkungen heißt es, dass man ein »unbürokratisches Sys­tem« einführen wollte und weiters, dass »[all] dies im Lichte der obgenannten außerordentlichen Ereignisse selbst im Hinblick auf die damit verbundenen Beschränkungen der persönlichen Freiheit sowie der Freiheit der Erwerbstätigkeit sachlich gerechtfertigt erschein[en]« würde. Daran, vor allem an der Verhältnis­mäßigkeit, sind erhebliche Zweifel ange­bracht.

Schwer nachvollziehbar ist schließlich eine neue Bestimmung, welche es ermög­licht, auch gewinnorientierte Unternehmen als Träger des Zivildienstes anzuerkennen. Mit der bescheidmäßigen Anerkennung können diesen Zivildiener zugewiesen wer­den. Für diese fallen als Spesen dann ledig­lich die dem Bund zu erstattenden Kosten für den Einsatz der Zivildienstleistenden an, das heißt für verlängerte Zivildiener nur € 536,60 monatlich.

Situation in Gefängnissen

Und schließlich gibt es diejenigen, die schon vor der Krise nicht frei waren und auch danach keine Freiheit erwarten dür­fen: InsassInnen von Gefängnissen. Das 2. Covid 19-Gesetz ermächtigt die Justizminis­terin unter anderem dazu, den Besuchsver­kehr für die Dauer der vorläufigen Maß­nahmen auf telefonische Kontakte zu beschränken. Es ist seit dem 22. März in Kraft. Am 23. und am 26. März erließ die Justizministerin Verordnungen, die diese Regelung umsetzen.

Zweifellos würde ein Ausbruch von Covid 19 in den beengten Verhältnissen einer Justizanstalt zu einer sehr kritischen Situation führen. Damit lässt sich der Ent­fall von Tischbesuchen argumentieren, doch zur Zeit gibt es auch keine Besuche hinter einer Glasscheibe – mit dem Argu­ment, dass BesucherInnen die Justizwache­beamtInnen anstecken könnten, die ihrer­seits dann den Virus in die Anstalt bringen. JustizwachebeamtInnen sind allerdings nicht interniert, sie haben in ihrer Freizeit ebenso viel – oder wenig – Kontakt mit anderen Menschen wie die gesamte Bevöl­kerung. Mittlerweile bestätigte Fälle einer Infektion bei JustizwachebeamtInnen und einem Häftling zeigen, dass es unmöglich ist, Justizanstalten von der Pandemie abzu­schirmen. Auch nicht durch ein Besuchs­verbot. Daher stellt sich die Frage, ob dieses totale Verbot notwendig und verhältnismä­ßig ist. Es gibt gute Gründe, beides zu ver­neinen, denn es gibt keinen sachlichen Grund, Gefangene aufgrund der Krise schlechter zu behandeln als andere, im Gegenteil sind sie eine Gruppe, deren wenige verbleibende Rechte besonders geschützt werden müssen. Das wird auch durch die Rechtsprechung des Europäi­schen Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt, wonach das Besuchsrecht in den Schutzbereich des Rechts auf Familienleben nach Artikel 8 der Menschenrechtskonven­tion fällt.

Die Justizministerin nennt Telefonie und Videotelefonie als Ersatz für die entfallen­den Besuche. Dies ist einerseits offensicht­lich kein auch nur annähernd vollwertiger Ersatz für die persönliche Begegnung. Und funktioniert andererseits auch nicht. Für Videotelefonie fehlen die technischen Ein­richtungen; eine erhebliche Erweiterung der Telefonkontakte scheitert bisher in vie­len Anstalten an der langsamen bürokrati­schen Umsetzung im Strafvollzug. Telefon­zeiten hängen noch dazu von den finanziel­len Möglichkeiten der Gefangenen ab, denn Telefonieren im Gefängnis ist sehr teuer. Und eine Übernahme der Telefonkosten durch den Staat, die im Vergleich zu allen anderen Hilfspaketen finanziell eher ver­nachlässigbar wäre, ist noch nicht einmal angedacht.

Auch könnte man der Gefahr des Corona-Ausbruchs im Strafvollzug mit anderen Maßnahmen begegnen. Etwa durch eine Reduzierung der Belegung der Anstalten: durch Aussetzung der Untersuchungshaft, vermehrte Entlassung auf Bewährung bei kurzen Strafen oder Strafresten, vermehrte Genehmigung von Fußfesseln. Letzteres wiederum mit finanzieller staatlicher Unterstützung, denn auch die Kosten für die Fußfessel können von vielen Gefange­nen nicht aufgebracht werden. Auch von solchen Plänen haben wir bisher nichts gehört; allerdings wird wohl versucht, den Strafantritt von neuen Gefangenen aufzu­schieben. Gleichzeitig wurden jedoch bereits gewährte und gesetzlich ebenso verankerte Vollzugslockerungen, wie Frei­gänge oder Ausgänge gestrichen, und bereits bewilligte Anträge auf elektronisch überwachten Hausarrest nicht umgesetzt, da es kein Personal gebe, um die Fußfesseln anzulegen.

Der Rechtsstaat braucht Kontrolle – auch und gerade in Krisenzeiten. An dieser Kon­trolle fehlt es zur Zeit allgemein, noch mehr allerdings im Gefängnis, das von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet bleibt und in dem alle Möglichkeiten der Gefangenen, sich selbst zu organisieren – etwa in einer Gewerkschaft – untersagt sind.

Monika Mokre, Stephan Vesco sind Mit­glieder der Solidaritäts­gruppe für die Grün­dung einer Gefange­nengewerkschaft Öster­reich.

AA FB share

Vier Fragen an acht Künstler*innen.­

Erst überbieten sich »alle« in radika­len Maßnahmen, jetzt soll die Wirt­schaft wieder schrittweise hochgefahren werden. Was ist daran zu unterstützen, was geht zu weit? Wie weit können Bür­gerInnenrechte suspendiert werden? Bleibt Konsum eine beliebte Freizeitbe­schäftigung und Zeichen von Normali­tät?

REMI BRANDNER: Ich kann ja nicht behaupten, dass es mir bis jetzt in der so genannten Krise schlecht geht. Ich gebe wesentlich viel weniger Geld aus (das ich freilich auch nicht habe…). Ich habe mich vermutlich nicht angesteckt … (oder hatte es in leichter Form; kann genauso gut ein anderes Virus gewesen sein).

Ich komme – da berufliche »Ablenkun­gen« weitgehend weggebrochen sind – endlich dazu, meinen Saustall auszumisten, ihn zu sichten, zu sortieren: Zeitungen, Bücher, Requisiten, Musikinstrumente, Texte, Noten, Kleider und (potentielle und echte Kostüme), Lebensmittel – die Liste ließe sich lange fortsetzen. Das ist überfällig, da die Übersicht schon lange nicht mehr möglich war, mir schon lange alles über den Kopf gewachsen ist. (Remi Brand­ner ist Schauspieler und Musiker)

CHRISTINE SCHÖRKHUBER: Normalität ist ja ein relativer Begriff. Alles was halb­wegs erträglich ist wird nach einer Weile Normalität, das ist mehr eine Frage des Zugangs. Das Reiseverbot gilt jetzt eben für alle. Und eigentlich war es nicht normal, dass davor manche reisen durften und andere nicht. Die Idee Europäische Union ging meiner Meinung nach bereits in der Flüchtlingsthematik verloren.

Was das Tracking betrifft, fürchte ich momentan eher den völlig unreflektierten Gebrauch von fb, twitch, zoom etc. und das inflationäre Unterzeichnen von Nutzungs­bedingungen. Die Daten, die jetzt bereits schon ständig freiwillig hergegeben wer­den, sind zur Überwachung der BürgerIn­nen weit besser geeignet als es z. B. die Corona App wäre. (Christine Schörkhuber ist Medienkünstlerin, Musikerin und Kulturaktivis­tin)

ANKE ARMANDI: Die Luft wirkt reiner, frischer. Vor unserem Fenster in der sonst recht befahrenen Heinestraße steht die Allee in zartem Grün. Doch der friedliche Rückzug ins Private wie in einer Art neuen Biedermeierzeit wird jeden Tag von neuen Informationen und Verord­nungen auf die Probe gestellt und trügt. Immer wieder kommt die Angst um den Arbeitsplatz meines Mannes, um die Großeltern, die für uns hinter verschlos­senen Grenzen in Italien und Deutschland wohnen, die Sorge, sie mögen gesund blei­ben und die Frage, wann wir uns wieder­sehen. Zwei künstlerische Projekte sind abgesagt, sie werden im Herbst nachge­holt. Mir geht dabei auch Geld verloren, aber ich arbeite weiter. Ich habe neue Bil­der im Kopf, die von unserer Lage erzäh­len. Mir brennt es unter den Fingernä­geln, sie zu malen, aber die Tage verrin­nen im Nu. Ich muss einkaufen und mit meiner fast zehnjährigen Tochter bis in den Nachmittag hinein Hausübungen machen. Nach einem Monat ist es schwer, sie zu motivieren. Wann sperren die Schu­len endlich wieder auf? Meine Tochter weint in letzter Zeit immer wieder, weil sie ihre Freunde vermisst. Ich spüre eine große Verantwortung für sie, während mein Mann sich konzentrieren muss auf das Home Office. Plötzlich fühle ich mich in die 50iger Jahre versetzt, als wäre es selbstverständlich, mich um Kind und Haushalt zu kümmern, während der Vater um den Arbeitsplatz kämpft.

Ich sehe auch Chancen. Wenn all die Maßnahmen möglich sind, das strikte Ein­halten zum Schutz vor Corona und die finanzielle Unterstützung des Staates – könnte man nicht das gleiche strikte Vor­gehen für den Klimaschutz und mehr soziale Gerechtigkeit umsetzen? Wir brauchen wieder ein Gefühl für die Menschheitsfamilie, wie ich immer wie­der höre in Predigten im Fernsehen. Das gefällt mir. Das Aufeinander-Aufpassen, Innehalten, Verlangsamen und Nachden­ken über uns. (Anke Armandi ist Malerin und Performerin)

ELISE MORY: Am Anfang meiner persön­lichen CoVid19 Krise war die Absage einer Theatervorstellung. Aber wie dann der Shutdown der Wirtschaft verkündet wurde, kam der Schock. Ich habe das in einem von der ÖVP regierten Land undenkbar gehal­ten, es wurde Ernst. Dann kamen tägliche Pressekonferenzen und ich war nur damit beschäftigt, mitzukommen. Für mein Leben zu übersetzen. Da war für kritische Stim­men und Gedanken kein Platz. Langsam lichtet sich der Nebel und es wird sichtbar, wer verteilt das Geld (WKO), wer bekommt es (großzügige Parteisponsor*innen), wer darf Sport betreiben (Segelflieger*innen und Schütz*innen), wer bekommt Applaus und wer die Boni? Und wer bleibt dabei auf der Strecke? (#leavenonebehind) (Elise Mory ist Musikerin)

Kann es überhaupt ein Zurück zu Nor­malität geben? Kollabiert die kapitalisti­sche Ökonomie? Bleibt es bei der rabia­ten Abschottung der Staaten – EU ade? Wie werden wir uns in der Öffentlichkeit bewegen können?

