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Robert Sommers Meisterwerk hält nicht nur den Vergleich mit Ulysses von James Joyce aus. Eine Rezension von Peter Karl Fleissner

Nun liegt der Quader vor mir, anderthalb Kilo schwer, mit den Abmessungen 210 x 114 x 45 mm, bestehend aus 833 bedruckten Seiten, davon 114 Seiten Farbbilder (die aller­dings unter zu geringer Auflösung leiden): das neueste BLEND WERK von Robert Sommer, 25 Euro billig, gedruckt in Budapest, erschie­nen zur rechten Zeit in Favoriten, 2021. Als Naturwissenschaftler und Techniker im (Un)ruhestand habe ich vorschnell zugesagt, diesen umfangreichen Text zu rezensieren, ohne zu ahnen, worauf ich mich da eingelas­sen habe. Meine Wunschvorstellung war, die Rezension als Urlaubszeitvertreib wie einen Krimi genüsslich am Meeresstrand zu lesen, aber dazu war das Buch zu schwer und die digitale Variante im Sonnenlicht am Laptop zu dunkel. Erst nach der Rückkehr an meinen Schreibtisch kam mir nach und nach zu Bewusstsein, welches Meisterwerk auf mich wartete.

Zunächst Formales: Der Text ist streng in kurze Abschnitte von genau zwei Druckseiten gegliedert, jede Doppel­seite trägt links oben eine Über­schrift in fetten Großbuchstaben. Öffnet man das Buch auf einer beliebigen Seite, wird der voll­ständige Abschnitt mit seiner spezifischen Thematik sichtbar. Die Übersichtlichkeit verliert sich aber bald, denn die Über­schriften sind, wenn gleichlau­tend, mit römischen oder arabi­schen Ziffern durchnummeriert. Die jeweilige Variation unter­scheidet sich manchmal kaum, manchmal aber deutlich, von ihrer Vorläuferversion. Solche Eigenschaften sind nur äußerliche Vorboten für den noch ungewöhnli­cheren Inhalt.

Je mehr ich las, desto mehr staunte ich. Ich ließ meiner Phantasie freien Lauf, um ein Gleichnis für dieses Werk zu finden. Mein prosaisches Ergebnis: eine Grottenbahn aus dem Prater. Auch dort wer­den die neugierigen Passagiere von Halt zu Halt geführt, wobei genügend Zeit bleibt, das kaleidoskopartige Bild, das sich den Betrachte­rInnen bietet, genau unter die Lupe zu neh­men und die Eindrücke wirken zu lassen. Dann und wann drängt sich der Gedanke auf: Stopp, da war ich doch schon einmal. Und tatsächlich: die elektronische Suche verrät Wiederholungen, Doubletten, ab und zu sogar Tripletten. Ist das ein Fehler, der dem Autor unterlaufen ist? Nein, nein, er macht selbst darauf aufmerksam. Auf Seite 278 lese ich: »Dein Deutschlehrer hat dir sicherlich eingetrichtert, beim Schreiben nicht redundant zu sein. In meinen Texten herrscht nur scheinbar Redundanz. Die ver­meintlichen Wiederholungen stehen jeweils in anderen Zusammenhängen, und es sind nie identische Aussagen. Falls ver­meintliche Dubletten vom Leser, von der Leserin wahrgenommen werden, wird es sie amüsieren, sie zu vergleichen und die Nichtübereinstimmungen zu analysieren und zu deuten. Wer entdeckt, dass eine Idee, eine Situation, eine Erzählung, ein Zitat usw. gleich dreimal in dieser Samm­lung vorkommt, sollte nicht die alzheimer­ische Vergesslichkeit des Autors ins Treffen führen. Wer eine Triplette entdeckt, sollte den Fokus auf die existierenden, vielsagen­den Unterschiede des angeblich Gleichen richten. Dass sich der Autor bei den Entde­ckerInnen von Tripletten erkenntlich zei­gen wird, ist anstandsgemäß.«

Jede Grotte, zu der uns der Autor bringt, birgt eine neue Welt von Gedanken, die von Thema zu Thema hüpfen und mir literari­sche, musikalische, politische und philoso­phische Einsichten und Entdeckungen ver­mitteln, auf den verschiedensten Ebenen. Da finde ich fremde und Sommer’sche dadaistische Lyrik neben topopoetischen Passagen (eine nach Klang und Rhythmus geordnete Aneinanderreihung von geogra­phischen Bezeichnungen oder der Mitglie­der von Fußballmannschaften, die eigent­lich immer laut gelesen oder gesungen wer­den müssten), aber auch guten Witzen, kurz und knapp präsentiert. Die vielen bio­graphischen Details des Autors verraten eine anarchistische Lebensführung links von der Mitte (eine seiner E-Mail-Adressen trägt sogar das Pseudonym Pierre Ramus, hinter dem sich schon vor vielen Jahrzehn­ten Rudolf Großmann, der berühmteste österreichische Anarchist und Pazifist, ver­steckte). Immer wieder fragt Sommer nach den besten Wegen zu einem guten Leben und gibt seine als vorläufig dargestellten Antworten. Dabei ist er von einer entwaff­nenden Ehrlichkeit, die an Selbstverleugnung grenzt, und meine eigene Lebenshaltung in Frage stellt. Sommer lässt seine Zeit als KPÖ-Mitglied nicht aus, ja, er dokumentiert sie sogar im Bildteil, und grenzt sich bis heute von bürokratischen und manchen ideologi­schen Zügen der KPÖ ab.

Die Reise mit der Grottenbahn ist gleichzei­tig eine Kulturgeschichte der Linken und fort­schrittlichen Intellektuellen in Österreich (und darüber hinaus). Immer wieder nimmt der Autor Bezug auf zeitgenössische Ereignisse auf der politischen Landkarte. Beinahe auf jeder Doppelseite begegne ich Menschen in Form von Zitaten, die Robert Sommer treffsicher auswählt. In manchen Fällen waren mir die Personen unbekannt, aber meine Recherche im Internet zeigte mir ihre hochinteressanten, oft auch prekären Biografien, oder erlaubte mir den Zugang zu ihren Musikstücken.

