Seelisches Leid und der Wunsch nach einem gelingenden Leben.
VON EVA LEUTNER
Das Leben hierzulande als psychisch kranker Mensch ist ein individuelles Projekt, das Großteils von Stigma und Scham geprägt ist. In vielen Fällen sind manifeste Armut, Diskriminierung und Exklusion die Folge. Mit Manfred Lütz bleibt zu ergänzen: »Wenn man als Psychiater und Psychotherapeut abends Nachrichten sieht, ist man regelmäßig irritiert. Da geht es um Kriegshetzer, Terroristen, Mörder, Wirtschaftskriminelle, eiskalte Buchhaltertypen und schamlose Egomanen – und niemand behandelt die. Ja, solche Figuren gelten sogar als völlig normal. Kommen mir dann die Menschen in den Sinn, mit denen ich mich den Tag über beschäftigt habe, rührende Demenzkranke, dünnhäutige Süchtige, hochsensible Schizophrene, erschütternd Depressive und mitreißende Maniker, dann beschleicht mich mitunter ein schlimmer Verdacht: Wir behandeln die Falschen! Unser Problem sind nicht die Verrückten, unser Problem sind die Normalen!«1
Vergangenheit wissen, um Gegenwart zu begreifen
Die Beziehungen von Menschen, Organisationen und Institutionen werden überwiegend von den Interessen derjenigen bestimmt, die über Kapital und Macht verfügen.
Die Geschichte der Versorgung von psychisch kranken Menschen legt, so wie das in allen gesellschaftlichen Bereichen der Fall ist, die jeweiligen Machtverhältnisse und die damit verbundenen Werthaltungen offen.
Vor der Zeit der Aufklärung wurden die »Irren« in »Tollhäusern« untergebracht und mit Eisenketten an Pritschen gefesselt. Mit der Aufklärung und ihrem zentralen Begriff der »Vernunft« setzte sich langsam die Idee durch, dass Irresein heilbar ist, die Rückführung der »Unvernünftigen« zur Vernunft schien machbar. Die Verrückten wurden als kranke Menschen anerkannt, die einer ärztlichen Behandlung bedürfen, Gewaltanwendungen an ihnen wurden nachweislich reduziert.
Mit dem Übergang zum industriellen Zeitalter änderten sich auch die Prioritäten staatlicher Fürsorgepolitik. Die Separation der psychisch kranken Menschen von den »Normalen« war die neue Stoßrichtung, die häusliche Betreuung wurde durch die zunehmende Urbanisierung erheblich schwieriger. Die Folge war eine permanente Überbelegung der Irrenhäuser, die letztendlich in der Anstaltspsychiatrie endete. Die Behandlung der Menschen erfolgte also außerhalb ihres sozialen Umfeldes, die Konsequenzen dieser Politik, dieses separierenden und verwahrenden Charakters der Krankenbehandlung, ist bis heute eine wesentliche Grundlage für Stigma und Diskriminierung.
Bereits vor dem 1. Weltkrieg wuchsen zarte Pflänzchen einer »Sozialen Psychiatrie«, deren VertreterInnen dafür plädierten, Unterstützungsmaßnahmen auch gemeindenah, außerhalb der Anstalten aufzubauen. Durch den Krieg rissen diese reformerischen Ansätze ab. Die von den Herrschenden eingeforderte »Gefechtsbereitschaft für den Krieg« befeuerte Konzepte über die Nutzlosigkeit von psychisch kranken und behinderten Menschen, Sozialdarwinismus und Degenerationslehre waren Futter für die sich ausbreitende Menschenfeindlichkeit.
Das nahmen die NationalsozialistInnen begierig auf und setzten es mit mörderischer Konsequenz zuerst durch Zwangssterilisierungen und dann durch tausende Morde im Rahmen des »Gnadentoderlasses« um.
Aktuelle Herausforderungen
Am 26. September 2008 wurde die »UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« von Österreich ratifiziert. Österreich hat sich damit verpflichtet, diese Bestimmungen umzusetzen.