MARGOT HRUBY: Ich werde jedenfalls das Kollabieren der kapitalistischen Ökonomie freudig einklatschen! Zu befürchten sind Bargeldabschaffung und sowieso Totalüber­wachung. »Retten« würde uns die Kommu­nikation und die Solidarität. Momentan regieren aber Nationalismus, pseudomora­lische Besserwisserei und Denunzianten­tum. Leider! (Margot Hruby ist Schauspielerin und Sängerin)

ELISE MORY: In den letzten Tagen hören wir jetzt viel vom Weg zurück in die Nor­malität. Es wird also davon ausgegangen, dass wenn alle Maßnahmen (also die neue Umschreibung für Gebote und Verbote) zurückgenommen wurden, wir wieder da sind, wo wir vor dem Ausbruch der Covid 19-Krise waren. Das halte ich für unmöglich und auch nicht erstrebenswert. Denn auf einmal wird sichtbar, wen unsere Gesell­schaft aller braucht, dass wir alle dazu gehören, wo was fehlt. Ich fände es schade, wenn wir nicht mehr als Applaus für die Mitarbeiter*innen in den sogenannten sys­temerhaltenden Berufen haben. Wir sollten auch nicht vergessen, was es bedeutet, wenn Pfleger*innen nicht einreisen dürfen und was die leisten, die einfach hierbleiben und weiter arbeiten, weil’s ja sonst nie­ mand (für das Geld) macht. Diese Krise bringt meiner Meinung nach unübersehbar an die Oberfläche, was neoliberale Politik anrichtet. Dass wir in Österreichs Kranken­häusern paar unbelegte Intensivbetten in Reserve haben, erweist sich als größtmögli­cher Glücksfall und ist allein dem Umstand zu verdanken, dass noch nicht das gesamte österreichische Gesundheitssystem von der neoliberalen Effizienzlogik ergriffen wurde. Wir waren aber gerade im Endspurt dort­hin. Und da will ich nicht mehr hin.

VERONIKA EBERHART: Den Versuch der Digitalisierung vieler kultureller Bereiche sehe ich persönlich als fast unerträglich. Wie fühlst du dich, wenn du zwei Stunden in den Computer schaust? Wie fühlst du dich, wenn du zwei Stunden lang tanzt, durch einen Raum gehst oder dich einfach nur drehst? Die Wahrnehmung wird in der Digitalisierung völlig beschnitten und der Körper fixiert.

Leider glaube ich zudem auch, dass unser Begehren und Wahrnehmen so stark von kapitalistischer Logik durchdrungen ist, dass ein Umgestalten von Lebensrealitäten, die einen egalitäreren Ansatz hätten, auch ein totales Umwerfen von Begehrensstruk­turen mit sich bringen müsste. Aber die politische Vorstellungen seitens jener, die Entscheidungen für Gesellschaften treffen, haben sich nicht verändert, im Gegenteil, denkt man an Ungarn und Polen, werden die momentanen Umstände eher dazu genutzt um noch nationalistischer und faschistischer zu regieren. Es gibt kein Umdenken in der Aufwertung von Repro­duktionsarbeit, kein Umdenken in der Auf­wertung von Pflegearbeit. Warum ist es nicht vorstellbar, dass das Pflegen von alten (oder bedürftigen) Menschen oder das Ernten von Lebensmitteln, die wir essen, höher entlohnt werden? Alleine nur eine kleine Verschiebung innerhalb des neolibe­ralen Systems scheint unmöglich, wie also soll ein Sturz funktionieren? Die Frage nach Status ist essentiell im Neoliberalismus, und diese wird ökonomisch gewertet. Viel­leicht bringt die aktuelle Situation eine kleine Statusaufwertung jener Dienstleis­tungsberufe, die tragend für eine Gesell­schaft sind. (Veronika Eberhart ist bildende Künstlerin und Musikerin)

CHRISTINE SCHÖRKHUBER: Wirklich relevant finde ich die Aufwertung vieler Berufe, die nun als kritische Infrastruktur erkannt wurden und in einem anderen Licht gesehen werden. Plötzlich wird klar, was für die Gesellschaft unerlässlich ist: Pflegeberufe, LagerarbeiterInnen, Super­marktkassierinnen, BetreuerInnen, Post, Energie- und Wasserversorgung. All diese Berufe waren vorher nicht besonders hoch angesehen und auch nicht besonders gut bezahlt. Es bleibt zu hoffen, dass dies sich auch nachhaltig im Bewusstsein festsetzt. Denn niemand hat bisher noch einen CEO im Büro vermisst.

DENICE BOURBON: Ganz klar hoffe ich, dass dies den ersten Schritt zum langsamen Tod des Kapitalismus darstellt. Natürlich hoffe ich das. Aber alle sagen mir ständig, dass ich Wahnvorstellungen habe, hahaha. Aber ich wünsche mir, dass die Menschen neu darüber nachdenken müssen, wie wir leben und wohin wir unser Geld stecken, wenn wir eine Gesellschaft jenseits der Konzerne haben wollen. Ich möchte, dass die Menschen ernsthaft darüber nachden­ken, wie es wäre, aus der Quarantäne raus­zukommen, und alles, was übrig wäre, Imax Kinos, Mc Donalds, Starbucks, der Prater­dome-Nachtclub und H&M sind, weil alle anderen Unternehmen starben, während ihre Kund_innen eingesperrt waren. Auch hier bin ich mit Greta Thunberg einer Mei­nung: zurück zu welcher Normalität? Diese Normalität war verkorkst, warum sollten wir zu ihr zurückkehren?

Genauso mit dem Wunsch nach Umar­mungen: wenn es menschlicher Kontakt ist, wonach sich die Leute am meisten sehnen, führt dies vielleicht zu einer ganz neuen Sichtweise auf das, was im Leben wichtig ist? Auch all die Menschen, die nun hyste­risch in der Natur joggen und zum ersten Mal in ihrem Leben wandern, anstatt in ihren Autos herumzufahren, und jetzt so tun, als sei dies das Wichtigste, was ihnen je passiert ist – vielleicht werden sie gar ihre SUVs verkaufen? Hahahaha

Und außerdem: der Himmel ohne Flug­zeuge ist ziemlich fantastisch grad; wir müssen anscheinend doch nicht zu jedem Geschäftstreffen um die Welt fliegen, wenn wir skypen können, oder einmal im Monat per Flugzeug Städtereisen tätigen, um uns erfüllt zu fühlen (was hinterher ja sowieso nie der Fall ist) … just sayin’ (Denice Bour­bon is a Star)

Gibt es nicht auch die positive Seite: wie überlebt der Neoliberalismus sein Desaster? Erzwingt die Krise das Grundeinkommen? Öffnet sich gar das Tor zum Kommunismus?

ELISE MORY: Ganze Branchen sind auf Almosen des Staates angewiesen, und nicht wenige werden sich die Frage stel­len, ob es nicht viel einfacher wäre, wenn jede*r ein Grundeinkommen hätte. Meine Anstellung neben der freiberuflichen Tätigkeit sichert mir gerade mein Ein­kommen, denn ich habe keine Ahnung, wann ich wieder eine Konzertgage erhal­ten werde. Noch weniger weiß ich, wann ich wieder mit Menschen aus verschiede­nen Ländern und in verschiedenen Län­dern zusammen etwas tun darf. Denn in diesen Zeiten, wo ständig an die gesell­schaftliche Verantwortung und den Zusammenhalt appelliert wird, ist von internationalen Lösungen noch wenig zu sehen. Am deutlichsten zeigt sich das wie­der einmal im (Nicht)Umgang mit tausen­den geflüchteten Menschen, eingesperrt in unhaltbaren Zuständen, abgewehrt mit »Keine Zeit, wir haben jetzt Krise.«

CHRISTINE SCHÖRKHUBER: Was ich selber gerade tue: Wir haben die virtuelle, Community-basierte Bühne echoraeume. klingt.org ins Leben gerufen. Es gibt dort auch Chats, man kann »zusammensitzen« nach den Veranstaltungen und sich aus­tauschen. Mittlerweile machen zwölf Con­tributors ihre Veranstaltungen dort. Wir haben einen unabhängigen, Open Source-basierten Streamingserver errichtet und versuchen so weit wie möglich, das auch ohne Datenkraken Repräsentanz zu schaf­fen und Kulturarbeit zu leisten. Das Ziel ist, einerseits MusikerInnen weiter Gagen bezahlen zu können und das Kulturleben am Laufen zu halten, andererseits das idealistische Experiment der frühen Tage des Internets wieder neu zu wagen. Com­munity-basierte Projekte sind noch kein Kommunismus – aber herausfordernd genug, und ein wichtiger Schritt.

ANNEMARIE KLINGER: Ich weiß es nicht, ob unsere Gesellschaft kollabieren wird. In vielem, wie dem sozialen Zusam­menhalt, zeigt sie innerhalb Österreichs (noch) ihre Stärke. Allerdings reicht die­ser kaum über Grenzen hinaus. Und blickt man weiter, ist das Bild so erschre­ckend, wie es auch schon vor dieser Krise war – doch wo es noch Kritik gegen eine Abschottung gab, wird sie nun »im Namen der Sicherheit« zur Kenntnis genommen, wie so manches andere. Das ist beängstigend. Es wird sich zeigen, wie stark die Zivilgesellschaft sein kann, wenn sie für Demokratie und Menschen­rechte, für Kultur und Menschlichkeit eintritt. Und welche Rolle dabei nationa­len Regierungen zukommen kann und wird. Wir befinden uns vor einem Para­digmenwechsel – die Welt wird nach der Krise nicht mehr dieselbe sein. Vielleicht ist es eine Chance. (Annemarie Klinger ist Theaterwissenschafterin und Lektorin)

Was denkst du?

MARGOT HRUBY: Ich versuche gerade sehr intensiv gar nicht zu denken. Das gelingt mir aber leider nur schlecht.

DENICE BOURBON: Die Krise sollte das Grundeinkommen erzwingen, aber der Neoliberalismus an der Macht wird diese Idee bis aufs Blut bekämpfen. Ein Wandel wird wahrscheinlich nur kommen, wenn die Massen ihn wie bei der Französische Revolution erzwingen. Wir alle wissen, dass die Menschen (meistens) nur dann für eine Veränderung kämpfen, wenn sie sich persönlich mit den Zielen identifi­zieren können. Wenn also jede_r massiv und persönlich am Arsch ist, weil das kapitalistische System zu bröckeln beginnt, dann hoffe ich, dass sie die Guillotine für Benko und Red Bull herausholen, anstatt sich gegenseitig die Köpfe abzuhacken. Und natürlich: Unter­schätzt niemals den Faktor kollektiver Verweigerung. Verweigern, verweigern, verweigern. So viele von uns wie mög­lich. Sie können uns nicht alle ins Gefängnis werfen.

AA FB share

Zur Wiedereröffnung des Künstlerhauses Wien.

VON EVA BRENNER

Die Schlacht ist geschlagen – nach drei­jähriger Renovierung des ehrwürdigen Künstlerhauses Wien fand das avantgardis­tische ReOPENING mit viel Pomp, hunder­ten Gästen, politischer und anderer Promi­nenz am 6. März statt. KünstlerInnen, Kul­turvermittlerInnen, KulturpolitikerInnen, Kunstaffine und Schaulustige strömten auf den Karlsplatz, wo eine von den Glocken der Karlskirche übertönte Eröffnungsper­formance rosa gekleideter Live Ball-Figuren das »Begräbnis« des selbstverwalteten Künstlerhauses einläuteten. Im Inneren ging es mit den offiziellen Ansprachen weiter, in denen eine ohnmächtige Kultur-Nomenklatura (Ludwig, Lunacek) der politi­schen Kapitulation vor der Privatwirtschaft gratulierte.

150 Jahre Geschichte Vergangenheit

Seit 1868 hatte hier die älteste Künstler­haus-Vereinigung Europas internen Span­nungen und Spaltungstendenzen getrotzt und basisdemokratisch zusammengewirkt, um ihr eigenes Haus mit Wechselausstel­lungen der Mitglieder zu bespielen. In drei­jähriger Umbauzeit ist aus der ehrwürdigen Institution mit 439 Mitgliedern im histori­schen Stil mitten im Herzen der Stadt ein modischer Eventschuppen geworden, finanziert, renoviert und orchestriert von Bautycoon Hans-Peter Haselsteiner und sekundiert von seinem Freund, dem Alber­tina-Direktor Klaus-Albrecht Schröder, der ebendort eine Dependance mit dem Titel Albertina modern errichtet hat, die von nun an die österreichische Kunst nach 1945 im Kontext der internationalen Moderne zei­gen wird.