Ich denke, dass das Werk durchaus den Ver­gleich mit dem Ulysses von James Joyce aus­hält (nicht nur wegen des Umfangs: die Aus­gabe des Anaconda Verlags von 2014 hat »nur« 832 Seiten), wobei ich Robert Sommer wegen seiner starken gesellschaftlichen Bezüge zur Gegenwart vorziehe. Denn es geht ihm nicht nur um persönliche Befindlichkei­ten und eigene Gedankenwelten, sondern immer auch um das soziale Ganze, mit dem er sich in künstlerischer und intellektueller Form und auch in konkreten Institutionen auseinandersetzt. Wichtige Koordinaten bil­den die erfolgreiche Zeitschrift Augustin, die von Menschen mit Armutserfahrung auf den Straßen Wiens und im Wiener Umland ver­kauft wird, der Aktionsradius Augarten und das »Institut ohne direkte Eigenschaften« vulgo Perinetkeller. Für sie und für zig wei­tere Projekte ist er Mitgründer, Akteur und Ideengeber. Darunter politisch brauchbare Vorschläge für die Gestaltung von Städten oder für die intelligente Einführung von Com­mons im privaten Wohnbau.

Wenn ein Vergleich mit der Welt der Bilder gestattet ist: Robert Sommer hat durchaus das Zeug, zum Egon Schiele der österreichischen Literatur zu werden. Wie Schiele blickt er immer genau hin, nicht nur auf das Gefällige, sondern auch auf das Problematische und Widersprüchliche, skizziert es mit präziser intellektueller Feder, immer mit Zuwendung, Engagement, Humor und mit Augen AUS DER HERZ GEGEND.

Robert Sommer: ICH KOMM AUS DER HERZ GEGEND MEINE MUT­TERSPRACHE IST DAS HERZKLOPFEN. EIN BLEND WERK. Wien 2021, 833 Seiten, 25 Euro

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EIN BLEND WERK von Robert Sommer, in vier Teil-Präsentationen vorgestellt. Schauspie­lerinnen lesen aus dem Buch.

Volks stimmefest

Samstag, 12 u. 24 Uhr

Sonntag, 12 u. 24 Uhr Frauenpunkt unter den schattigsten Bäumen des Volksstimmefestes.

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Der Begriff »Grundeinkommen« wird mit großer Unschärfe verwendet: Selbst wenn seine Bedingungslosigkeit dem Namen hinzugefügt wird, stellen sich viele ganz Unterschiedliches vor. In seinem neuen Buch versucht Karl Reitter, Klarheit in diese kontrovers diskutierte Frage zu bringen. Und antwortet dabei seinen Kritiker*innen.

Von Max Schlesinger

Karl Reitter hat 2012 in seinem Buch Bedin­gungsloses Grundeinkommen (BGE) eine Begründung seiner Notwendigkeit und eine Konzeption formuliert, wie ein BGE aussehen müsse, damit es wirklich eines ist. Dies veran­schaulicht die lange Zeitspanne, die sich Reit­ter mit dem BGE beschäftigt: Der Mann weiß, wovon er schreibt. Das ist auch die wenigst anzunehmende Zeit, in der Karl Reitter Kritik an seinem Konzept und seiner Position erfah­ren hat – nicht nur von politischen Gegner* innen, sondern auch aus linken Zusammen­hängen, und davon nicht zu knapp. Diese Kri­tiken hat Karl Reitter gesammelt und systema­tisiert, um sich in seinem neuen Buch Kritik der linken Kritik am Grundeinkommen (erschie­nen im Mandelbaum Verlag) damit auseinan­derzusetzen. Mit Namens- und Literaturver­zeichnis und allen Anhängen umfasst es 267 Seiten.

Reitter ist sicherlich einer der profiliertes­ten linken Intellektuellen Österreichs. Er hat zahlreiche Schriften veröffentlicht, an mehre­ren Hochschulen unterrichtet und sich aktiv in vielen politischen Zusammenhängen einge­bracht. Das BGE ist für ihn ein zentrales Mittel, den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhält­nissen zu begegnen und die Gesellschaft so zu verändern, dass »jedem Individuum, egal, was es tut oder lässt, lebenslang die materielle Grundversorgung garantiert« ist. Dafür wie­derholt Reitter nochmals die Kriterien, die ein BGE, das den Namen verdient, erfüllen muss: Es muss allgemein, existenzsichernd, perso­nenbezogen und vor allen Dingen bedingungs­los sein.

Sehr geschickt konfrontiert Reitter die Kriti­ken mit diesen Anforderungen und der Frage, ob es einen Willen gibt, materielle Grundver­sorgung bedingungslos zu gewährleisten. Das ist deswegen geschickt, weil so schnell klar wird, dass die Kritiker*innen offensichtlich eine andere Vorstellung davon haben, was ein BGE ist und wie es wirkt. Sie unterscheidet sich grundlegend von der von Reitter entwor­fenen Konzeption des BGE.

Finanzierung aus Vermögen

Für diese Konfrontation nimmt Reitter seine Leser*innen fest an die Hand; man spürt beim Lesen die Erfahrung des Hochschuldozenten. Im Buch schummelt er uns noch ein weiteres Kriterium für ein BGE »seiner« Konzeption unter: Nicht eines, welches das BGB selber anfordert, sondern seine Finanzierung. Es muss aus Vermögen und nicht (nur) aus Ein­kommen und Verbrauchssteuern finanziert werden. Diese Auffassung zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch: Vom Kapitel über die Sekundärverteilung (nicht nur Ein­kommen, sondern auch Vermögen werden umverteilt) über eine klare Absage an die (Selbst-)Finanzierung durch Verbrauchs­steuern bis hin zu einem Anhang, der die (vermögens-)steuerliche Basis erforscht.

Einer der schwersten Vorwürfe, welcher der Konzeption eines bedingungslosen Grundeinkommens von linker Seite gemacht wird, lautet, dass die Einführung eines BGE entweder eine Kapitulation vor dem Neoli­beralismus oder gar ein verstecktes Voran­treiben neoliberaler Ideen im emanzipatori­schen Pferdekostüm sei. Troja reloaded. Das Pferd ist schnell abgezäumt: Reitter setzt sich mit den Konzepten, die aus bürgerli­chen oder (neo-)liberalen Kreisen kommen, nur kurz auseinander, denn schnell wird klar, dass diese nicht existenzsichernd sind. Das sind keine Grundeinkommen, die Kon­zepte heißen auch nicht so. Sie werden nur als Scheinargumente linker Kritiker*innen benutzt. Trotzdem macht Reitter sich die Mühe, sie beiseite zu schieben.