Der zentrale Begriff dieser Konvention ist »Inklusion«. Inklusion ist vorwiegend eine Anpassungsleistung der Gesellschaft, während sich beim Integrationskonzept der Mensch an die vorhandenen Strukturen anzupassen hatte. Es distanziert sich von einem paternalistisch orientierten Fürsorgegedanken. Dieses Konzept sollte aus meiner Sicht für alle Menschen gültig sein, nicht nur für Menschen mit Behinderung. Es geht letztendlich um eine Akzeptanz der Vielfalt des Seins.
Am Arbeitsmarkt hat sich diese österreichische Verpflichtung zur UN-Konvention jedoch noch nicht herumgesprochen: Trotz Zeiten der Hochkonjunktur waren Menschen mit Behinderungen bzw. auch Menschen mit gesundheitlichen Vermittlungseinschränkungen deutlich häufiger und länger von Arbeitslosigkeit betroffen als Menschen ohne diese Handicaps.
Und trotz dieser Tatsachen werden aktuell arbeitslose Menschen aufgrund ihrer Vermittlungswahrscheinlichkeit vom AMS mittels Algorithmus unterteilt und unterschiedlich behandelt: Klasse A (rasch vermittelbare Servicekunden), Klasse B (Betreuungskunden mit mittleren Chancen) sowie Klasse C (Beratungskunden, die schwer vermittelbar sind). Von der Einteilung abhängig ist dann, welche AMS- Fördermaßnahmen – etwa Qualifizierungskurse – gewährt werden. So eine Vorgangsweise geht eindeutig auf Kosten von Menschen mit Behinderungen, insbesondere von Menschen mit psychischen Problemen. Sie sind überwiegend in die Klasse C eingestuft, obwohl sie nur nachweislich dann in der Arbeitswelt wieder Fuß fassen können, wenn sie durch geeignete Trainingsangebote in einer wertschätzenden Atmosphäre und mit Hilfe des unendlich wertvollen Faktors Zeit Stabilität und Selbstsicherheit wiedererlangen. Vor der Entscheidung, dieses System einzusetzen hat, keine Evaluierung der Auswirkungen stattgefunden. Die Folgen tragen die Betroffenen.
Neben Inklusion sind für Menschen mit psychischen Erkrankungen »Empowerment und Recovery« zentrale Konzepte. Empowerment meint eine Haltung von ProfessionistInnen, die ermöglicht, dass psychisch kranke Menschen Würde, Stärke, Kraft und Mut wiedererlangen. Das ist nicht das Ergebnis einer gelungenen Therapie, sondern der mutigen Auseinandersetzung der betroffenen Menschen mit sich und ihrer Erkrankung. Das funktioniert jedoch nur, wenn diese ProfessionistInnen im Rahmen von flachen Hierarchien in den Dienstleistungsbetrieben selber ein größtmögliches Maß an Transparenz und Entscheidungskompetenzen erfahren.
Recovery meint »einen persönlichen Prozess von Wachstum und Entwicklung, in dem Betroffene die persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen einer psychischen Erkrankung überwinden und zurück zu einem sinnhaften, erfüllten und selbstbestimmten Leben finden«.
Sowohl Inklusion als auch Empowerment-Orientierung sind große politische Konzepte, die aus meiner Sicht nicht nur für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen relevant sind – wenn sie denn als politische Konzepte verstanden und umgesetzt werden.
Miniresümee
Die moderne Sozialpsychiatrie braucht das Know-how der psychiatrieerfahrenen Menschen, um mit ihnen gemeinsam innovative Unterstützungskonzepte auf Basis von Empowerment und Recovery zu erarbeiten. Und sie braucht ein hohes sozial politisches Engagement, das Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen übt, anstatt Missstände abzufedern und damit zur Einzementierung der bestehenden Verhältnisse beizutragen.
Eva Leutner, MAS, ist Geschäftsführerin der pro mente kärnten GmbH.
Literaturempfehlung: Sozialpsychiatrie – theoretische Grundlagen und praktische Einblicke. Herausgeber Werner Schöny, Springer Verlag
1 Dr. Manfred Lütz (Chefarzt der psychiatrischen Alexianer Klinik in Köln-Porz): »Irre! Wir behandeln die Falschen – unser Problem sind die Normalen: Eine heitere Seelenkunde«.