Die jahrelange Unterförderung der öffentlichen Hand hat zu diesem Ausver­kauf geführt, sodass die KünstlerInnen sich gezwungen sahen, dem Angebot des Kunstmäzens, der das Haus als »devastierte Kaschemme«, »Ratzenburg« und Schande der Stadt verunglimpfte, zuzustimmen. Haselsteiner übernahm also 2015 74 Prozent des Hauses, zahlte nichts für den Standort, investierte 57 Millionen in die Generalsanierung und sagte die Zahlung laufender Betriebskos­ten zu. Ein exzellenter »Deal« für den Strabag-Eigentümer, dessen Firma den Umbau machte, und der so quasi gratis eine überaus attraktive Immobilie Stadt erwarb. Im Gegenzug stellte er Forde­rungen bezüglich künftiger Nutzung, war er doch auf der Suche nach einer Ausstellungsplattform für seine eben aus der Baumax-Pleite zugekaufte Essl-Kunstsammlung, die unter KennerInnen als »äußerst mittelmäßig« gilt (Lore Heuermann).

Die Albertina modern wird künftig das Erd- und Untergeschoss und die angrenzenden Räumen des Seitentrakts bespielen, der seit 1974 experimentelles Theater beherbergte (Künstlerhaustheater, dietheater) und zuletzt unter dem Namen »Brut« heimatlos gewor­den ist, was neben den Protesten der bildenden nun auch den Auf­schrei der darstellenden KünstlerInnen auf den Plan rief, denn bis­her wurde noch kein Ersatzquartier für das »Brut« gefunden.

Die Künstlerhaus-Eröffnungsausstellung »Alles war klar« wurde vom norddeutschen Kurator Tim Voss nicht vorrangig Künstler­haus-Mitgliedern, sondern diversen zeitgenössischen KünstlerIn­nen aus überlassen, in seinen Augen ein Zeichen notwendiger Öff­nung. Als »Paarlauf zweier Ungleicher« bezeichnete der Standard-Kritiker den Umstand, dass bereits auf der neuen Fassade neben der überdimensionalen Albertina modern-Aufschrift die »Künstler­haus Vereinigung«-Schrifttafel kaum sichtbar ist. Im Obergeschoß drängt sich eine Auswahl von Kunstwerken der 25 ausgewählten Künstlervereinigung-Mitglieder in einem einzigen Raum aneinan­a. eine Zeichnung von Lore Heuermann – und wird in ­beigespult. Der Fokus der Ausstellung gehört den Gästen und prä­sentiert 48 Positionen, eine gemischte Palette bunter Collagen, Bil­der, Skulpturen und Installationen, die kaum nachvollziehbare Referenzen zur Geschichte des Hauses aufnehmen. So montierte ­­­­– sie hat aus Baustellen für die neue Wie­ner U-Bahn-Linie Lehm gegraben und daraus Tontafeln gebrannt.

Im zentralen White Cube Eventraum lobte eine mit fake joy spru­delnde Aktrice, Mercedes Echerer, die »gelungene« Renovierung vor zahlreichen Ehrengästen mit den Worten: »Auf diesen Augen­blick haben wir alle jahrelang gewartet!« Dieser peinliche Kniefall vor dem Mäzen wollte vertuschen, was jede/r mit bloßem Auge sehen könnte: Aus den stattlichen Gründerzeiträumen wurden weiß getünchte, charakterlose Ausstellungsräume gemacht, die historischen Parkettböden durch Baumarkt-Billig-Auflagen ersetzt, die holzgetäfelten Flügeltüren von kalten Stahlrahmen, die Decken von hochgezwirbelter Beleuchtungstechnik verkleidet.

Interview mit Künstlerhaus-Mitglied Lore Heuermann (geb. 1937)

Wie beurteilst du als Mitglied des Künst­lerhauses die (un-)»freundliche« Über­nahme durch die Familienstiftung des Baulöwen Haselsteiner. Das Haus war ein­einhalb Jahrhunderte im Besitz der KünstlerInnen-Vereinigung Europas, die jetzt über knapp 26 Prozent verfügt und ihre Aktivitäten auf das Obergeschoss mit knapp 900 Quadratmetern beschränken muss.

LORE HEUERMANN: Ich sag’s mal platt: Früher galt, dass ein Mäzen ein Mäzen ist! Die Medicis waren gebildete Gefühlsmen­schen, sie haben Künstler gefördert, ohne Konditionen zu diktieren. Sie wollten sich sicherlich nicht etwas unter den Nagel rei­ßen.

Haselsteiner behauptet, es gäbe in Wien kein Museum für die zeitgenössische Kunst nach 1945 und er würde nun die­sem Manko abhelfen.

LORE HEUERMANN: In Wahrheit suchte er einen prominenten Ausstellungsort für seine kurz davor erworbene Essl-Sammlung, die er als Dauerleihgabe bis 2044 dem Museum Albertina übergeben hat. Wo bekommt man heute um den Preis einer Renovierung ein so zentral gelegenes Museumsgebäude? Das ist ein unfairer Deal gewesen, auf die Künstler ­Innen wurde dabei keine Rücksicht genom­men.

Albertina-Direktor Schröder wiederum nutzt die Gelegenheit, um für sich eine attraktive Dependance zu schaffen, die mehr als das Doppelte an Ausstellungsflä­che zur Verfügung hat – und erhält nach Hinausdrängen des »Brut«-Performance Zentrums den sog. französischen Salon gratis dazu.

LORE HEUERMANN: Es wirkt nach konzer­tierter Aktion. Obwohl der Kulturauftrag der Albertina die grafische Sammlung sein sollte, wird Schröder nicht müde, sich mit wenig Neues bietenden Mega-Schauen der Österrei­chischen und internationalen Modernen in die Schlagzeilen zu bringen.

Die grüne Kulturpolitikerin Eva Blimlin­ger nennt die Situation ein »Resultat des

Versagens der Kulturpolitik«. Wie hätte ein anderer Weg ausgesehen?

LORE HEUERMANN: Die Stadtpolitik hätte der Künstlerhaus-Vereinigung mehr als lächerliche 600.000 Euro an jährlichen Sub­ventionen und ein Renovierungsbudget gestatten müssen. In diesem Szenario war das Schicksal besiegelt, zumal die Mitglie­der mit internen Streitigkeiten in die Presse kamen.

Der weitaus potentere WG-Partner Albertina modern wird mit ca. 2.500 Qua­dratmetern Ausstellungsfläche und weit höherem Marketing-Etat die Aufmerk­samkeit vollends abziehen. Wie kann die Künstlerschaft als Junior daneben exis­tieren?

LORE HEUERMANN: Die zeitgenössische Kunst hatte es immer schwer in Wien, es ist eine Musik- und Theaterstadt. Hier gab es nie besonders viel Verständnis für die bil­dende Kunst, viele KünstlerInnen darben dahin. Ich beispielsweise habe mir als Künstlerin und alleinerziehende Mutter von drei Kindern eine sehr niedrige Pen­sion erworben, nach einem halben Jahr­hundert Arbeit.

Haselsteiners Vermögen wird auf ca. 1,8 Milliarden geschätzt, er kann sich 57 Millionen ungeschaut leisten. Pathetisch hebt sein Freund Schröder dies als »größte mäzenatische Leistung, die der bildenden Kunst in Österreich nach 1945 zugutekommt«, hervor (Profil 9, 23. 2. 2020). Entspricht das den Tatsachen?

LORE HEUERMANN: Haselsteiner und Schröder folgen ausschließlich Eigeninte­ressen – und die sind wirtschaftlicher Natur. Das verkaufen sie dann als Wohltat für die Kunst. Es geht dabei nicht um Quali­tät, sondern um Quoten, um die Auslas­tungszahlen.

Hat es Proteste der Mitglieder gegen die Übernahmebedingungen gegeben?

LORE HEUERMANN: Es gab unendlich viele Sitzungen und Streitigkeiten. Die jet­zige Lösung wird als »Win-Win«-Situation verkauft, sie ist aber definitiv eine schlechte kulturpolitische Entscheidung. KünstlerInnen sind oft ängstlich und un ­politisch mit ihrem Überlebenskampf beschäftigt, wollen keine Verantwortung übernehmen. Das war in meiner großen Zeit, den 70er Jahren, anders. Ich saß in diversen Kunstbeiräten, und mir ging es um Objektivi­tät und Förderung von Kunst und KünstlerIn­nen.

Hätten die Mitglieder die Neustrukturie­rung ablehnen können?

LORE HEUERMANN: Ich denke ja. Nein-Sagen ist wichtig! Ich habe einmal seinerzeit, wo ich das Geld gebraucht hätte, nein gesagt zu einer Ausstellung in Kärnten unter Jörg Haider. Man muss sich trauen, »nein« zu sagen!

Was bedeutet die Verdrängung des »Brut« und die Ausbreitung der Albertina für die Wiener Kulturszene?

LORE HEUERMANN: Für mich hat sowohl Theater wie Kino – letzteres darf ja bleiben – eine echte Bereicherung im Künstlerhaus dar­gestellt. Der unfreiwillige Auszug des Thea­ters, ein experimentelles Performance Zen­trum, ist sehr schade – damit wird diese Kunstform wieder an die Peripherie ver­drängt. Schröder ist ein genialer Selbstdarstel­ler, aus der BACA kommend, der die etablierte Moderne in touristischen Jubiläums-Ausstel­lungen abfertigt.

Du hast europaweit, in Asien oder auch im Nahen Osten ausgestellt. Du bist mit knapp 83 Jahren immer noch ungemein aktiv. Hast du als Künstlerhaus-Mitglied das Gefühl, anerkannt zu sein im Kanon der Wiener ZeitgenossInnen?

LORE HEUERMANN: Nein, ich bin eigentlich überhaupt nicht »präsent«. Ich mache zwar jedes Jahr Ausstellungen, österreichweit und im Ausland – aber die Berichterstattung ist zumeist enden-wollend. Museen bevorzugen es, etwas zu zeigen, das bereits Resonanz hat. Wer nicht ständig in den Medien vorkommt, ist nicht vorhanden.

Von nun an wird es weniger Platz, Mitspra­che und mediale Bedeutung für die selbst­bestimmte Kunst im Künstlerhaus geben – was ist deine Hoffnung für die Zukunft?

LORE HEUERMANN: Dass wir, die KünstlerIn­nen, nicht die Lust am Engagement verlieren.

Danke für das Gespräch.

AA FB share

Unpassend zum 75. Jahrestag der Befreiung wurde eine Jahrzehnte alte Forderung der KPÖ erneut abgelehnt. Die Entscheidung traf ein Geheimausschuss der Stadt Wien, basierend auf einem geheimen Gutachten.

Von Manfred Mugrauer

Die KPÖ startete erstmals im Jahr 1976 die Initiative, eine öffentliche Fläche oder ein Wohnhaus in Wien nach ihrem langjährigen Vorsitzenden Johann Koplenig (1891–1968) zu benennen. Dieser stand von 1924 bis 1965 an der Spitze der Partei. Als die KPÖ im April 1945 gemeinsam mit SPÖ und ÖVP die Zweite Republik mitbegründete, gehörte Koplenig als Staatssekretär ohne Portefeuille der Provisorischen Regierung an. Bis 1959 war er Abgeordneter zum Nationalrat. Im Juli 1977 begründete der damalige Wiener Bürgermeister Leopold Gratz (SPÖ) seine Ablehnung damit, dass noch mehr Zeit zu den Jahren 1945 und 1955 vergehen müsse, bis ein solcher Schritt möglich werde. Offenbar ist auch im Jahr 2020, exakt 75 Jahre nach der Befreiung Österreichs vom Faschismus, noch nicht genügend Zeit vergangen, eine entsprechende Ehrung Koplenigs umzusetzen.