Sieht man sich die Komposition des Buches an, so ergibt das Sinn: Der Neolibera­lismus baut den welfare state der 1960er, 70er, 80er Jahre zum workfare state um: Ein Zwang zur Arbeit – nicht verfasst, aber gelebt und begründet mit Gesellschaftsver­trägen – hat sich in die Sozialsysteme im Zuge der Neoliberalisierung der Welt hinein­gefressen. Diesem Umbau möchte Reitter mit dem BGE der oben dargelegten Konzep­tion begegnen, als eine Möglichkeit zur Emanzipation.

Umverteilung nach unten

Die ohnehin vergebliche Mühe, die Motiva­tionen der Kritiker*innen zu ergründen, macht sich Reitter glücklicherweise nicht. Ebenso wenig wie er in den psychologischen Untiefen der Kritiker*innen herumstochert – Reitter begnügt sich mit der Feststellung, dass der Standpunkt den Standpunkt bestimmen würde – entwickelt er große Uto­pien, wie ein Leben oder ein Arbeitsmarkt unter Bedingungen eines BGE aussehen könnten. Kaffeesudleserei ist seine Sache nicht. Stattdessen rechnet Reitter ganz nüchtern vor, wie sich Klassen- und indivi­duelle Einkommen in verschiedenen Szena­rien verändern würden.

In diesen Rechnungen, die in statischen Modellen geschehen und keine weiteren Effekte außer Einkommensverteilungen berücksichtigen, verbessert sich in jedem Falle die ökonomische Lage der Arbeiter* innenklasse, selbst wenn Arbeiter*innen durch das BGE aus dem Arbeitsmarkt austre­ten sollten. Das gewählte Modell zeigt, dass es eine Umverteilung von Kapital- zu Grund­einkommen gibt.

Kämpferische Leidenschaft

Doch eine Sache irritiert beim Lesen: die ständige namentliche Nennung der Kritiker* innen. Ihnen ist ein ganzes Kapitel gewid­met. Womöglich muss dies so geschehen, damit nicht der Eindruck entsteht, die Kriti­ker*innen-Szene wäre eine einheitlich auf­tretende mit konsistentem Widerspruch zum BGE, denn dies entspräche nicht der Realität. Vielleicht ist es sogar so, dass das BGE über­haupt nicht im Mainstream der derzeitigen sozialstaatstheoretischen Diskussionen ange­kommen ist, und die Kritiker*innen, die das Konzept dezidiert ablehnen, wirklich nur mehr Einzelne sind, weshalb sie auch namentlich genannt werden müssen.

Diese Möglichkeit im Hinterkopf bleibt dennoch der Eindruck, als ob das Ringen um ein BGE für Karl Reitter etwas sehr Persönli­ches ist. Die kämpferische Leidenschaft, mit der er sich den einzelnen Argumenten wid­met, verstärkt diesen Eindruck. Diese Leiden­schaft bricht sich im letzten Kapitel noch­mals Bahn, wenn Reitter schreibt, was das BGE eigentlich bedeutet: Es ist die Überwin­dung des Kapitalismus. Es hinterfragt die Arbeit in Form der Lohnarbeit, und »wer also die Lohnarbeit nicht in Frage stellt, stellt auch das Kapital und den Grundbesitz nicht in Frage«. Eine klarere Absage an jede Kritik am BGE kann Reitter nicht formulieren. Nicht nur die teils brillante Auseinanderset­zung mit den Argumenten der Kritiker* innen, sondern auch diese klare Konklusion machen das Buch absolut lesenswert für jeden, der*die sich ernsthaft mit einem BGE beschäftigen möchte. Karl Reitter hat sich spätestens mit diesem Werk zum »Angestell­ten des Monats« des BGE gemacht.

Karl Reitter: Kritik der linken Kritik am Grund­einkommen.

Mandelbaumverlag 2021, 267 Seiten, 18 Euro

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Gerlinde Grünn im Gespräch mit Heide Hammer

Wie geht es Jever, Astra und Flens – dei­nen drei Katzen – mit deiner Kandidatur zur Linzer Bürgermeisterin? GERLINDE GRÜNN: Sie leiden etwas unter mangeln­der Aufmerksamkeit und den wahlkampf­bedingten ausufernden außerhäuslichen Aktivitäten.

Wie gefällt dir das neue Werbevideo für Linz? GERLINDE GRÜNN: Nachdem es dem Bürgermeister und seinem blauen Vize missfällt, bleibt einem ja nur Zustimmung über. Sonst ein Sommersturm im Wasser­glas – ich würde mir mehr leidenschaftliche Debatten über soziale Themen und die ungerechte Vermögensverteilung wün­schen.

Was ist an dem Gerücht dran, dass Klaus Luger aus dem KSV ausgeschlossen wurde (kolportierter Vorwurf: Stalinis­mus)? GERLINDE GRÜNN: Der Bürger­meister leugnet seine K-Vergangenheit in jungen Jahren nicht – heute deklariert er sich als sozial-liberal.

Was sind die drängendsten sozialen Pro­bleme in der Stadt? GERLINDE GRÜNN: Die Pandemie trifft nicht alle gleich: Ein­kommensverluste ziehen einen ganzen Rat­tenschwanz von Problemen hinter sich her, das fängt bei nicht bezahlbaren Mietrück­ständen an. Wichtig ist, dass die Kosten der Krise nicht nach den Wahlen durch Budget­kürzungen auf Kosten der Daseinsvorsorge wieder hereingebracht werden. Es braucht wirksame, echte Unterstützung für alle, die am Limit sind: Mieter*innenfonds, Erhöhung des Sozialfonds, Grundeinkommen für Kultur­arbeiter*innen.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle? GERLINDE GRÜNN: Wir unterstützen ein BGE. Kleine Schritte dahin sind auch die Freifahrt auf allen Linzer Linien oder ein Grundeinkommen für jedes Kind.

Welche Sofortmaßnahmen würdest du als Bürgermeisterin gegen die Klimaerhitzung setzen? GERLINDE GRÜNN: Die Investoren­bauwut auf Kosten des Grüngürtels stoppen, autofreie Innenstadt statt Autobahnbau durch die Stadt, ökologisch verträglichen kommuna­len Wohnbau.

Was motiviert dich denn immer wieder politisch aktiv zu sein? GERLINDE GRÜNN: Politisch aktiv zu sein gehört für mich zum Leben dazu, genauso wie Engagement für Familie und Freund*innen. Das beste Antide­pressivum in der derzeit nicht besten aller möglichen Welten.

