»Es ist schon alles gesagt. Aber noch nicht von allen.« (Karl Valentin)
Von Helga Wolfgruber
Wenn in Österreich hunderttausende Männer überzeugt davon sind, eigentlich mehr von Fußball zu verstehen als der jeweils amtierende Trainer der Nationalmannschaft, dann ist das ein amüsantes sozialpsychologisches Phänomen, aber es wird dadurch niemand gefährdet.
Wenn aber seit Ausbruch der Corona-Pandemie eine wachsende Zahl von Menschen davon überzeugt ist, eigentlich viel besser als die »abgehobenen« Expert*innen den Verlauf und notwendige Maßnahmen zur Bekämpfung einer Pandemie beurteilen zu können, dann gefährdet das unser aller Gesundheit.
Denn all jene, die innerhalb von Monaten an der Hochschule des Ressentiments bei Prof. Kickl zu Virolog*innen, Epidemolog*innen und Komplexitätsforscher*innen promovierten – sie überschätzen sich selber und ihren »gesunden Menschenverstand« gewaltig. Das kann in die Irre führen. Oder auch, wie allwöchentlich, zu unsäglichen Bündnissen »auf die Straße«.
Wer führt Regie?
Dort wird der Ruf nach Freiheit (unklar, wovon oder wozu?) von Slogans begleitet, die ein schräges bis kriminelles Geschichts- und Gesellschaftsverständnis zutage treten lassen.
Unübersehbar die demonstrativ zur Schau gestellte Opfer-Täter-Umkehr durch den »identifikatorischen« Missbrauch von Symbolen (gelber Stern). Ich erinnere an eine länger zurückliegende Feststellung H. C. Straches: »Wir sind die neuen Juden!« Diktaturvergleiche auf den Transparenten haben Platz neben der Verteidigung autoritärer Regime andernorts. Die Regie für diese unbehagliche »Aufführung« liegt nach zwei Jahren fest in den Händen rechter Politik.
In dieser pannenreichen, von Emotionen diktierten Situation wird sichtbar, dass in diesem Aufbegehren gegen staatliche Regeln und Verordnungen viele Menschen den Boden der Fakten und der Realität verlassen – unabhängig von ihrer politischen Gesinnung. Wie wäre es sonst möglich, dass im rechtsextremen Tross, begleitet von Esoteriker*innen und Medizinkritiker*innen auch linke Genoss*innen mitmarschieren? Die Frage, was Menschen dazu bewegt, sich auf einen Flug in verschwörungsreiche Höhen zu begeben, beschäftigt mich seit langem.
Der Acker ist fruchtbar ...
Seit beinahe zwei Jahren müssen wir uns im Dickicht der täglichen, mantraartig kommunizierten, häufig widersprüchlichen Informationsfülle zurechtfinden. Der Slogan der Stunde lautete lange Zeit »beobachten und abwarten«. Das bedingt Ungeduld und erschwert das Verständnis für die hochkomplizierten Interdependenzen des pandemischen Geschehens. Es führt neben der Sorge um das Gesundbleiben zu einem Verlust überschaubarer, sicherheitsspendender und planbarer Lebensgewohnheiten und zerstört das Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Resilienzfördernde Faktoren des Handelns sind außer Kraft gesetzt. Die Pandemie lässt keine Sinnhaftigkeit erkennen, stellt eine rasche Bewältigung der Krise in Frage und die Verstehbarkeit politischer Maßnahmen und Expert*innenmeinungen wird durch viele Fehler im Krisen-Management verhindert. Ein Gefühl von Ausgeliefertsein und von Machtlosigkeit ergreift viele Menschen. Der Körper scheint im Moment für viele Menschen der letzte Rückzugsort autonomer Entscheidungsmöglichkeit zu sein. Daher kein »Stich«!
Die individuellen und kollektiven Folgen sind bekannt.