Beschlüsse der Bezirksvertretung

Zunächst kam im Jänner 1988 – anlässlich des bevorstehenden 50. Jahrestags des »Anschlusses« Österreichs an das Deutsche Reich – Bewegung in diese Angelegenheit: Damals fand ein Antrag der beiden grünalternativen Bezirksräte von Wien-Brigittenau, eine Verkehrsfläche nach Johann Koplenig zu benennen, die Zustimmung aller fünf Parteien der Bezirksvertretung, also – neben SPÖ, Grünalternativen und KPÖ – auch jene von ÖVP und FPÖ. 30 Jahre später, am 21. November 2018, wiederholte sich dieses Procedere: Mit den Stimmen von SPÖ, Grünalternativen, NEOS und einer Bürgerliste (die KPÖ bzw. Wien Anders sind in der Brigittenauer Bezirksvertretung nicht vertreten) wurde ein Antrag beschlossen, einen Teil des Höchstädtplatzes nach dem KPÖ-Politiker zu benennen. Dem vorausgegangen war ein beharrliches Lobbyieren der KPÖ Brigittenau für den »Johann-Koplenig-Platz«.

Ein wesentlicher Unterschied der Initiative des Jahres 1976 zu jenen von 1988 und 2018 besteht darin, dass es der KPÖ zunächst um eine Umbenennung des Höchstädtplatzes ging, wo sich bis 1992 die Parteizentrale befand. Der Platz erinnert an den Ort jener Schlacht, in der Prinz Eugen 1704 im Spanischen Erbfolgekrieg über die Truppen Frankreichs und Bayerns siegte. Da ein solcher Schritt jedoch mit Kosten für die AnrainerInnen verbunden wäre, ist eine Umbenennung einer Verkehrsfläche in Wien de facto nicht durchzusetzen. Aus diesem Grund zielten die späteren Beschlüsse der Bezirksvertretung darauf ab, nur einen Teil des Höchstädtplatzes – nämlich jenen, auf dem sich ein Denkmal für Koplenig befindet – nach ihm zu benennen. Mit einer solchen Maßnahme wären keine Adressänderungen und keine Neubeschilderungen verbunden.

Sowohl 1988 als auch 2018 wurde als Begründung für die beabsichtigte Benennung hervorgehoben, dass Koplenig als Vizekanzler der Provisorischen Regierung ein Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 war und darin auch die Verdienste der KPÖ im antifaschistischen Widerstand und um die österreichische Unabhängigkeit zum Ausdruck kämen. Nichtsdestoweniger folgten in beiden Fällen wie auf Knopfdruck antikommunistische Reflexe: 1988 warnte der damalige ÖAAB-Landessekretär vor einer »Verewigung des Möchtegern-Stalins« und empfahl der SPÖ, sich vom »Antifaschismus-Weihrauch« nicht »völlig benebeln zu lassen«. 30 Jahre später rückten mit Andreas Unterberger und Christoph Ortner zwei altbekannte Speerspitzen der Reaktion aus, um Koplenig eine Mitverantwortung »für die millionenfachen Morde des Stalinismus« anzulasten. 1988 wie 2018 wurde die Legende vom versuchten »Kommunistenputsch« im Oktober 1950 aufgewärmt, für den Koplenig verantwortlich gemacht wurde. »Alle Linken sind gut und alle anderen sind böse und Nazi«, ließ Unterberger aus seinem politischen Online-Paralleluniversum Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) als dessen angebliches politisches Motto ausrichten.

Stadt versus Bezirk

Eine weitere Parallele zwischen 1988 und heute besteht zuletzt darin, dass die Brigittenauer Initiative jeweils am Straßenbenennungsausschuss der Stadt scheiterte. So wurde Ende Februar dieses Jahres bekannt, dass der Unterausschuss für Verkehrsflächenbenennungen den Antrag der Bezirksvertretung des 20. Bezirks vom November 2018 abgelehnt habe. Die Öffentlichkeit wurde nur deshalb über diesen Beschluss in Kenntnis gesetzt, weil Bezirksvorsteher Hannes Derfler (SPÖ) am 19. Februar eine diesbezügliche Anfrage in der Sitzung der Bezirksvertretung zu beantworten hatte.

Die Anfrage kam vom parteifreien Bezirksrat Erwin Krammer (bis 2017 NEOS), der es sich aufgrund seiner politischen Bedeutungslosigkeit zur Lebensaufgabe gemacht hatte, gegen den geplanten Koplenig-Platz ins Feld zu ziehen. Ende November 2018 mobilisiere er die »Kronen-Zeitung« und kritisierte Rot-Grün dafür, »kommunistisch-marxistischen Massenmördern« Denkmäler setzen zu wollen. In den folgenden Monaten packte er im Verlauf einer Pressekampagne sein gesamtes Oberstufenwissen über den Kommunismus aus, mit bemerkenswertem Mut zur Lücke. So entblödete er sich nicht, Koplenig dafür anzuprangern, bis 1945 in Moskau »in einer warmen Stube« gesessen zu sein und Beiträge für Radio Moskau gesprochen zu haben. Mit diesem Vorwurf zielte der Sales Manager einer großen österreichischen Bank darauf ab, auf das angeblich privilegierte Los der antifaschistischen ExilantInnen und Vertriebenen gegenüber ihren kriegsgebeutelten Landsleuten anzuspielen. Dass Koplenig Vorsitzender jener Partei war, die im antifaschistischen Kampf den größten Blutzoll zu entrichten hatte, und er in seinen Radiobeiträgen zum Widerstand gegen den Hitlerfaschismus aufrief, vergaß Krammer zu erwähnen.

Empört reagierte die KPÖ Brigittenau auf die bekannt gewordene Ablehnung durch das Rathaus. Bürgermeister Ludwig habe mit dieser Aktion seinen Parteifreund Derfler »auflaufen« lassen, so die kommunistische Bezirksorganisation in einer ersten Stellungnahme. Dem Vernehmen nach hatte die Rathaus-SPÖ gegenüber dem Brigittenauer Bezirksvorsteher ihr Einverständnis signalisiert, nach Jahrzehnte langer Obstruktion nun doch einen Teil des Höchstädtplatzes nach Johann Koplenig zu benennen. Andernfalls ist es auch kaum erklärbar, dass die SPÖ Brigittenau selbst im November 2018 einen dahingehenden Antrag in der Bezirksvertretung einbrachte.

Geheimsache Koplenig

Was die SPÖ letztlich zu einem Umdenken bewog, bleibt ebenso rätselhaft wie mehrere andere Umstände der Ablehnung. Fest steht, dass die Benennung neuer Verkehrsflächen vom Gemeinderatsausschuss für Kultur und Wissenschaft beschlossen wird. Dem gehen ein Erhebungsverfahren der Kulturabteilung (MA 7) der Stadt Wien und eine Vorberatung im Unterausschuss für Verkehrsflächenbenennungen voraus. Eben dieser Ausschuss hat sich nun gegen Koplenig ausgesprochen, wobei laut einem Online-Bericht der Gratiszeitung »Heute« ein Gutachten der MA 9 (Wienbibliothek) ausschlaggebend gewesen sein soll. In diesem Papier wird wörtlich zu bedenken gegeben, dass Koplenig »zeit seines Lebens die totalitäre Ideologie des Kommunismus sowie die Politik der Sowjetunion auch unter der Terrorherrschaft Stalins bedingungslos unterstützt« habe und – horribile dictu – sein Ziel die »Diktatur des Proletariats« gewesen sei. Angesichts der Tatsache, dass von den HistorikerInnen der Wienbibliothek ein Minimum an wissenschaftlichem Anspruch erwartet werden kann, drängte sich die Frage auf, ob es sich hierbei tatsächlich um die offizielle Begründung der Ablehnung durch den Unterausschuss handelt, oder ob diese erstaunlich Argumentation womöglich durch andere Passagen im genannten Gutachten relativiert wird. Dies herauszufinden war jedoch trotz intensiver Recherchen genauso unmöglich wie Näheres über den Unterausschuss selbst in Erfahrung zu bringen.

Weder aus der Informationsdatenbank des Wiener Landtages und Gemeinderates noch in den zugänglichen Protokollen lassen sich Informationen darüber gewinnen, wie sich der Unterausschuss für Verkehrsflächenbenennungen konkret zusammensetzt und welche Beschlüsse er wann genau gefasst hat. Eine Anfrage im Büro der zuständigen Stadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ), wieviele stimmberechtige und beratende Mitglieder ihm angehören und wie genau das Abstimmungsergebnis über den Johann-Koplenig-Platz lautet, hat immerhin ergeben, dass zehn (namentlich nicht genannte) Mitglieder aller im Wiener Gemeinderat vertretenen Parteien dieses Gremium formieren und dessen Entscheidung einstimmig – also auch mit den Stimmen von SPÖ und Grünen – gefasst worden sei.

Darüber hinaus kann das am 5. März ausgefertigte Schreiben der zuständigen Abteilungsleiterin und der Leiterin des Referats »Kulturelles Erbe« als Musterbeispiel einer wenig informierten und wenig konstruktiven – und damit letztlich auch ineffizienten – Verwaltung gelten, wurde darin doch erschöpfend darüber informiert, aus welchen Gründen eine »Umbenennung« des Höchstädtplatzes grundsätzlich nicht in Frage komme, obwohl der zuständigen Behörde bekannt sein sollte, dass der Antrag der Brigittenauer Bezirksvertretung nicht auf eine Umbenennung, sondern auf die Benennung einer Teilfläche abzielte. Insofern gingen sämtliche Belehrungen über die »weitreichenden Konsequenzen für die betroffenen BewohnerInnen und Unternehmen« ebenso am Kern der Sache vorbei wie der groteske Hinweis, dass »Firmen die komplette Korrespondenz und Aufschriften auf Firmenfahrzeugen ändern müssten«. Kein Wort wurde jedoch über das Gutachten der MA 9 verloren, um dessen Übermittlung gebeten worden war, um eine transparente Auseinandersetzung über diese zu einem Politikum gewordene Angelegenheit zu ermöglichen. Einzuwenden wäre ferner, dass das Procedere einer Teilbenennung eines Platzes in Wien bereits erprobt wurde, etwa beim Helmut-Zilk-Platz als Teil des Albertinaplatzes, also selbst rein formale Ablehnungsgründe ins Leere führen.

Der Eindruck, dass geschichtspolitisch weitreichende Entscheidungen in Wien von geheimen Ausschüssen getroffen werden, wurde in weiterer Folge bestätigt. Die Sitzungen der Gemeinderatsausschüsse und -unterausschüsse seien nicht öffentlich, weshalb „auch deren Beschlüsse, wie die Einrichtung eines Unterausschusses für Verkehrsflächenbenennungen sowie dessen Mitglieder nicht öffentlich“ seien, wie die zuständige Referatsleiterin und Abteilungsleiterin informierten. Die konkrete Nachfrage, ob sich die in »heute.at« zitierte Begründung tatsächlich im Gutachten der MA 9 finden lasse, blieb erneut unbeantwortet, weshalb weiter der Verdacht im Raum stehen bleibt, dass die konsultierten ExpertInnen der MA 9 gut beraten wären, das aktuell verordnete Home-Office dafür zu nutzen, online einen Taferlklassler-Grundkurs »Politische Bildung« zu absolvieren.

Eine Mauer des Schweigens wurde jedoch nicht nur vom Wiener Rathaus aufgebaut: Hatten sich die Brigittenauer Bezirksgrünen im November 2018 noch über den antikommunistischen Fanatismus von Bezirksrat Krammer lustig gemacht und die antifaschistischen Verdienste Koplenigs betont, war dem Grünen Rathausklub keine Stellungnahme zu entlocken, ob und warum Koplenig im Unterausschuss die Zustimmung verweigert wurde. Dasselbe gilt für den Sinneswandel der SPÖ. Erübrigt hatte sich eine Anfrage bei den NEOS, die zwar den Beschluss der Brigittenauer Bezirksvertretung mitgetragen hatten, in einschlägigen Facebook-Postings aber frühzeitig durchklingen ließen, einem Koplenig-Platz im Kulturausschuss letztlich nicht zuzustimmen. Von der Bezirksvertretung wiederum war nicht in Erfahrung zu bringen, ob und mit welcher inhaltlichen Begründung der Unterausschuss seine Ablehnung in Richtung Brigittenau kommunizierte. Zuletzt war auch die »Heute«-Redaktion zu keiner Auskunft darüber bereit, auf welcher Grundlage wörtlich aus einem nicht öffentlichen und von der MA 7 für geheim erklärten Gutachten zitiert werden konnte. In Summe läuft die Geheimniskrämerei darauf hinaus, eine seriöse Auseinandersetzung über diese geschichtspolitisch brisante Ablehnung des Koplenig-Platzes zu verhindern, obwohl im 75. Jahr der Befreiung Österreichs zweifelsohne ein öffentliches Interesse daran vorhanden sein sollte.