Wogegen willst du kämpfen? Wo suchst du den Kompromiss? Was würdest du jeden­falls verweigern? GERLINDE GRÜNN: Wir haben uns immer gegen die Verbots- und Ver­treibungspolitik von Armen mit der Stadtwa­che gewehrt und Widerstand organisiert. Genauso verbünden wir uns gegen die klima­feindliche Verkehrspolitik der Stadt. Rassisti­sche und antisoziale Vorstöße der Rechten sind auch in der Kommunalpolitik Alltag und werden dementsprechend pariert.

Wie würdest du das Verhältnis von Linz zum ländlichen Umland beschreiben?

GERLINDE GRÜNN: Wenn etwas Wahres am Werbefilm »Linz ist Linz« dran ist, dann dass Linz ein Dorf mit Hochofen und zu viel Stadt­marketing ist. Der Weg zum nächsten Most­bauern ist nicht weit.

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»haring & the trouts« ist eine queer-feminis­tische Country Rock Band, die 2010 in Graz von Sol Haring und Kordula Knaus gegründet wurde. Am Volksstimmefest sind sie am Sonntag auf der Jura Soyfer Bühne live zu erleben.

Heide Hammer im Interview mit Sol Haring

Wie kommen die Forellen in den Bandnamen? Wie kam es zur musikalischen Entscheidung? Als Profi-Musikerinnen steht euch vieles offen und auch die politische Notwendigkeit der Aneignung Dude-dominierter Gen­res ist überaus vielfältig. Warum pas­sen eure queer-feministischen Texte so gut zur Folk-Musik?

SOL HARING: Ich wollte immer ein Side­project »Country Band« zu meiner Band supernachmittag (mit Anita Peter Mörth), und ich wollte einmal einen Bandnamen, der meinen Nachnamen mit einem »and the XYZ« weiterführt. Nachdem ich Haring heiße (im Hochdeutschen ist das der Hering) passen die Forellen zum Fisch, so wurden wir zu »haring & the trouts« (Forellen sind extrem musikali­sche Fische).

Diese ironische Note in unserem Band­namen spiegelt sich auch in unserer Aneignung des Country-Genres. Country ist historisch gesehen die Musik der US-amerikanischen Arbeiter*innenklasse. Das Genre wird heute stark als weiß, konser­vativ, heteronormativ etc. angesehen. Kordula sagt, es ist interessant, es gegen den Strich zu bürsten.

Wir sind Feministinnen und die Themen unserer Songs entspringen unserer Lebenserfahrung. Unser Sex, Drugs & Rock’n’Roll ist mehr: Sex & Gender Ben­der, wir sind Akademikerinnen (Dr. Sol und Prof. Dr. Kordula, Dr. Jenny und Dr. Dipl.-Ing. Steffi), also viele Dr. Feel Goods mit kreativer Note! Wir kommen aus verschiedenen Ausbildungs- und Genre ­bereichen – theoretisch und musikalisch. Meine musiktheoretischen Kenntnisse sind rudimentär, das können aber die anderen sehr gut. Für’s Songwriting braucht’s keine Theorie, aber für ein Arrangement und für die »gemeinsame Sprache« als die Bandkommunikation ist das manchmal ganz gut. Die Mischung macht’s. Wir singen über die Schuhgröße 42, die ja für Frauen schon anständig groß ist. Alles was nicht in der Norm ist, nicht dem stereotypen Bild der Geschlechter entspricht, das zieht uns direkt an und daraus wird gleich ein Lied gemacht. Themen: diverse durchbrechende Gender­rollen, trans/lesbische Liebe, Prostitution, Armut, Mord, Altern, Sport, Glaube, Mensplaining, die Menschenrechte und Doughnuts …

Magst du Dolly Parton? Gibt es Aus­tausch mit Bands und Leuten, die etwas Ähnliches machen wie ihr?

SOL HARING: Weibliche Vorbilder haben wir eine Menge! (Susan) Tedeschi und Trucks, wenn es um Bandleading und Bühne geht; Joni Mitchell, Patti Smith legendär, historisch und schöne Alterns­vorbilder; die Gitarristin Orianthi, wenn es darum geht, besser als die Männer zu spielen [Sol grinst]. Als Rückmeldung bekommt man: »Die spielt ja fast so gut wie ein Typ.« Tja, was könnte das bedeu­ten? Statistisch gesehen gibt es einfach viel mehr Gitarristen als Gitarristinnen und die fangen meist auch viel viel früher und mit viel Förderung an. Sie erleben früh, dass die Gitarre auch ein Mittel zur heterosexuellen Ordnung des Begehrens ist (Mann hat eine Gitarre und wird begehrt – er ist auf der Bühne, Frau ist die Rezipientin und beklatscht vor der Bühne). Also all dies steht dem im Weg, dass statistisch gesehen ganz viele Frauen gleich in den Teenagejahren zur Klampfe greifen könnten. Der Grazer Verein GRRRLS fördert Frauen in der Pop/Rock­musik – da wird Arbeit gemacht, sodass die typische Sängerin – als Frontfrau einer Männerband – sich auch an Gitarre oder Bass traut …

Ausnahmen sind Vorbilder: Dolly Parton ist ein Star, sie ist eine faszinie­rende Persönlichkeit, tolle Musikerin und eine Businessfrau – als Vorbild eignet sie sich gut! Ich persönliche liebe Bonnie Riatt und Emmylou Harris sehr. Lucinda Williams ist interessant. Die Mitglieder der Chicks (früher Dixie Chicks) sind wichtige Vorbilder. Musikalisch sind aber auch Männer Vorbilder, sie zeigen die Richtung im Genre, wir können uns daran entlang spielen oder die Genres durchbre­chen, die Musik, die wir hören, beeinflusst uns, von Sun House, JJ Cale, The Band, Steve Earle über Tom Petty usw.

Aus dem Punk Rock kommend sage ich: Ich hab keine Angst vor Kitsch und wir wechseln uns ab beim »Schleicher« Schreiben, dazwischen wollen wir Songs zum Abtanzen komponieren. Ich habe frü­her fast immer alleine geschrieben, und jetzt macht es so richtig Spaß mit Kordula zusammen, sie ist strukturiert und stren­ger als ich, was das Melodische angeht, sie ist eine 1a Arrangeurin und bei mir geht’s um die Time (den Rhythmus – der muss sitzen, das ist aber gar nicht einfach zu viert oder zu fünft).

