Was mache ich aus dem, was mit mir gemacht wurde?
VON HELGA WOLFGRUBER
In den letzten Jahren hat die Depressionsforschung mit einer Unzahl von Studien über Entstehung/Ursachen und Verlauf von Depressionen aufgewartet. Unter anderem aufgrund unterschiedlicher Interessen der AuftraggeberInnen wird aber die Frage, wie äußere, soziale Belastungs-Faktoren zu inneren Risiko-Faktoren werden können, nicht immer einhellig beantwortet.
Befürchtet das medizinisch-therapeutische Feld den Verlust von Deutungshoheit und Macht, fürchtet die Pharmaindustrie den Verlust ihrer Profite? Als in den 1960er Jahren Psychopharmaka den Markt eroberten, hat sich der »Marktwert« der Depression deutlich erhöht und die Diagnosezahlen stiegen rasant an.
Die Bewertung von normal/abnormal, gesund/krank ist immer auch kulturhistorischer Beeinflussung ausgesetzt und bewegt sich innerhalb unscharfer Grenzen, bestimmt aber die Richtung der Behandlung.
Fakten
Die WHO betont, dass im Rahmen der »Global Burden of Disease« Depressionen seit 2015 einen Spitzenplatz unter jenen Erkrankungen einnehmen, die weltweit zu den meisten gesundheitlich eingeschränkten Lebensjahren führen. Und für 2030 bedeutet das, dass in den westlichen Industrieländern die Depression die größte individuelle und volkswirtschaftliche Krankheitslast sein wird. Derzeit übersteigt die Zahl der Erkrankten die 300 Millionengrenze. Obwohl bei Frauen die Diagnose dreimal so häufig gestellt wird wie bei Männern, ist deren Selbstmordrate dreimal so hoch.
Von Mythen zur Realität
Mit einigen Mythen der Vergangenheit wurde aufgeräumt: Depression trifft NICHT nur schwache Menschen (aber: der Krankheitsverlauf von sozioökonomisch unterprivilegierten Menschen ist ungünstiger); Psychopharmaka allein heilen NICHT (sie können sogar das Kranksein-Gefühl und Chronifizierung fördern); Depression hat NUR genetische Ursachen (endogene Depression wurde aus dem Diagnosemanual gestrichen; soziale Faktoren werden berücksichtigt).
Aber Wissenschaft, gesellschaftliche Institutionen und vor allem eine veränderungsscheue Politik widmen sich zu wenig den krankmachenden, sozialen Lebensbedingungen. Dazu bedürfte es des Hinterfragens hyperindividualisierter, autonomieversessener Leistungsparadigmen unserer kapitalistischen Arbeits- und Lebenswelt. Aber es ist kein Zufall, dass den »Leiden an der Arbeitswelt« (Burnout, früher Erschöpfungsdepression genannt) große öffentliche Beachtung geschenkt wird. Menschen müssen »arbeitskräftig« bleiben, um das »Werkl am Laufen zu halten«. Depressive Menschen begehren zwar nicht auf, aber sie fallen aus dem Produktionsrad. Den stilleren Leiden von Kindern, alten Menschen, Hilfsbedürftigen, Geflüchteten, Reproduk tionsarbeiterInnen wurde noch keine »eigene Diagnose« gewidmet. Obwohl sich in den Räumen der Privatheit sehr viele Hamsterräder zur Produktion von seelischen Erkrankungen drehen, finden sich diese Personengruppen eher als störender »Kostenfaktor« in den Medien wieder. Das Leid vieler depressiver, überforderter Hausfrauen inspirierte zwar schon in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Pop.Musik, die Psychiatrie reagierte aber fast ausschließlich mit der Verordnung von Tranquilizern, jenen besungenen »mother’s little helpers«. Eine gendersensible Medizin steckt leider noch immer in den Kinderschuhen.
Spätkapitalistische Depressions-Theorien
Der Soziologe Martin Dornes führt die Depressionszunahme auf erweiterte individuelle Gestaltungsspielräume und Wahlmöglichkeiten zurück. Die damit verbundenen Überforderungsgefühle können letztlich zu Erschöpfung und Depression führen: Wer die Wahl hat, hat die Qual.