Verweigerte Anerkennung

Es greift dennoch zu kurz, allein plumpen Antikommunismus für die Ablehnung des Johann-Koplenig-Platzes verantwortlich zu machen. Peter Autengruber, Herausgeber des Lexikons der Wiener Straßennamen, hat in einem aktuellen Beitrag in den »Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft« insgesamt 41 Verkehrsflächen festgestellt, die in Wien nach KommunistInnen benannt wurden. Bemerkenswerterweise fanden 21 – also mehr als die Hälfte – der bisherigen Benennungen in den letzten 20 Jahren statt, was insgesamt von einer Entspannung des in den Jahrzehnten davor dominierenden Antikommunismus zeugt. Nicht zu übersehen ist jedoch die Tatsache, dass fast alle dieser Verkehrsflächen nach kommunistischen Opfern der NS-Justiz und nach solchen KommunistInnen benannt wurden, die sich in weiterer Folge wieder von der KPÖ abwandten. Bei diesen Personengruppen findet der im Gutachten genannte Maßstab einer »totalitären Ideologie« offenbar keine Anwendung. Für sie gilt nicht, dass die Haltung zur Sowjetunion zum wichtigsten Entscheidungskriterium erhoben wird.

Demgegenüber würde ein Platz für Johann Koplenig, den damaligen Vorsitzenden und wichtigsten Repräsentanten der Partei, eine Anerkennung nicht nur des antifaschistischen Widerstands der KPÖ, sondern auch ihrer Aufbauleistungen nach 1945 bedeuten. Vor einem solchen Schritt schreckt die SPÖ auch im Jahr 2020 weiterhin zurück. Die KPÖ war die einzige politische Kraft, die im März 1938 zum Kampf für die Wiederherstellung eines selbstständigen demokratischen Österreich aufrief. In den folgenden Jahren trug sie die Hauptlast des antifaschistischen Widerstandskampfes. Folgerichtig trug die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, in der der »Anschluss« für null und nicht erklärt wurde, auch die Unterschrift ihres Vorsitzenden Koplenig. Wenn dieser Tage der Unterzeichnung dieses Gründungsdokuments der Zweiten Republik gedacht wird, werden sämtliche im Rathaus vertretene Parteien daran erinnert werden müssen, dass sie der KPÖ geradezu demonstrativ eine Anerkennung ihrer geschichtlichen Leistungen verwehrt haben.

Weblinks:

https://www.meinbezirk.at/brigittenau/c-lokales/wirbel-um-platzumbenennung-nach-einstigem-kpoe-chef-johann-koplenig_a3150684

https://www.heute.at/s/spo-grune-derfler-krammer-brigittenauumbenennung-rathaus-lehnt-spo-wunsch-ab-46232537

https://www.wienerzeitung.at/meinung/kommentare/2051863-Kein-Platz-fuer-Koplenig.html

http://www.kpoe.at/innenpolitik/landespolitik/2020/die-kalten-krieger-im-wiener-rathaus

AA FB share

Ist das moderner Kannibalismus, ohne sich schmutzig zu machen? Die psychiatrischen und psychosomatischen Rehas und Stationen sind voll mit diesen Menschen – im Volks­mund heißt es Burnout, aber es ist viel mehr als das.

VON MARTINA WITTELS

1. Wer ist krank? Ich? Krank bin ich nicht, das ist nur der Körper, der nicht mehr so möchte, wie ich. Das ist alles. Ich bin fleißig, so war ich immer, eigentlich seit ich denken kann. Niemand hat je gefragt, wie das alles zu schaffen sei. Ich bin mit zehn Jahren schon in der Kälte im Hof gestanden und habe Holz gehackt oder Wäsche gewaschen. Das war keine Frage von Können, das war eine Frage von Wat­schen oder keine Watschen. Aber jetzt bin ich ein Nichts, denn der Körper macht nicht mehr mit. Ich will ja und ich könnte auch, aber er, der Falott, macht schlapp. Seitdem fühle ich mich nutzlos und muss weinen, wenn ich daran denke, was ich frü­her mühelos in derselben Zeit erledigt habe. Zu Hause hat mein Mann, weil ich ihn gebeten habe, den Geschirrspüler auszu­räumen, zu mir gesagt: »Ich bin nicht Deine Putze! – na ja, irgendwie hat er ja recht. Er hat nie im Haushalt geholfen, warum sollte er jetzt wissen, wie das geht?

2. Ich arbeite in der Reinigung und habe zehn Studentenheime betreut. Das hat immer perfekt geklappt. Ich habe meine Mitarbeiterinnen gut koordiniert und der Chef hat zu Weihnachten regelmä­ßig das höchste Lob über uns ausgeschüt­tet. In den Sommermonaten haben wir die Zimmer der Studentenheime an Gäste ver­mietet, da konnte ich mehr Personal ein­stellen, und auch das hat gut geklappt. Alles hat funktioniert wie am Schnürchen.

Ich bin aus Bosnien und vor dem Krieg schon nach Österreich gekommen. Ein Neffe von mir ist im Krieg getötet worden, er war erst sieben Jahre, aber sonst habe ich keine Menschen aus meinem näheren Umfeld verloren. Ja, von Nachbarn und Bekannten gab es Berichte, aber nicht innerhalb meiner Familie.

Ich habe zwei Kinder und habe fast durchgehend Vollzeit gearbeitet, es hat mir Freude bereitet und ich habe trotzdem alles für die Familie gegeben. Mein Mann wollte sich scheiden lassen, seit Jahren spricht er schon davon. Ich habe die Familie stets hochgehalten und hätte alles für ihren Fortbestand getan, aber vor ein paar Wochen hat es mir gereicht und ich habe mir die Scheidungspapiere geholt und sie unterschrieben. Jetzt sind wir geschieden und ich bin traurig.

Seit ein paar Monaten bin ich krankge­schrieben. Mein Chef hat seine Frau zu sei­ner Stellvertreterin gemacht, seitdem ist sie mir ständig in die Quere gekommen und hatte an Abläufen, die vorher für alle gepasst haben, etwas auszusetzen. Sie hat begonnen, mir überall dreinzureden, sie wollte sich profilieren. Mir haben die Worte gefehlt, auch in Bosnisch. Ich habe mich nicht verteidigen können und habe eines Tages unter Tränen meinem Chef die Schlüssel – das waren viele, ich hatte Schlüssel für alle Studentenheime und für alle Zimmer – auf den Tisch gelegt und bin gegangen. Seitdem hat er versucht, mich zurückzuholen, aber er hätte nichts an der Situation mit seiner Frau geändert. Ich kann das nicht. Ich habe sehr viel gearbei­tet und ich habe sehr gut gearbeitet. Jetzt kann ich nicht mehr. Ich schlafe schlecht, ich bin traurig, nichts interessiert mich mehr und ich bin mutlos geworden. Das war ich nie, ich war immer eine starke Frau!

3. Ich war nach der Umschulung in der Altenbetreuung tätig. Da war ich schon 38 Jahre, als ich im Heim begonnen habe, und ich habe die alten Menschen geliebt. Sie brauchen Schutz und ich redete gerne mit ihnen, ich hörte ihnen gerne zu, sie haben so viel erlebt und so viel Erfah­rung, und nun welken sie dahin. Sie brau­chen unsere Anerkennung. Aber ich konnte nicht länger bei meinen Alten stehen blei­ben und ihnen meine Aufmerksamkeit schenken, denn ich musste jeden Handgriff dokumentieren und mich rechtfertigen, wenn ich zum Waschen statt neun Minuten zwölf gebraucht hatte. Stellen Sie sich das vor. Neun Minuten zum Waschen eines ganzen Menschen. Sie können erahnen, wie das abgelaufen ist. Und dann kam die Che­fin, eine 36-jährige Madame, die aufsteigen wollte und der es nur wichtig war, die Vor­gaben ihrer Vorgesetzten zu erfüllen. Sonst wär’s ja auch mit dem Aufstieg vorbei gewesen. Manchmal war sie sogar ganz nett und sagte, sie verstehe schon, dass es nicht zu schaffen sei, aber die Vorgaben seien eben so und basta. Wer das nicht einsehe, könne ja gehen. Die hat leicht lachen mit ihren 36 Jahren, aber ich, was soll ich machen, ich bin jetzt 54! Wohin soll ich wechseln? In ein anderes Heim, in dem es genauso ist wie hier? Manchmal geraten ganz junge Menschen in die Altenpflege, die lachen anfangs viel und scherzen mit den Alten, aber die verstehen das gar nicht, ist ihnen alles zu schnell, zu verschieden. Beim dritten Wochenende, an dem jemand von den Jungen einspringen musste, weil eine Kollegin erkrankt ist, sind die wieder weg. Klar, die lassen sich ihre Freizeit nicht durch den Job vermasseln. Ich habe zu allem Ja und Amen gesagt und habe die Not der anderen verstanden, auch die der Che­fin. Immer war ich die erste, die sie anrief, wenn jemand ausfiel, und nie habe ich sie im Stich gelassen. Das habe ich 16 Jahre durchgehalten. Mein Mann und meine Kin­der haben oft gefragt, ob ich nicht weniger arbeiten wolle, aber wer hätte den Kredit abbezahlt? Heute sind wir schuldenfrei. Dann habe ich einen Bandscheibenvorfall bekommen mit rasenden Schmerzen im Bein. Ich habe wirklich nicht mehr können. Zwei Tage habe ich es noch mit Schmerz­mittel versucht, aber am Abend habe ich geweint, so weh hat das getan. Dann bin ich in Krankenstand gegangen und habe Phy­siotherapie angefangen. In der dritten Woche habe ich einen Brief bekommen – die Kündigung. Seitdem erhole ich mich nicht mehr. Ich weine und weine, ich kann es einfach nicht fassen. Nach 16 Jahren mit all meinem Einsatz und meiner Hilfsbereit­schaft, nach all den Nachtdiensten, für die ich eingesprungen bin. Kein persönliches Wort – ein Zweizeiler – Ende.

* * *

Drei Geschichten, die Auswirkungen von Dauerbelastung spiegeln. Das menschliche Stresssystem ist ein uraltes und es hat sich entwickelt, um das Überleben zu sichern: Angriff, Flucht oder Erstarrung. Mehr gibt es nicht, mehr braucht es nicht. Die Menschheit hat mit diesen drei Fähigkeiten überlebt, lange bevor das Großhirn wach­sen konnte. Nicht gefressen zu werden, nicht aus den Bäumen zu fallen und sich verschiedensten äußeren Bedingungen anzupassen – diese waren die wesentlichen Leistungen. Die kürzeste Zeit in der Menschheitsentwicklung fürchten sich Menschen vor Vorgesetzten und werden durch die Zeitmangel gedreht. Sie haben den Kampf der Unterdrückten um Gerech­tigkeit abgeschrieben und bangen um ihre Zukunft, mit allem Reichtum, Konsum, Wohlstand und einem funktionierenden Sozial- und Gesundheitssystem. Dauerhaf­ter Stress ist dennoch nichts, womit der Körper zurechtkommt, ohne dauerhaft Schaden zu nehmen.

Die Bereitstellung von vermehrter Ener­gie, um ein Projekt oder eine besondere Arbeitsaufgabe zu schaffen, setzt voraus, dass es sich um einen begrenzten Zeitraum handelt und Aussicht auf Bewäl­tigung besteht. Nach Vollendung stellt das Belohnungssystem Dopamin zu Verfügung; es durchflutet das Gehirn und ein Gefühl von Sicherheit und Zufriedenheit stellt sich ein. Danach kann das System seine zusätzlichen Energiereaktoren herunterfahren und sich erholen.