Euer erstes Album ist 2010 erschienen, gerade arbeitet ihr am zweiten mit dem vielversprechenden Namen virtual land. Worum geht es darin? Wendet ihr euch gar vom Country/Folk ab? Wird es elek­tronischer, psychedelischer?

SOL HARING: Es wird wieder folkig, coun­tryesk, bissl poppig, das Virtuelle bezieht sich auf einige neue Songs mit Videos, die wir im Lockdown zusammen produziert haben – vor allem Kordula in Bayreuth und Wien, ich in Kärnten. Vielleicht würde hier ein QR Code zu unserem Youtube Kanal passen?

Inhaltlich geht es um historische Vorbil­der, aber auch um Utopisches. Wie stellen wir uns eine Welt vor, in der ein gemeinsa­mes Miteinander jenseits gesellschaftli­cher Zwänge möglich ist? Es wird viele Songs mit Countrygrooves geben. Mehrere Songs setzen sich auch mit tollen Frauen* der Vergangenheit auseinander: etwa der Schulgründerin Eugenie Schwarzwald oder der in den 1920er und 1930er Jahren in Männerkleidern auftretenden lesbischen Bluessängerin Gladys Bentley. Frauen* also, die schon früher utopisch und jen­seits von Normen gedacht und gelebt haben.

Gibt es verschiedene Bandzusammen­setzungen? Ich habe euch mal mit dem Schlagzeuger Stefan Schreiner von der Band UR gesehen? Arbeitet ihr noch zusammen? Wie funktioniert ein Bandleben ohne gemeinsamen Ort? Bist du gerne Teil einer Gruppe? Einer Band?

SOL HARING: Mit Stefan Schreiner haben wir viel zusammen gespielt, es mangelte aber leider oft an der Zeit für gemeinsames Proben. Daraus hat sich eine Vierer Besetzung ergeben, da ist unser Multitalent Jenny Kremsner am Cajon. Wir haben Probewochenenden und freuen uns immer wahnsinnig auf ein Wiedersehen. Üben muss Frau aber zu Hause allein! Komponieren und Orga bleiben bei Kordula und mir (meist online).

Was schätzt du an der Konzertatmosphäre?

SOL HARING: Es ist aufregend, wenn das Lampenfieber nicht zu groß ist, ist das Livespielen lustig. Wir freuen uns schon sehr drauf – nach all den Lock­downs! Wenn das Publikum tanzt und bei (noch neuen) Liedern den Refrain mitsingt, ist das eine schönes Gefühl.

Für die Wiener linke Szene ist das Volksstimmefest ein Fixpunkt. Hier treffen sich zum Sommerausklang traditionell alle und auch die Redak­tion der Volksstimme hat sich schon oft und ganz naiv gewünscht, es mögen doch zumindest alle Festbesu­cher*innen überzeugte Kommunist* innen sein. Am 26. September wählt Graz. Wie hältst Du es mit der steiri­schen KPÖ?

SOL HARING: Die steirischen Kommu­nist*innen mit Elke Kahr habe ich (in meiner Grazer Zeit) gewählt.

haring & the trouts

Volksstimmefest: Sonntag, 17:15 Uhr - Jura Soyfer Bühne

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Seit ich 1973 nach Wien gezogen bin, war ich auf jedem Volksstimmefest. Was ist in meinen Erinnerungen besonders hängen geblieben?

Essay von Bärbel Danneberg

Früher fand das Volksstimmefest im Juni statt. Wegen des oftmals schlech­ten Wetters wurde es auf das Wochenende vor Schulbeginn im September verlegt, was wettermäßig keinen so großen Unter­schied macht. Dieses Fest ist ein Lichtblick nach der Sommerpause, sagen viele, dort trifft man Bekannte und politische Wegge­fährt*innen, und der Start in den Schul- und Alltagstrott wird dadurch versüßt.

Leckerlis und Frauentreffpunkt

In den 1970er Jahren war ich in meinem »Gebiet« im KPÖ-Grätzel Schiffamtsgasse eingeteilt. Das hieß: Kaum aus dem Urlaub zurück, am Wochenende vor Schulbeginn den Lastwagen mit den Festsachen wie Bänke, Tische, Gaskocher, Bierkisten bela­den (Männersache); und Essgeschirr, Küchenfetzen, Lebensmittel herrichten, Kuchen backen (Frauensache). »Auf der Wies’n« dann wie am Campingplatz um Schattenplätze feilschen. Meine Kinder lie­fen irgendwo in dem Trubel mit. Meine Aufgabe war es, die für den 2. Bezirk legendären Schnitzel mit Kartoffelsalat zu servieren und zu kassieren.

Eine Zeitlang war ich auch Losverkäufe­rin, »Tombolalose, Arbeitslose« skandier­ten wir jungen Verkäufer*innen spaßhalber im Chor, fast jeder Treffer eine Niete und alle hofften auf das Ausstellungspracht­stück Skoda. Nur wer eine Festschleife gekauft und beim VS-Zentralstand einge­worfen hatte, besaß eine Chance. Die im großen Zelt ausgestellten Preise, viele aus den damals noch existierenden sozialisti­schen Ländern, warteten auf ihre Gewin­ner*innen. Ich gewann einmal ein Bügel­eisen und 2007 den Hauptpreis: 50 öster­reichische Filmraritäten aus dem Filmarchiv Austria. Ein Leckerbissen.

Als ich mich von meinem damaligen Lebensgefährten trennte, hieß das auch Trennung von meinem Bezirk. Das Private ist politisch. Ein paarmal kochte ich riesige Waschkessel voll mit russischem Borschtsch für den 3. Bezirk, auch ein Ren­ner, und dann war ich am »Frauenstand« gut aufgehoben. Irma Schwager brachte jedes Jahr ihren sagenhaften Zwetschgen­kuchen, nicht nur umschwärmt von den Wespen, und Maria Lautischer, verantwort­lich für den »Klub der politisch interessier­ten Frau« vom Bund Demokratischer Frauen, organisierte die tollsten politischen Diskussionen zu den damals noch heiß (und heute wieder) umstrittenen Themen wie »Schwangerschaftsabbruch«, »Selbstbe­stimmungsrecht der Frau« oder »Putzfrau – ja oder nein?«

Ein heißer Renner war auch die lebens­große Foto-Attrappe von Clara Zetkin, durch deren ausgeschnittenes Gesicht der eigene Kopf geschoben und ein Polaroid-Foto erstanden werden konnte. Einmal hat Christine Nöstlinger aus ihren Büchern gelesen, und auch Johanna Dohnal besuchte unseren Frauenstand.