Verdankt sich diese Entwicklung also dem neoliberalen Dogma der Lebensgestaltung unter möglichst großer Eigenverantwortlichkeit?
Oder besteht das Pathogene weniger in einer übergroßen, strukturarmen Freiheit, wie es der Philosoph Byung Chul Han beschreibt, sondern vielmehr in den gleichzeitig steigenden, konkreten Leistungsanforderungen an das Individuum? Müdigkeit und Erschöpfung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels und Vor-Zeichen von Depressivität spielen in beiden Theorien eine zentrale Rolle.
Ich möchte aber nicht jede als falsch empfundene, individuelle Entscheidung dem Kapitalismus oder ausschließlich exogenen Faktoren in die Schuhe schieben. Das käme einer völligen Entmachtung des Subjekts gleich. Daher ein Aspekt, der sich dem intrapsychischen Anteil des depressiven Erlebens widmet.
Die psychoanalytische Theorie versucht das Entstehen einer späteren Depression mit einem missglückten Versuch der Verarbeitung von Verlusten/Trennungen in der frühen Kindheit zu erklären. Genauer gesagt werden (Liebes-)Enttäuschungen oder direkte Verluste (Tod, Abwesenheit) begehrter Bezugspersonen angenommen, die in vergleichbaren Enttäuschungssituationen des Erwachsenenlebens eine Disposition für das Wiedererleben verdrängter Gefühle bedeuten können.
Die Reaktion auf Kränkung und Enttäuschung kann in narzistische Regression und in Symptome einer Depression münden: Hemmung, Apathie, Rückzug, Herabsetzung des Selbstwertgefühls, Verharren in der Opferrolle, Gier nach Entschädigung, Wut als Ausdrucksform der Trauer und letztendlich die Wendung der Aggression gegen die eigene Person sind Ausdruck davon.
Verlusterfahrungen INNEN und AUSSEN
Inneres Erleben und äußere Bedingungen stehen aber immer in einem dialektischen Zusammenhang, formen biographische Besonderheiten und begünstigen auch den angst- und verlustreichen Weg »in die Dunkelheit«.
Angesichts der globalen Informations- und Bilderflut kann leicht der Faden oder die Übersicht verloren gehen. Der Imperativ zu Leistung und permanenter Betriebsamkeit gefährdet Denk- und Erlebnisräume als Orte der Kreativität und kann uns die Fähigkeit zum »kontemplativen Verweilen« verlieren lassen. Die Langlebigkeit des Patriarchats könnte, besonders bei Frauen, zum Verlust der Geduld oder Beherrschung führen. Verliere ich die Arbeitsfähigkeit oder den Arbeitsplatz, verliere ich auch oft die Wohnung, Ansehen, Sicherheit, Orientierung oder FreundInnen. Können das erste Schritte in die soziale Isolation sein? Was bedeutet der Verlust von Schlüssel oder Schirm gegen den Verlust von Heimat oder des Lebens naher Menschen durch Krieg und Tod? Legt das nicht den Grundstein zu Traumatisierung mit depressiven Folgen? Ein Spiel oder eine Wette zu verlieren wird mein inneres Gleichgewicht nicht nachhaltig erschüttern. Wie geht es mir aber, wenn mir mein Glaube an Gerechtigkeit oder Selbstachtung verloren geht? Weil ich mich gegen Demütigungen und Entwertungen durch Schule, am Arbeitsplatz oder durch geliebte Personen nicht ausreichend zur Wehr setzen konnte?
Nähere ich mich einer Depression, wenn Hoffnung auf Veränderung schwindet? Wenn Antrieb und Energie nachlassen oder ein Gefühlsverlust innerer Leere (Entfremdungsgefühlen) Platz macht, nachdem ich jahrelang gegen Ohnmachtsgefühle angekämpft habe? Bin ich immer krank, wenn ich die Gesundheit verliere?
Betrachtet man diese Verlusterfahrungen durch die »symptomsuchende« Brille, dann wird sichtbar, wie fruchtbar der Boden des Alltagslebens für Depressionen ist.