Geht man in eine Bar und bestellt Moji­tos, wird man den Barkeeper beobachten können, wie er mit einem Holzklöppel den Limetten zu Leibe rückt, um damit den köstlichen Saft aus ihnen zu stampfen. Er würde niemals für den nächsten Drink die­selben Limetten nochmals auszupressen versuchen. In der heutigen Arbeitswelt, besonders in den Bereichen, in denen wenig ausgebildete Frauen arbeiten, wird hingegen versucht, immer noch ein paar Lebenstropfen, Leistungstropfen aus den bereits Erschöpften herauszuquetschen. Und sie sind willig, sie wollen den Lebens­saft hergeben unter allen Umständen unter Aufwendung der unmenschlichsten Kraft, denn es ist das, was von ihnen verlangt wurde und wird und was sie von sich selbst erwarten: alles zu schaffen, gleichgültig, wie schwer und unmenschlich der Aufwand sein mag.

Bei dauerhaft anhaltendem Stress – Aktivierung des sympathischen Nerven ­systems – wird das Regulationssystem zwischen Anspannung und Entspannung dereguliert. Verschiedene Hormone stellen die Energie fürs Überleben bereit, aber es kommt nicht zur Flucht, es kommt nicht zum Kampf, diese Reaktionen werden der gesellschaftlichen Norm geopfert – sicher zu Recht, sonst gäbe es Mord und Totschlag –, aber es kommt dadurch zu keiner Entladung dieser massiven Mobilisierung von Kraft und muskulärer Anspannung. Die Reaktion, die in unserer Gesellschaft sehr gut erhalten blieb, ist die Erstarrung – das Totstellen. Nach jahrelangen übergroßen Anstrengun­gen, dem Druck standzuhalten, zu funktio­nieren und das Erwartete zu »bringen«, saust die nervliche Übererregung ins Gegen­teil – in eine parasympathische Starre –, und die Menschen fühlen sich wie tot, leer, erschöpft, fühllos, wie Hüllen, innerlich auf­gefressen. Ist das moderner Kannibalismus, ohne sich schmutzig zu machen?

Die psychiatrischen und psychosomati­schen Rehas und Stationen sind voll mit diesen Menschen – im Volksmund heißt es Burnout, aber es ist viel mehr als das. Es ist eine potentielle Lebensbedrohung, denn im Körper kommt es zu konstant am Köcheln gehaltenen Entzündungsreaktionen, zur Schwächung des Immunsystems, zu Dys ­regulation von Blutdruck und Puls, und dies führt wiederum zu vielen anderen Erkran­kungen. Belastungen sind wie Samenkörner, die auf einen fruchtbaren oder weniger fruchtbaren Boden fallen und dort entspre­chend der Vorbelastungen und der aktuel­len Bedingungen aufgehen, wuchern oder begrenzt werden können. So schrecklich die Auswirkungen des COVID 19 Virus ist, die gesellschaftliche Ruhe, die es bewirkt, ist wohltuend. Leider wird nachher das Schwungrad doppelt und dreifach so schnell gedreht werden, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Aber vielleicht, wenn die Qua­rantäne noch länger dauert, können sich einige erschöpfte Menschen jetzt gerade erholen.

Dr. Martina Wittels, Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin, Fachärztin für psychosomatische und psychotherapeutische Medizin (in D), arbeitet im Kardinal Schwarzenberg-Klinikum im Pongau.

AA FB share

Seelisches Leid und der Wunsch nach einem gelingenden Leben.

VON EVA LEUTNER

Das Leben hierzulande als psychisch kranker Mensch ist ein individuelles Projekt, das Großteils von Stigma und Scham geprägt ist. In vielen Fällen sind manifeste Armut, Diskriminierung und Exklusion die Folge. Mit Manfred Lütz bleibt zu ergänzen: »Wenn man als Psychiater und Psychotherapeut abends Nachrichten sieht, ist man regelmäßig irritiert. Da geht es um Kriegshetzer, Terroristen, Mörder, Wirtschafts­kriminelle, eiskalte Buchhaltertypen und schamlose Egomanen – und niemand behandelt die. Ja, solche Figuren gelten sogar als völlig normal. Kommen mir dann die Menschen in den Sinn, mit denen ich mich den Tag über beschäf­tigt habe, rührende Demenzkranke, dünnhäu­tige Süchtige, hochsensible Schizophrene, erschütternd Depressive und mitreißende Mani­ker, dann beschleicht mich mitunter ein schlim­mer Verdacht: Wir behandeln die Falschen! Unser Problem sind nicht die Verrückten, unser Problem sind die Normalen!«1

Vergangenheit wissen, um Gegenwart zu begreifen

Die Beziehungen von Menschen, Organi­sationen und Institutionen werden über­wiegend von den Interessen derjenigen bestimmt, die über Kapital und Macht verfügen.

Die Geschichte der Versorgung von psy­chisch kranken Menschen legt, so wie das in allen gesellschaftlichen Bereichen der Fall ist, die jeweiligen Machtverhältnisse und die damit verbundenen Werthaltun­gen offen.

Vor der Zeit der Aufklärung wurden die »Irren« in »Tollhäusern« untergebracht und mit Eisenketten an Pritschen gefesselt. Mit der Aufklärung und ihrem zentralen Begriff der »Vernunft« setzte sich langsam die Idee durch, dass Irresein heilbar ist, die Rückführung der »Unvernünftigen« zur Vernunft schien machbar. Die Verrückten wurden als kranke Menschen anerkannt, die einer ärztlichen Behandlung bedürfen, Gewaltanwendungen an ihnen wurden nachweislich reduziert.

Mit dem Übergang zum industriellen Zeitalter änderten sich auch die Prioritäten staatlicher Fürsorgepolitik. Die Separation der psychisch kranken Menschen von den »Normalen« war die neue Stoßrichtung, die häusliche Betreuung wurde durch die zunehmende Urbanisierung erheblich schwieriger. Die Folge war eine perma­nente Überbelegung der Irrenhäuser, die letztendlich in der Anstaltspsychiatrie endete. Die Behandlung der Menschen erfolgte also außerhalb ihres sozialen Umfeldes, die Konsequenzen dieser Politik, dieses separierenden und verwahrenden Charakters der Krankenbehandlung, ist bis heute eine wesentliche Grundlage für Stigma und Diskriminierung.

Bereits vor dem 1. Weltkrieg wuchsen zarte Pflänzchen einer »Sozialen Psychia­trie«, deren VertreterInnen dafür plä­dierten, Unterstützungsmaßnahmen auch gemeindenah, außerhalb der Anstalten auf­zubauen. Durch den Krieg rissen diese reformerischen Ansätze ab. Die von den Herrschenden eingeforderte »Gefechtsbe­reitschaft für den Krieg« befeuerte Kon­zepte über die Nutzlosigkeit von psychisch kranken und behinderten Menschen, Sozi­aldarwinismus und Degenerationslehre waren Futter für die sich ausbreitende Menschenfeindlichkeit.

Das nahmen die NationalsozialistInnen begierig auf und setzten es mit mörderi­scher Konsequenz zuerst durch Zwangsste­rilisierungen und dann durch tausende Morde im Rahmen des »Gnadentoderlas­ses« um.

Aktuelle Herausforderungen

Am 26. September 2008 wurde die »UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« von Österreich ratifi­ziert. Österreich hat sich damit verpflich­tet, diese Bestimmungen umzusetzen.

Der zentrale Begriff dieser Konvention ist »Inklusion«. Inklusion ist vorwiegend eine Anpassungsleistung der Gesellschaft, während sich beim Integrationskonzept der Mensch an die vorhandenen Struktu­ren anzupassen hatte. Es distanziert sich von einem paternalistisch orientierten Fürsorgegedanken. Dieses Konzept sollte aus meiner Sicht für alle Menschen gültig sein, nicht nur für Menschen mit Behinde­rung. Es geht letztendlich um eine Akzep­tanz der Vielfalt des Seins.

Am Arbeitsmarkt hat sich diese österrei­chische Verpflichtung zur UN-Konvention jedoch noch nicht herumgesprochen: Trotz Zeiten der Hochkonjunktur waren Menschen mit Behinderungen bzw. auch Menschen mit gesundheitlichen Vermitt­lungseinschränkungen deutlich häufiger und länger von Arbeitslosigkeit betroffen als Menschen ohne diese Handicaps.

Und trotz dieser Tatsachen werden aktu­ell arbeitslose Menschen aufgrund ihrer Vermittlungswahrscheinlichkeit vom AMS mittels Algorithmus unterteilt und unter­schiedlich behandelt: Klasse A (rasch ver­mittelbare Servicekunden), Klasse B (Betreuungskunden mit mittleren Chan­cen) sowie Klasse C (Beratungskunden, die schwer vermittelbar sind). Von der Eintei­lung abhängig ist dann, welche AMS- Fördermaßnahmen – etwa Qualifizierungs­kurse – gewährt werden. So eine Vor­gangsweise geht eindeutig auf Kosten von Menschen mit Behinderungen, insbeson­dere von Menschen mit psychischen Pro­blemen. Sie sind überwiegend in die Klasse C eingestuft, obwohl sie nur nachweislich dann in der Arbeitswelt wieder Fuß fassen können, wenn sie durch geeignete Trai­ningsangebote in einer wertschätzenden Atmosphäre und mit Hilfe des unendlich wertvollen Faktors Zeit Stabilität und Selbstsicherheit wiedererlangen. Vor der Entscheidung, dieses System einzusetzen hat, keine Evaluierung der Auswirkungen stattgefunden. Die Folgen tragen die Betroffenen.

Neben Inklusion sind für Menschen mit psychischen Erkrankungen »Empower­ment und Recovery« zentrale Konzepte. Empowerment meint eine Haltung von ProfessionistInnen, die ermöglicht, dass psychisch kranke Menschen Würde, Stärke, Kraft und Mut wiedererlangen. Das ist nicht das Ergebnis einer gelungenen Therapie, sondern der mutigen Auseinan­dersetzung der betroffenen Menschen mit sich und ihrer Erkrankung. Das funktio­niert jedoch nur, wenn diese Professionis­tInnen im Rahmen von flachen Hierar­chien in den Dienstleistungsbetrieben sel­ber ein größtmögliches Maß an Transpa­renz und Entscheidungskompetenzen erfahren.

Recovery meint »einen persönlichen Prozess von Wachstum und Entwicklung, in dem Betroffene die persönlichen, sozia­len und gesellschaftlichen Folgen einer psychischen Erkrankung überwinden und zurück zu einem sinnhaften, erfüllten und selbstbestimmten Leben finden«.

Sowohl Inklusion als auch Empower­ment-Orientierung sind große politische Konzepte, die aus meiner Sicht nicht nur für Menschen mit psychischen Beeinträch­tigungen relevant sind – wenn sie denn als politische Konzepte verstanden und umge­setzt werden.

Miniresümee

Die moderne Sozialpsychiatrie braucht das Know-how der psychiatrieerfahrenen Menschen, um mit ihnen gemeinsam inno­vative Unterstützungskonzepte auf Basis von Empowerment und Recovery zu erar­beiten. Und sie braucht ein hohes sozial ­politisches Engagement, das Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen übt, anstatt Missstände abzufedern und damit zur Einzementierung der bestehenden Verhältnisse beizutragen.

Eva Leutner, MAS, ist Geschäftsführerin der pro mente kärnten GmbH.

Literaturempfehlung: Sozialpsychiatrie – theoretische Grundla­gen und praktische Ein­blicke. Herausgeber Werner Schöny, Sprin­ger Verlag

1 Dr. Manfred Lütz (Chefarzt der psychiatrischen Alexianer Kli­nik in Köln-Porz): »Irre! Wir behandeln die Falschen – unser Problem sind die Normalen: Eine heitere Seelenkunde«.

AA FB share

Was mache ich aus dem, was mit mir gemacht wurde?

VON HELGA WOLFGRUBER

In den letzten Jahren hat die Depressions­forschung mit einer Unzahl von Studien über Entstehung/Ursachen und Verlauf von Depressionen aufgewartet. Unter ande­rem aufgrund unterschiedlicher Interessen der AuftraggeberInnen wird aber die Frage, wie äußere, soziale Belastungs-Faktoren zu inneren Risiko-Faktoren werden können, nicht immer einhellig beantwortet.