Unsere Kinder am Frauenstand waren damit beschäftigt, auf dem alten Baum­stamm ihre Rutschkünste zu beweisen, wir Mütter verarzteten die geschundenen Knie, die Väter waren politisch wichtig irgendwo anders. Der Frauenstand war ein »Muss«, Bücher, Broschüren und Sangria, von Mar­git Niederhuber eingeführt, waren ebenso begehrt wie unsere Diskussionen. Unser politischer Elan war rührend, mit Eifer argumentierten wir gegen den NATO-Dop­pelbeschluss und für das friedliebende sozialistische Lager an unserer östlichen Grenze. Mit der Zeit nahm das Picasso-Gesicht auf den begehrten BDF-Leiberln Pausbackenform in Brusthöhe an, wir wur­den älter und abgeklärter.

Literatur, Musik, Kunst

Meist versäumten wir vom Frauenstand wie auch all jene, die »ihre Bezirksstände« betreuten, das politische und kulturelle Festprogramm. Wir ließen es uns dennoch nicht nehmen, über die salopp geschwun­genen Damenbeine beim Auftritt der DDR-Frauen am Neuen Deutschland-Stand zu läs­tern, uns über die Blasmusik der tsche­chischen Trachtenkapelle oder das lauthals ausgerufene »Frische Fische aus Simme­ring« zu amüsieren. Wir wollten lieber die lateinamerikanischen Salsa-Klänge, Stefan Webers »Drahdiwaberl«, Sigi Marons »Leckts mi am Oasch« oder die vielen, damals noch unbekannten Bands auf der Hauptbühne hören. Und ich wollte die Lesungen mit Jelinek, Scharang, Turrini oder den Überbleibseln der Literaturprodu­zenten eines Lutz Holzinger nicht versäu­men und die Auftritte der Literat*innen beim »Linken Wort« aus »meinem Arbeits­kreises schreibender Frauen« oder dem »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« ver­folgen. Meist ein frommer Wunsch.

Ein Höhepunkt war für viele die ZB-Galerie der Künstler*innen: Bilder von bekannten Größen wie Alfred Hrdlicka konnten ebenso wie die von weniger Bekannten gekauft oder ersteigert werden, eine Zierde bis heute für so manches linke Wohnzimmer. In meinen Erinnerungssplit­tern tauchen »Größen« auf, die damals als »Kleine« am Volksstimmefest erste Öffent­lichkeit hatten. Viele finden sich im Bild­band 100 Jahre KPÖ, der 2018 erschienen ist. Am Festgelände ist immer Gelegenheit, auch darüber Erinnerungen auszutauschen. Gerade die kleinen Kunst- und Kultur ­schaffenden machen das Volks stimmefest zu einem Platz der vielen (Un-)Möglich ­keiten. Für meine Kinder und Enkelkinder, mittlerweile dem »Kinderland«-Kasperl entwachsen, ist das erste September ­wochenende auf der Jesuitenwiese ein Fix­punkt, sie kennen all die neuen Bands, und einer ihrer engsten Kumpels von damals spielt heute bei der Band Kreisky.

Umbrüche und Klogespräche

Den Zusammenbruch der sozialistischen Länder spürten auch die Programmgestal­ter*innen. Die traditionellen Sportwettbe­werbe fielen mehr oder weniger flach, ebenso die Schachturniere und viele Attraktionen aus den befreundeten sozia­listischen Organisationen. Es ist dem frei­willigen Engagement vieler Genoss*innen zu verdanken, dass im Laufe der Jahre der Leerraum durch andere, auch internatio­nale Initiativen gefüllt wurde und das Fest seit Jahrzehnten nach wie vor das schönste von Wien ist. Vor allem das Solidorf und die Straße der Initiativen wurden zum Magnet für Besucher*innen.

Unser Frauenstand wurde zum Eingang hin verlegt. Jedes Jahr gelingen uns mit der Plattform 20000frauen und dem Organisationstalent von Heidi Ambrosch inte­ressante politische Diskussionen und künstlerische Auftritte wie zuletzt die Per­formance Red Silence mit Aiko Kazuko Kurosaki: Die Frauen zogen mit den Trommlerinnen, die Pace-Fahnen schwin­gend, gegen Gewalt an Frauen übers Fest­gelände. Damals wie heute sind die Klos Gesprächsstoff – früher mussten Frauen zahlen und Männer nicht, das ist heute vielleicht aufgrund der Frauenproteste nicht mehr so, aber die Warterei ist die gleiche und es sind immer die interessan­testen Gespräche in der Klo-Warte­schlange.

Gegen Mitternacht dann die letzten Run­den zum Kuba-Stand oder zu den Bezirks­ständen auf einen Abschiedstrunk, und so manche Liebe begann dort. Zu meinen frü­hen Erinnerungen zählt das Feuerwerk zum Abschluss des Volksstimmefestes, bevor die Wiener Linien verstärkt Straßen­bahngaranituren für die Heimtorkelnden einsetzten und das »Aahh« und »Oohh« der müden Kinder, die ihre Schultaschen für den nächsten Tag noch packen muss­ten, verklungen war.

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Gleichwertige Ungleichheit?

Eine Kritik am Intersektionalismus steht im Mittelpunkt der neuen Ausgabe von Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung.

Von Krista Springer

»Wir sind jedoch nicht überzeugt, dass eine sozialistische Revolution, die nicht auch eine feministische und antirassistische Revolution ist, unsere Befreiung garantie­ren wird. Wir stehen vor der Notwendig­keit, ein Verständnis von Klassenverhält­nissen zu entwickeln, das die spezifische Klassenposition Schwarzer Frauen berück­sichtigt.«

The Combahee River Collective Statement (1977)

Mit diesen Worten begründete das Schwarze feministische Combahee River Collective in den 1970er Jahren die Notwendigkeit intersektionaler Politik. Heute ist Intersektionalität aus dem akade­mischen wie politischen Diskurs nicht mehr wegzudenken. Stand die Forderung des Combahee River Collective noch auf marxistischen Füßen, so stößt man im heu­tigen Mainstream hauptsächlich auf ein liberal geklärtes Verständnis. Intersektio­nalität ist damit bei weitem nicht die erste politische Intervention, die zum Opfer libe­raler Vereinnahmung wurde.