Widerstandsressourcen
Warum es manchen Menschen, trotz vergleichbarer Verlust- und Belastungserfahrungen, besser gelingt, gesund zu bleiben oder zu werden als anderen, versucht das Konzept der Salutogenese zu erklären.
Aaron Antonovsky, der Begründer dieses Modells, macht drei Komponenten für den Erwerb von Resilienz/Widerständigkeit verantwortlich: Erstens das Gefühl von Verstehbarkeit: ich begreife mein Tun, ich weiß um mein Wissen. Zweitens das Gefühl von Bewältigbarkeit: ich schaffe die an mich gestellten Anforderungen, fühle mich nicht überfordert. Und drittens das Gefühl von Sinnhaftigkeit bzw. von Bedeutsamkeit: das, was ich tue, ergibt für mich (oder andere) Sinn und ich bekomme dafür Anerkennung. Wer auf diese weitgehend in der Kindheit erworbenen Ressourcen zurückgreifen kann, wird mit individueller Krankheitserfahrung besser umgehen können. Vorausgesetzt die sozioökonomischen Verhältnisse ermöglichen das. Den Zusammenhang zwischen steigender sozialer Ungleichheit und dem steilen Anstieg von »Verzweiflungsopfern« in der Klasse der ArbeiterInnen durch Suizid, Drogen und Alkoholmissbrauch belegen zwei US Ökonomen (Case, Deaton) in ihrem jüngst erschienenen Buch.
Ein langer Weg
Das Problembewusstsein hat zwar allgemein zugenommen, das Wissen über Hilfsangebote hat sich verbreitert und die gesellschaftliche Stigmatisierung hat abgenommen, trotzdem finden psychisch Kranke noch immer sehr spät den Weg in eine ärztliche oder psychotherapeutische Praxis. Dieser Weg ist dann oft gepflastert mit falschen Diagnosen und Medikamenten, aber auch mit der Scheu vieler Betroffenen, das schambesetzte Gefühl der Wertlosigkeit – ein Symptom depressiven Leidens – »herzuzeigen«. Das lange Verbergen-müssen von psychischem Leiden, das vermeintliche Aushalten-Müssen belastender Lebenssituationen kostet Kraft und endet oft im totalen Verlust von Lebensqualität oder im Selbstmord.
In berührenden Selbstzeugnissen hat Mark Fisher, ein britischer linker Autor, festgestellt, dass man in dem undurchdringlichen Labyrinth eines depressiven Lebens einer Aufgabe nicht gewachsen ist: der Selbstwerdung.
Was hilft?
Die Voraussetzung für dieses »Sein oder Werden« müsste durch notwendige strukturelle Maßnahmen von Politik geschaffen werden. Auch das Gesundheitswesen, im Besonderen die Psychiatrie, sollte, ausgehend vom Sozialen, neu gedacht werden. Es ist die größer werdende Schere zwischen Arm und Reich, es sind die vielen Stressfaktoren durch ungleiche Macht- und Chancenverteilung, es ist die Hierarchisierung vieler Lebensbereiche, es ist die zunehmende Prekarisierung der Arbeitswelt mit Einkommensunsicherheit und es ist die Zunahme sozialer Frustration, die depressive Erkrankungen zu einem alltäglichen »Abfallprodukt« des neoliberalen Individualisierungsprozesses machen. Und die nach einer radikaleren Umgestaltung unseres gesellschaftlichen Lebens schreien.
Kritik ein Lebenselixir?
Friedrich Nietzsche hatte sicher nicht die Absicht, mit seinen Aussagen Depressionsprophylaxe zu betreiben. Ein Zitat könnte aber als Empfehlung dazu gelesen werden: »Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches. Es ist oft ein Beweis davon, dass lebendige, treibende Kräfte in uns sind, welche eine Rinde abstoßen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil etwas in uns leben und sich bejahen will. Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen.«
Ein Ort, an dem diese Form der Widerständigkeit praktiziert werden könnte, ist politisches Engagement. Wenn individuelle Empörung den Weg über Kritik in sinnvolles, kollektives Handeln schafft und ein bewältigbares Ziel anpeilt, dann wäre dieses solidarische Handeln auch für das Individuum ein Weg zu einem bedeutungsvolleren Leben.