Befürchtet das medizinisch-therapeuti­sche Feld den Verlust von Deutungshoheit und Macht, fürchtet die Pharmaindustrie den Verlust ihrer Profite? Als in den 1960er Jahren Psychopharmaka den Markt erober­ten, hat sich der »Marktwert« der Depres­sion deutlich erhöht und die Diagnosezah­len stiegen rasant an.

Die Bewertung von normal/abnormal, gesund/krank ist immer auch kulturhisto­rischer Beeinflussung ausgesetzt und bewegt sich innerhalb unscharfer Grenzen, bestimmt aber die Richtung der Behand­lung.

Fakten

Die WHO betont, dass im Rahmen der »Glo­bal Burden of Disease« Depressionen seit 2015 einen Spitzenplatz unter jenen Erkrankungen einnehmen, die weltweit zu den meisten gesundheitlich eingeschränk­ten Lebensjahren führen. Und für 2030 bedeutet das, dass in den westlichen Indus­trieländern die Depression die größte indi­viduelle und volkswirtschaftliche Krank­heitslast sein wird. Derzeit übersteigt die Zahl der Erkrankten die 300 Millionen­grenze. Obwohl bei Frauen die Diagnose dreimal so häufig gestellt wird wie bei Män­nern, ist deren Selbstmordrate dreimal so hoch.

Von Mythen zur Realität

Mit einigen Mythen der Vergangenheit wurde aufgeräumt: Depression trifft NICHT nur schwache Menschen (aber: der Krank­heitsverlauf von sozioökonomisch unter­privilegierten Menschen ist ungünstiger); Psychopharmaka allein heilen NICHT (sie kön­nen sogar das Kranksein-Gefühl und Chro­nifizierung fördern); Depression hat NUR genetische Ursachen (endogene Depression wurde aus dem Diagnosemanual gestri­chen; soziale Faktoren werden berücksich­tigt).

Aber Wissenschaft, gesellschaftliche Institutionen und vor allem eine verände­rungsscheue Politik widmen sich zu wenig den krankmachenden, sozialen Lebensbe­dingungen. Dazu bedürfte es des Hinterfra­gens hyperindividualisierter, autonomie­versessener Leistungsparadigmen unserer kapitalistischen Arbeits- und Lebenswelt. Aber es ist kein Zufall, dass den »Leiden an der Arbeitswelt« (Burnout, früher Erschöp­fungsdepression genannt) große öffentliche Beachtung geschenkt wird. Menschen müs­sen »arbeitskräftig« bleiben, um das »Werkl am Laufen zu halten«. Depressive Menschen begehren zwar nicht auf, aber sie fallen aus dem Produktionsrad. Den stil­leren Leiden von Kindern, alten Menschen, Hilfsbedürftigen, Geflüchteten, Reproduk ­tionsarbeiterInnen wurde noch keine »eigene Diagnose« gewidmet. Obwohl sich in den Räumen der Privatheit sehr viele Hamsterräder zur Produktion von seeli­schen Erkrankungen drehen, finden sich diese Personengruppen eher als störender »Kostenfaktor« in den Medien wieder. Das Leid vieler depressiver, überforderter Hausfrauen inspirierte zwar schon in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Pop.Musik, die Psychiatrie reagierte aber fast ausschließlich mit der Verord­nung von Tranquilizern, jenen besungenen »mother’s little helpers«. Eine gendersensi­ble Medizin steckt leider noch immer in den Kinderschuhen.

Spätkapitalistische Depressions-Theorien

Der Soziologe Martin Dornes führt die Depressionszunahme auf erweiterte indivi­duelle Gestaltungsspielräume und Wahl­möglichkeiten zurück. Die damit verbunde­nen Überforderungsgefühle können letzt­lich zu Erschöpfung und Depression führen: Wer die Wahl hat, hat die Qual.

Verdankt sich diese Entwicklung also dem neoliberalen Dogma der Lebensgestaltung unter möglichst großer Eigenverantwort­lichkeit?

Oder besteht das Pathogene weniger in einer übergroßen, strukturarmen Freiheit, wie es der Philosoph Byung Chul Han beschreibt, sondern vielmehr in den gleich­zeitig steigenden, konkreten Leistungsan­forderungen an das Individuum? Müdigkeit und Erschöpfung als Zeichen gesellschaftli­chen Wandels und Vor-Zeichen von Depressivität spielen in beiden Theorien eine zentrale Rolle.

Ich möchte aber nicht jede als falsch empfundene, individuelle Entscheidung dem Kapitalismus oder ausschließlich exo­genen Faktoren in die Schuhe schieben. Das käme einer völligen Entmachtung des Sub­jekts gleich. Daher ein Aspekt, der sich dem intrapsychischen Anteil des depressiven Erlebens widmet.

Die psychoanalytische Theorie versucht das Entstehen einer späteren Depression mit einem missglückten Versuch der Verar­beitung von Verlusten/Trennungen in der frühen Kindheit zu erklären. Genauer gesagt werden (Liebes-)Enttäuschungen oder direkte Verluste (Tod, Abwesenheit) begehrter Bezugspersonen angenommen, die in vergleichbaren Enttäuschungssitua­tionen des Erwachsenenlebens eine Dispo­sition für das Wiedererleben verdrängter Gefühle bedeuten können.

Die Reaktion auf Kränkung und Enttäu­schung kann in narzistische Regression und in Symptome einer Depression münden: Hemmung, Apathie, Rückzug, Herabset­zung des Selbstwertgefühls, Verharren in der Opferrolle, Gier nach Entschädigung, Wut als Ausdrucksform der Trauer und letztendlich die Wendung der Aggression gegen die eigene Person sind Ausdruck davon.

Verlusterfahrungen INNEN und AUSSEN

Inneres Erleben und äußere Bedingungen stehen aber immer in einem dialektischen Zusammenhang, formen biographische Besonderheiten und begünstigen auch den angst- und verlustreichen Weg »in die Dun­kelheit«.

Angesichts der globalen Informations- und Bilderflut kann leicht der Faden oder die Übersicht verloren gehen. Der Imperativ zu Leistung und permanenter Betriebsam­keit gefährdet Denk- und Erlebnisräume als Orte der Kreativität und kann uns die Fähig­keit zum »kontemplativen Verweilen« verlie­ren lassen. Die Langlebigkeit des Patriar­chats könnte, besonders bei Frauen, zum Verlust der Geduld oder Beherrschung füh­ren. Verliere ich die Arbeitsfähigkeit oder den Arbeitsplatz, verliere ich auch oft die Wohnung, Ansehen, Sicherheit, Orientierung oder FreundInnen. Können das erste Schritte in die soziale Isolation sein? Was bedeutet der Verlust von Schlüssel oder Schirm gegen den Verlust von Heimat oder des Lebens naher Menschen durch Krieg und Tod? Legt das nicht den Grundstein zu Traumatisierung mit depressiven Folgen? Ein Spiel oder eine Wette zu verlieren wird mein inneres Gleichgewicht nicht nachhaltig erschüt­tern. Wie geht es mir aber, wenn mir mein Glaube an Gerechtigkeit oder Selbstachtung verloren geht? Weil ich mich gegen Demü­tigungen und Entwertungen durch Schule, am Arbeitsplatz oder durch geliebte Perso­nen nicht ausreichend zur Wehr setzen konnte?

Nähere ich mich einer Depression, wenn Hoffnung auf Veränderung schwindet? Wenn Antrieb und Energie nachlassen oder ein Gefühlsverlust innerer Leere (Entfrem­dungsgefühlen) Platz macht, nachdem ich jahrelang gegen Ohnmachtsgefühle ange­kämpft habe? Bin ich immer krank, wenn ich die Gesundheit verliere?

Betrachtet man diese Verlusterfahrungen durch die »symptomsuchende« Brille, dann wird sichtbar, wie fruchtbar der Boden des Alltagslebens für Depressionen ist.

Widerstandsressourcen

Warum es manchen Menschen, trotz ver­gleichbarer Verlust- und Belastungserfah­rungen, besser gelingt, gesund zu bleiben oder zu werden als anderen, versucht das Konzept der Salutogenese zu erklären.

Aaron Antonovsky, der Begründer dieses Modells, macht drei Komponenten für den Erwerb von Resilienz/Widerständigkeit verantwortlich: Erstens das Gefühl von Ver­stehbarkeit: ich begreife mein Tun, ich weiß um mein Wissen. Zweitens das Gefühl von Bewältigbarkeit: ich schaffe die an mich gestellten Anforderungen, fühle mich nicht überfordert. Und drittens das Gefühl von Sinnhaftigkeit bzw. von Bedeutsam­keit: das, was ich tue, ergibt für mich (oder andere) Sinn und ich bekomme dafür Aner­kennung. Wer auf diese weitgehend in der Kindheit erworbenen Ressourcen zurück­greifen kann, wird mit individueller Krank­heitserfahrung besser umgehen können. Vorausgesetzt die sozioökonomischen Ver­hältnisse ermöglichen das. Den Zusammen­hang zwischen steigender sozialer Ungleichheit und dem steilen Anstieg von »Verzweiflungsopfern« in der Klasse der ArbeiterInnen durch Suizid, Drogen und Alkoholmissbrauch belegen zwei US Ökono­men (Case, Deaton) in ihrem jüngst erschie­nenen Buch.

Ein langer Weg

Das Problembewusstsein hat zwar allge­mein zugenommen, das Wissen über Hilfs­angebote hat sich verbreitert und die gesellschaftliche Stigmatisierung hat abge­nommen, trotzdem finden psychisch Kranke noch immer sehr spät den Weg in eine ärztliche oder psychotherapeutische Praxis. Dieser Weg ist dann oft gepflastert mit falschen Diagnosen und Medikamen­ten, aber auch mit der Scheu vieler Betrof­fenen, das schambesetzte Gefühl der Wert­losigkeit – ein Symptom depressiven Lei­dens – »herzuzeigen«. Das lange Verber­gen-müssen von psychischem Leiden, das vermeintliche Aushalten-Müssen belasten­der Lebenssituationen kostet Kraft und endet oft im totalen Verlust von Lebens­qualität oder im Selbstmord.

In berührenden Selbstzeugnissen hat Mark Fisher, ein britischer linker Autor, festgestellt, dass man in dem undurch­dringlichen Labyrinth eines depressiven Lebens einer Aufgabe nicht gewachsen ist: der Selbstwerdung.

Was hilft?

Die Voraussetzung für dieses »Sein oder Werden« müsste durch notwendige struk­turelle Maßnahmen von Politik geschaffen werden. Auch das Gesundheitswesen, im Besonderen die Psychiatrie, sollte, ausge­hend vom Sozialen, neu gedacht werden. Es ist die größer werdende Schere zwischen Arm und Reich, es sind die vielen Stressfak­toren durch ungleiche Macht- und Chan­cenverteilung, es ist die Hierarchisierung vieler Lebensbereiche, es ist die zuneh­mende Prekarisierung der Arbeitswelt mit Einkommensunsicherheit und es ist die Zunahme sozialer Frustration, die depres­sive Erkrankungen zu einem alltäglichen »Abfallprodukt« des neoliberalen Indivi­dualisierungsprozesses machen. Und die nach einer radikaleren Umgestaltung unse­res gesellschaftlichen Lebens schreien.

Kritik ein Lebenselixir?

Friedrich Nietzsche hatte sicher nicht die Absicht, mit seinen Aussagen Depressions­prophylaxe zu betreiben. Ein Zitat könnte aber als Empfehlung dazu gelesen werden: »Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Will­kürliches und Unpersönliches. Es ist oft ein Beweis davon, dass lebendige, treibende Kräfte in uns sind, welche eine Rinde absto­ßen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil etwas in uns leben und sich bejahen will. Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen.«

Ein Ort, an dem diese Form der Widerständigkeit praktiziert werden könnte, ist politisches Engagement. Wenn individuelle Empörung den Weg über Kritik in sinnvolles, kollek­tives Handeln schafft und ein bewäl­tigbares Ziel anpeilt, dann wäre die­ses solidarische Handeln auch für das Individuum ein Weg zu einem bedeu­tungsvolleren Leben.