Die in Frankfurt/M. erscheinende Z. Zeit­schrift für marxistische Erneuerung erhebt die Kritik am Intersektionalismus zum Schwer­punkt ihrer aktuellen Ausgabe. Die Autor:innen inspizieren darin sorgfältig die Anfänge und Weiterentwicklungen der Intersektionalitätsdebatte. Herausragend sind jene Texte, die aus dieser Kritik heraus eine alternative Analyse von Rassismus und Geschlecht entwerfen. Auch wenn sich Intersektionalität schon seit geraumer Zeit mit Kritik aus den eigenen Reihen konfron­tiert sieht, ist es der Verdienst der Z., die Mängel dieses theoretischen Konzepts in gesammelter Form auf Papier zu bringen. Die Stärke der Ausgabe liegt weniger in den Kritikpunkten selbst – Kenner:innen der Auseinandersetzung sind sich dem Gros der konzeptuellen Schwächen bewusst – als vielmehr in den Perspektiven, aus denen sie in die Debatte getragen werden sowie den marxistischen Gegenentwürfen, die einige Beiträge skizzieren.

Was ist Intersektionalität?

Im akademischen Diskurs etablierte sich der Intersektionalitätsbegriff durch die Arbeiten Kimberlé Crenshaws. Als Juristin kritisiert sie das US-Antidiskriminierungs­recht, Überschneidungen von Diskriminie­rungsachsen unbeachtet zu lassen und daher vielen Betroffenen keine juristische Absicherung bieten zu können. Sie argu­mentiert ihre Forderung anhand eines Prä­zedenzfalls bei General Motors, wo im Zuge einer Massenentlassung fast alle Schwarzen Arbeiterinnen des Unternehmens gekün­digt wurden. General Motors wertete den Vorgang weder als rassistische noch als geschlechtsspezifische Diskriminierung, da weder Schwarze Männer noch weiße Frauen von der Kündigung betroffen waren. Crenshaw folgert, dass erst die Ver­knüpfung von Geschlecht und Rasse aus­schlaggebend für die unrechtmäßigen Ent­lassungen gewesen war.

Historisch folgte aus diesem Verständnis von Ungleichheit schließlich ein Kanon theoretischer Beiträge, der sich in folgen­den Kernpostulaten zusammenfassen lässt: Unterdrückungsformen sind nicht von ­einander zu trennen und lassen keine Prio­risierung untereinander zu. Neben der indi­viduellen – wie im juristischen Fall – sind auch die strukturelle, repräsentative und diskursive Ebene gleichermaßen in die Analyse miteinzubeziehen. Darin sind Iden­titäten heterogene, historisch gewordene und gruppenbasierte Gebilde. Intersektionalität ist schließlich auf­grund seiner aktivistischen Praxis eine Kritik von Macht und zugleich eine Quelle von Gegenmacht.

Fehlender Gesellschaftsbegriff

Die Autor:innen des Leitbeitrags (John Lütten, Christin Bernhold und Felix Eckert) vollziehen eine ausführliche Sezierung dieser theoretischen Grundlagen. Ihr Hauptkritikpunkt ist der fehlende Gesellschaftsbegriff. Im Laufe der Lektüre ergibt sich daraus der gesellschaftstheoretisch interessanteste Kritikpunkt: In diesem abwesenden Gesellschaftsbegriff gründe das praktische Unvermö­gen, erfahrungsbasierte Identitäten als den Subjekten gegenüber­stehende verdinglichte Entitäten zu kritisieren. Der Intersektiona­lismus bestätige diese Entfremdung viel mehr.

Der zweite zentrale Kritikpunkt beschreibt, dass sich die Inter­sektionalität als Gegenkonzept zum Primat der Klasse versteht, dem Konzept selbst aber die klassenförmige Vergesellschaftung von Subjektiven als zentraler Mechanismus von Herrschaft und Ausbeutung fehlt. Klasse taucht nur noch als ökonomische Benach­teiligung in Form von »Klassismus« auf; einem zahnlosen Antidis­kriminierungsbegriff, dem letztlich Herrschaftskonformität inhä­rent ist. In den Worten der Autor:innen: »Im Intersektionalismus werden Ungleichheitsverhältnisse und ihre Überschneidung beschrieben, aber nicht erklärt; die Gesellschaftsanalyse erschöpft sich […] im Aufsummieren von Diskriminierungsverhältnissen. Der grundlegende Stellenwert von Ausbeutungsverhältnissen und Klas­seninteressen sowie ihre Vermittlung in Politik und Kultur lässt sich auf diese Weise nicht thematisieren. […]. Der Intersektionalis­mus gibt daher keine Agenda für grundsätzlich gesellschaftskriti­sche Analyse und Politik her.«

Intersektionalismus liefere somit eine Beschreibung statt eine Erklärung von Herrschaft. Auch wenn von Vertreter:innen der Strömung abgelehnt, resultiere das intersektionale Konzept letzt­lich in einem additiven Verständnis von Herrschaftsverhältnissen. Zusätzlich lade der fehlende Gesellschaftsbegriff dazu ein, keine strukturverändernde politische Strategie zu skizzieren. Hier ließe sich einwenden, dass Intersektionalität als Hilfsmittel für eine umfassende Gesellschaftsanalyse konzipiert ist, anstelle den Anspruch zu stellen, selbst Gesellschaftstheorie zu sein. Nichtsdes­toweniger bleibt in der Vielfalt intersektionaler Beiträge häufig ungeklärt, welches Verständnis von Gesellschaft die Grundlage der Analyse bildet. Das Plädoyer für die Gleichrangigkeit von Ungleich­heitsachsen, um eine angebliche politisch-normative Hierarchisie­rung des Marxismus zu vermeiden, mündet schließlich in einer prinzipiellen Ablehnung historisch-materialistischer Gesellschafts­theorie: Das Kind wurde sozusagen mit dem Bade ausgeschüttet. Übrig blieben Identitäts- und Diskriminierungsfragen, die die zugrundeliegenden Verhältnisse wenig bis gar nicht erklären kön­nen.

Offen bleibt jedoch, wie die Autor:innen das Verhältnis von poli­tischer Erfahrung und Struktur bestimmen wollen, wenn Erfah­rung als politischer Ausgangspunkt von Identität und Intersektio­nalität kritisiert wird. Ist Erfahrung denn etwa nicht konstitutiv für ein Verständnis von Gesellschaft? Sollten Linke das erlebbare Irritationsmoment mit der Gesellschaft, das einer Strukturkritik praktisch immer vorausgeht, nicht sogar fördern?