Öl in die Flammen …
Den Folgen dieser Entwicklung zu begegnen schaffen Menschen leichter, wenn sie auf die Fähigkeit zu Ambiguitätstoleranz zurückgreifen können. Ohne diese Fähigkeit ist es in einer Demokratie schwer möglich, unterschiedliche Meinungen, politische Überzeugungen und Interessen auszuhalten, ohne sofort destruktiv darauf zu reagieren. Unsicherheiten und Unberechenbarkeiten des Lebens nicht selbst- oder fremdschädigend begegnen zu können, halte ich für ein anstrebenswertes Ziel.
Toleranz meint in diesem Zusammenhang nicht grundsätzlich das Ausschalten von Einspruch und Widerstand – sie ist vielmehr als Hilfe zur Entschärfung innerer Spannungen und Unsicherheiten zu begreifen, um nicht in den Modus der schwarz/weiß und Freund/Feind Vereinfachungen zu verfallen. Populist*innen schlagen mit ihren billigen Schlagworten und Lügen daraus Kapital und tragen wesentlich (seit jeher) zur Eskalation des gesellschaftlichen Klimas bei.
Aber um die Pandemie als gesundheits politisches Problem scheint es den populistischen Brandstifter*innen gar nicht mehr zu gehen. Ähnlich einer Metamorphose von der Täter*innenrolle in die Opferrolle schlüpfen sie jetzt in die Rolle der rettenden Feuerwehr. Der deutsche Soziologe Bröckling hat für diese Populist*innen die Bezeichnung »Trotzheld« gefunden. Als echter, heroischer Widerstandskämpfer (ungegendert) bietet er den Mächtigen die Stirn und wird dadurch selbst zu einem verführerischen Mächtigen. Der Rollenwechsel Opfer – Täter und umgekehrt ist den Österreicher*innen allzu vertraut.
Wozu Verschwörung?
Eine andere Möglichkeit, der belastenden Krisensituation zu entkommen, ist das Tragen einer esoterischen oder verschwörungstheoretischen Brille. Die vermindert zwar die Sehschärfe, aber der absichtlich verschwommene Blick auf die Realität mildert individuelle Gefühle von Überforderung und Angst.
Die Grundannahmen der verschiedenen Verschwörungstheorien sind einander ähnlich. Sie gelten immer als ein Krisensymptom. Fachwissen verliert an Bedeutung – »gefühlte Wahrheit« gibt Sicherheit. Die Stimme des Intellektes wird immer leiser. Auch die von vielen geforderte, explizit linke Kritik verschafft sich kein Gehör. Politik und Wissenschaft verlieren (noch deutlicher) an Glaubwürdigkeit und Kontrolle. Die Zugehörigkeit zu einer Elite stärkt die Überzeugung, im Besitz des alleinigen Wissens zur Erklärung komplexer Phänomene zu sein. Der Politikwissenschaftler Michael Borkun nennt als Charakteristika, dass »Nichts durch Zufall« geschieht, »Nichts ist wie es scheint« und »Alles miteinander verbunden« ist. Unterstützt durch Soziale Medien werden Fakten zu Fakes und erleichtern den Verschwörer*innen ihre perfiden Pläne umzusetzen. Böse Kräfte (Pharmaindustrie?) und Gruppen (Politik? Institutionen?) manipulieren die getäuschten Massen. Außerdem erregen gruselige Geschichten mit mythischen Inhalten Aufmerksamkeit. Auch diese Erregung machen sich rechtsextreme Polit-Akteur*innen zunutze und malen mit vereinfachender Rhetorik immer neue Feindbilder.
Die Erinnerung an 2015 wird aktiviert und zeigt die Austauschbarkeit von Feind bildern.
Chemtrails am politischen Himmel?
Konspirative Verschwörungsideen sind nun auch nichts Neues. Bis ins 20. Jahrhundert waren sie sogar Teil anerkannten Wissens. Erst nach dem zweiten Weltkrieg begann ein Prozess der Delegitimierung. Spaltungsversuche der Öffentlichkeit durch Funktionalisierung dieser Theorien gewannen an Bedeutung.
Studien belegen, dass besonders Gruppen, die von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind und sich machtlos fühlen, eine stärkere Neigung zu Verschwörungsideen haben. Auch Menschen, die von berechtigten oder nur befürchteten Abstiegsängsten geplagt sind, lassen sich »anstecken«.