AA FB share

Das Gesundheitssystem ist krank! Aber, ist es das Gesundheitssystem? Woran ein Recht auf Gesundheit scheitert.

VON ANKE STRÜVER

Wenn es um die Gesundheitsversor­gung in den EU-Mitgliedsstaaten geht, wird meist auf das vorherrschende Solidar- und Gleichheitsprinzip und die großen Unterschiede zu den USA verwie­sen. Wer hierzulande älter als fünfzig ist, wird sich aber auch an die großen Unter­schiede zu den 1970er Jahren erinnern. Seitdem sind die Abgaben für die gesetzli­chen Krankenkassen kontinuierlich gestie­gen und die Versorgungsleistungen gesun­ken; wer es sich leisten kann oder will, gleicht Letzteres heutzutage durch private Zusatzversicherungen aus. Diese Bestands­aufnahme ist allgemein bekannt und vor allem weitgehend anerkannt. Dennoch – oder gerade deswegen – gehen Politiker*innen gerne mit stolzen Aussagen wie diesen an die Öffentlichkeit: »Der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist Spiegel für den Wohlstand der Gesellschaft.« Sie verweisen damit auf eine (individualisierte) Wohlstandsgesellschaft, die sich von der (kollektiven) Wohlfahrtsgesellschaft seit den 1980er Jahren erfolgreich emanzipiert hat und die in den neoliberalen Gesellschafts- und Gesundheitsreformen und der Verschiebung von Versorgung auf Selbstsorge ihren erschreckenden Höhepunkt gefunden hat.

­­­

Versorgung

Der oft zitierte Ausspruch des römischen Dichters Vergil »der größte Reichtum ist Gesundheit« ist auf Englisch viel eingängi­ger (»the greatest wealth is health«) und wird seit fünf Jahren als Teil der Agenda 2030 der UN bzw. der Sustainable Develop­ment Goals als Slogan plakativ vermarktet (siehe bspw. https://www.unenviron­ment.org/news-and-stories/story/ greatest-wealth-health). Für das Erreichen dieser Art von Reichtum steht, zumindest in Mitteleuropa, der gesicherte Zugang zu hochwertigen grundlegenden Gesundheits­diensten im Mittelpunkt. Doch genau das, der Zugang zu Gesundheitsdiensten, und seien sie noch so gut (oder gar umsonst) reicht bei weitem nicht aus für eine gesunde Gesellschaft. Vor ziemlich genau zehn Jahren haben Wilkinson & Pickett (2010) ihre Studie zu den gesundheitlichen Auswirkungen gesellschaftlicher Ungleich­heiten publiziert: Sie machen deutlich, dass sich gesamtgesellschaftliche Ungleichhei­ten stärker auf die Gesundheit der margi­nalisiert und prekarisiert lebenden Men­schen auswirken als auf die der Situierten. Umgekehrt hängt eine Reduktion gesund­heitlicher Ungleichheiten von der Steige­rung der gesellschaftlichen Gleichheit ab. Kurz gesagt: sozial gleichere Gesellschaften sind auch gesündere Gesellschaften.

Verhältnisse und Verhalten

Bereits 2008 hatte die Weltgesundheitsor­ganisation einen Bericht zu sozialen Deter­minanten von Gesundheit betitelt mit »Soziale Ungerechtigkeit ist für den Tod von Menschen im großen Stil verantwort­lich« (WHO 2008). Der Bericht bezieht sich vor allem auf globale Ungleichheiten. Doch er macht erstens verständlich, dass und inwiefern gesellschaftliche Ungerechtigkeit der zentrale Faktor für Gesundheit und Krankheit ist. Und er stellt zweitens heraus, dass eine Verbesserung der globa­len Gesundheitssituation nur über eine Verbesserung der gesellschaftlichen Ver­hältnisse erreichbar ist.

In den Debatten um Gesundheit spielt der Begriff der Verhältnisse eine umkämpfte Rolle. Anders als Ansätze zur Public Health, die in der Regel die sozialen Determinanten von Gesundheit über quantitativ orien­tierte Risikoanalysen bestimmen und/oder auf Verhaltensänderungen abzielen, spricht die WHO gesellschaftliche Konstel­lationen an, wodurch sich die WHO-Kritik durchaus auf nationale Gesellschaften übertragen lässt. Denn sozioökomische Armut, fehlende Bildung, Migrationserfah­rung, Wohnraummangel, Umweltgifte etc. resultieren nicht zwangsläufig in schlech­ten sozialräumlichen Verhältnissen; sie machen nicht direkt krank und verringern nicht automatisch die Lebensqualität und Lebenserwartung. Vielmehr handelt es sich dabei um gesellschaftlich ungerecht struk­turierte und vermittelte Prozesse.

So zeigt sich bspw. in vielen europäi­schen Städten, dass Menschen, die sozio­ökonomisch, soziokulturell oder sozial­räumlich marginalisiert werden, eine kür­zere Lebenserwartung haben und über­durchschnittlich häufig an psychischen wie physischen chronischen Krankheiten lei­den (vgl. Poliklinik 2020). Dies kann nicht – oder zumindest nicht allein – über einen gesicherten Zugang zu Gesundheitsdiens­ten (s. o.) und/oder eine verbesserte Quali­tät der medizinischen Versorgung refor­miert werden, da soziale Faktoren wie Wohnungsgrößen und Mieten, Arbeitslosig­keit und Einkommensunsicherheiten, Alters-Diskriminierung oder Rassismus die Gesundheit nachweisbar stärker beeinflus­sen als lokale räumliche oder soziale Ver­hältnisse oder individuelles (Fehl-)Verhal­ten.

Gesundheitliche Ungleichheiten sind also nicht nur Effekte von Verteilungsungleich­heiten, sie werden nicht direkt und unmit­telbar durch Umweltfaktoren oder sozialen Stress hervorgerufen. Denn sonst müsste bspw. eine hohe Konzentration von Umweltgiften in der direkten Wohnumge­bung alle dort lebenden Menschen krank und »gleich krank« machen. Gesundheitli­che Ungleichheiten sind aber auch nicht nur auf individuell krankmachendes Ver­halten oder fehlende Selbstsorge zurückzu­führen.

Verteilung

In Ergänzung zum oben zitierten »wealth is health« ist mittlerweile der Ausspruch »health is wealth« auf dem Vormarsch (Stanwell-Smith 2017). Er definiert Gesund­heit als Lebensstil und Lebensziel, als Voraussetzung für Freiheit und Wohlbefin­den und verwehrt damit nicht nur chro­nisch wie akut Erkrankten diese Rechte, sondern reduziert (vermeintliche) Freiheit auf erfolgreiche Selbstsorge oder zumin­dest einen risikoarmen Lebensstil; d. h. das Recht auf Gesundheit wird individualisiert. Im Umkehrschluss bedeutet Gesundheits­gerechtigkeit in einer Gesellschaft der Gleichheit, dass alle ihre Lebensumstände wählen und gestalten können. Das ist aller­dings weniger im Sinne eines bewusst ver­folgten gesunden Lebensstils und damit verbundenen Verhaltensänderungen zu verstehen (z. B. geringer Nikotin- und Alkoholkonsum, gesteigerte sportliche Aktivität, Umzug in »bessere« Nachbar­schaft etc.). Es geht viel grundlegender um die basalen Möglichkeiten der Teilhabe und Einflussnahme; darum, die eigenen Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen selbst, aktiv und in Solidarität mit anderen verän­dern zu können.

In der EU ist derzeit absolute Armut weniger ein Problem als die relative Ungleichheit in der Gesellschaft – von der alle in einer ungleichen Gesellschaft betrof­fen sind. Aber der in niedrigeren sozialen Statusgruppen durch das Erleben von Ungleichheit erhöhte und teilweise chroni­sche Stress steigert das Krankheitsrisiko (vgl. Exner 2013; Wilkinson & Pickett 2010, 2018). Der soziale Stress kann zu gesund­heitsschädlichem Verhalten führen (Niko­tin- und Alkoholsucht, Bewegungsarmut, Über- oder Untergewicht) und ist somit kein individuelles, sondern ein gesell­schaftliches Problem. Gesundsein ist dadurch genauso wenig individuelle Leis­tung wie Kranksein individuelles Versagen. Strukturelle Ungleichheit, die sich u.a. in Gesundheit oder Krankheit verkörpert, kann durch Umverteilung und gesellschaft­liche Teilhabe bekämpft werden – und zwar im Sinne einer Verteilungsgerechtigkeit, die viel komplexer als Gleichbehandlung oder Gleichverteilung wäre (Fraser 2009). Erst die Anerkennung struktureller Ungleichheit ermöglicht, durch ökonomi­sche Umverteilung und politische Teilhabe Ungerechtigkeit zu bekämpfen – und Gleichheit zu erreichen.

Verwertung versus Verantwortung

Ökonomische Umverteilung und soziale Teilhabe sind gleichwohl kaum ausrei­chend, um das kranke System zu heilen. So lange kapitalistische Verwertungsprinzi­pien dominieren, reproduzieren sich struk­turelle soziale Ungleichheiten, die sich durch neoliberale Regierungspraktiken und Austeritätsmaßnahmen noch verstärken. Im übertragenen Sinne sind hier weniger akut oder chronisch erkrankte Menschen krank, als ein System, das nur über die ( Re-)Produktion von Ungleichheiten funk­tioniert. In ihrem neuen Buch fokussieren Wilkinson & Picket (2018) die Auswirkun­gen von Austeritätsmaßnahmen und der wachsenden Arbeits- und Einkommensun­gleichheiten auf (vermeintlich individuelle) Probleme wie fehlendes Gefühl von Aner­kennung und Angstzustände, die in physi­schem wie psychischem Stress resultieren. Sie mahnen zudem den Rückbau des finan­zialisierten Kapitalismus zu egalitär-koope­rativen Gesellschafts- und Wirtschaftsfor­men an – und koppeln damit viel stärker als die Sustainable Devlopment Goals die Stei­gerung der sozialen Gleichheit an wachs­tumskritische ökologische und ökonomi­sche Produktions- und Arbeitsformen. Wenn »der Gesundheitszustand einer Bevölkerung Spiegel für den Wohlstand einer Gesellschaft ist«, dann wäre ein etab­liertes Recht auf Gesundheit Ausdruck von Verantwortung – und Spiegel für den Gleichheitsgrad einer Gesellschaft.

Anke Strüver ist Professorin am Institut für Geographie und Raumforschung der Universität Graz.

Zitierte Literatur:

Exner, Andreas (2013): Gesundheit und soziale Gleichheit. In: Initiative Solidarisch G’sund (Hrsg.): Gesundheit für alle! Wien: Mandelbaum, S. 26–55.

Fraser, Nancy (2009): Scales of Justice. Reimagining Political Space in a Globa­lizing World. New York: Columbia University Press.

Poliklinik (2020): Poliklinik Veddel. Hamburg. http://poliklinik1.org/kon­zeptvision (08.03.2020)

Stanwell-Smith, Rosalind (2017): Health is wealth. In: Perspectives in Public Health 137 (4), 198.

WHO (2008): Closing the gap in a generation. Health equity through action on the social determinants of health. Genf: WHO.

Wilkinson, Richard & Kate Pickett (2010): the Spirit Level : Why Equality is Bet­ter for Everyone. London: Penguin.

Wilkinson, Richard & Kate Pickett (2018): The Inner Level: How More Equal Societies Reduce Stress, Restore Sanity and Improve Everyone’s Well-being. London: Allen Lane.

AA FB share

Kontakt

Volksstimme

Drechslergasse 42, 1140 Wien

redaktion@volksstimme.at

Abo-Service: abo@volksstimme.at

Impressum

Medieninhaber und Herausgeber:

Verein zur Förderung der Gesellschaftskritik
ZVR-Zahl: 490852425
Drechslergasse 42
1140 Wien

ISSN Nummer: 2707-1367