Dass die Tendenz zu konspirationistischen Erklärungen bei Linken wie Rechtsextremist*innen vergleichbar hoch ausgeprägt sein soll, hat mich doch verwundert. Vielleicht ist das ein Beleg dafür, dass die Organisation des psychischen Apparates nicht durch ein Parteibuch vorgegeben ist, sondern auch von Kräften des Unbewussten gesteuert wird. Ein »politischer Kommentar« von Marx könnte vielleicht ergänzend anmerken, dass sich in einer verschwörungsanfälligen Haltung keine »materiellen Verhältnisse widerspiegeln – so, als wären Ideen ausschließlich eigenständige Phänomene des Geistes«.
Diese Widerspiegelung der Verhältnisse scheint sich eher im Verhalten der Viren zu zeigen: Sie verhalten sich, neoliberalen Dogmen gemäß, angepasst und flexibel. Sie bekommen nicht genug von Vermehrung, Erneuerung, Mobilität, Individualisierung. Sie zeigen globalisierte Wirksamkeit, grenzüberschreitende Reiselust, das Gemeinwesen zerstörende Kraft und mörderische Absichten. Aber sie verbreiten sich solidaritätsbewusst unter Ihresgleichen, begünstigen aber Spaltung allerorts.
Ein starker Arm wird schwächer?
Solidarität galt einmal als starker Arm und als der Kampfbegriff früherer Arbeiter* innen bewegungen. Wenn Solidarität meint, eigene Interessen, mitunter auch im Interesse des Gemeinwohls, zurückzustellen, zeigt die Praxis unseres Corona-Lebens eine andere Wirklichkeit. Wer soll da mit wem Mitgefühl haben, sich mit wem verbünden?
Der ATX-Manager, der bereits am 9. Jänner des Jahres das (Median)Jahresgehalt eines Beschäftigten bezogen hat, mit der noch immer auf den Bonus wartenden Handelsangestellten? Eine Corona-Bagatellisierer*in mit der erschöpften Pflegeperson im luftdicht abgeschlossenen Astronautenkostüm? Eine vierköpfige Familie im Homeoffice mit einem Prominenten beim Après-Ski? Arbeitslose Jugendliche mit einkommensgesicherten, pensionierten Senior*innen? Übersubventionierte Industrielle mit verunsicherten Kurz arbeiter*innen?
Tätige Mitmenschlichkeit als Basis für Solidarität kann auf Dauer nur entstehen, wenn das Fundament gesellschaftlicher Organisation nicht auf unvereinbaren Interessensgegensätzen beruht. Der inflationäre Gebrauch des Appells an Zusammenhalt (Mund halten?) und Solidarität höhlt deren sinnhafte Verwendung aus, hilft aber, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich zu verschleiern. Ein Spaltungsfuror macht sich quer durch alle sozialen Schichten/Klassen bemerkbar und hat sich auch in das Leben der linken Community eingeschlichen.
Diese Spaltungsprozesse sind unter anderem Folge von neoliberaler Hegemonie und einer Verherrlichung der Meritokratie – auch durch die akademische Linke. Und die unselige Konkurrenz zwischen Identitätspolitik und sozialen Kämpfen verdient auch keinen Solidaritätsorden. Daher hat die von mir gerne zitierte Aufforderung von Rosa Luxemburg an politische Aktivist*innen zu Selbstkritik und Reflexion gerade jetzt große Bedeutung.
Diesmal aber hat Karl Marx das Schlusswort. Er schreibt in den Debatten über Pressefreiheit: »Die erste notwendige Bedingung der Freiheit ist aber Selbsterkenntnis. Und Selbsterkenntnis ist eine Unmöglichkeit ohne Selbstbekenntnis.«
Daher gehört Corona-Politik für mich nicht in die Hände von Ideologien, sondern sollte Herausforderung und Aufgabe einer ethisch verantwortungsvoll handelnden Gesundheitspolitik sein. Nicht zu vergessen die anderen Politikbereiche – auch sie verdienten wieder mehr Augenmerk!