Geschlecht und Rassismus marxistisch verstehen

Für Marxist:innen sind zwei Beträge von besonderem Interesse. Gemeinsam ist ihnen die Kritik der kapitalistischen Produktion von Identität. Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbo heben an Ende ihres Beitrags »Rassismus, Identität und Marxismus« glän­zend hervor, wie uns Kategorien wie Weiß, Schwarz und Migrant:in und damit letztlich verdinglichte Identitäten als Normalität begegnen. Hinter diesen imaginierten Kol­lektiven verschwindet die ihrem Phantasma zugrundeliegende materiellen Struktur und damit letztlich die darin eingebetteten Sub­jekte als politisch Handelnde.

In eine ähnliche Richtung argumentiert der Text von Kim Lucht und Margareta Steinrücke »Was macht die Klasse mit dem Geschlecht?«. Während die These eines klas­senförmigen Vergeschlechtlichungsprozes­ses – dem »Klassengeschlecht« – empirische Schwächen aufweist, ist die Kritik an den Konsequenzen einer Vervielfachung von Geschlechtsidentität als Konservierung tra­ditioneller Formen von Weiblichkeit und Männlichkeit sehr plausibel. Das genannte Defizit könnte der von Martha E. Gimenez beigetragene Artikel zur »kapitalistischen sozialen Reproduktion« auf theoretischer Eben ausgleichen. Der vielversprechende Absatz bleibt dann aber sehr knapp. Hier wäre eine genauere Ausführung spannend gewesen. Interessierten sei also geraten, das Buch von Gimenez zu lesen.

Die neue Z. ist ein Muss für Marxist:innen und all jene, die sich in die Intersektionali­tätsdebatte aus einer kritischen Perspektive einlesen möchten. Zudem erfreut, dass die Ausgabe zahlreiche junge und weibliche Autor:innen zur Wort kommen lässt, die sich der kritischen Gesellschaftstheorie ver­schrieben haben. Obgleich die marxistische Kritik im deutschsprachigen Raum dazu neigt, sich abwehrend hinter Zitaten aus Marx-Engels-Werken zu verschanzen – auch die Z. blieb davor nicht gewahrt –, gelingt der Ausgabe ein hoffnungsvoller Ausblick auf die Erneuerung marxistischer Gesell­schaftsanalyse.

Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, »Kritik des Intersektiona­lismus«,
Nr. 126, Juni 2021, 10 Euro

www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de

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Von Peter Fleissner.

In der deutschen Linkspartei rumort es. »Die Selbstgerechten«, das neueste Buch von Sahra Wagenknecht, hat Öl ins Feuer gegossen und eine emotional aufgeheizte Debatte über die richtige Politik der Partei losgetreten, eine Debatte, die durch Ver­luste bei den WählerInnen an Dringlichkeit gewonnen hat. Worum geht es dabei?

Es ist sicher hilfreich, zwischen den Sach­argumenten für eine bestimmte Richtung der Politik und den parteistrategischen Aspekten zu trennen. Zum einen: Welchen Weg soll die Politik der Linkspartei länger­fristig einschlagen? Und zweitens: Wie kann sich die Partei nach Beantwortung der ersten Frage möglichst mehrheitsfähig positionieren? In ihrem Buch hat Sahra Wagenknecht Ursachen für die Abweichung von der traditionellen Linken unter die Lupe genommen und sich für einen neuen – eigentlich alten – Weg stark gemacht. Das »Wie?« eines Übergangs bleibt aber im Dunkeln.

Zur Person

Sahra Wagenknecht ist eine erfahrene und in den Medien präsente Politikerin. Nach vielen Jahren im Vorstand der PDS war sie nach der 2007 vollzogenen Vereinigung mit der WASG zur Nachfolgepartei Die Linke bis 2014 eine der stellvertretenden Parteivor­sitzenden. Internationale Erfahrung gewann sie von 2004 bis 2009 als Mandats­trägerin im Europäischen Parlament, seit­her vertritt sie Die Linke im Deutschen Bundestag, von 2015 bis 2019 als Fraktions­vorsitzende. Die studierte Ökonomin, die sich lieber als Ökonom bezeichnen lässt, hat immer wieder für Aufsehen gesorgt, etwa 2018 durch die Gründung einer linken Sammelbewegung »aufstehen«1 gemeinsam mit ihrem Ehemann Oskar Lafontaine. Sie wollte die verstreute Linke parteiübergrei­fend zu einer neuen gesellschaftspoliti­schen Kraft zusammenführen. Obwohl die Sammelbewegung rasch mehr als 150.000 Mitglieder zählte, gilt sie heute als geschei­tert. Wagenknecht zog sich aus Gesund­heitsgründen daraus zurück. Heuer kandi­diert sie wieder zur Bundestagswahl im September, nachdem sie von der Linkspartei von Nordrhein-Westfalen mit 61 Pro­zent der Stimmen auf Platz 1 der Landes­liste nominiert wurde. Aber gleichzeitig wurde auch Kritik laut: Mehrere Vorstands­mitglieder forderten sie auf, von der Kandi­datur abzusehen, da sie mit ihrem Buch eine Spaltung der Partei heraufbeschwören würde.

Die Linksliberalen

Angesichts der mäßigen Wahlergebnisse der Linkspartei, die meist unterhalb der Zehn-Prozent-Marke liegen (einzige posi­tive Ausnahme war Thüringen mit 31 Pro­zent), meint Sahra Wagenknecht, dass eine Neuorientierung der Parteipolitik auf andere Zielgruppen nötig wäre, um bessere Ergebnisse zu erzielen. Sie konstatiert, dass in der Linken eine Umorientierung weg von der klassischen linken Politik, die sich immer mit den Schwächeren solidarisiert hat, erfolgt wäre. An Stelle einer klassenbe­zogenen Politik hätte die Gruppe der »Linksliberalen« auf Identitätspolitik gesetzt. Dies wäre »eine relativ junge geis­tig-politische Strömung, die erst in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlichen Ein­fluss gewonnen hat«. Wagenknecht veror­tet die Linksliberalen in mehreren Parteien, einerseits in den Reihen der Sozialdemo­kraten (in Österreich wurde der Name Tos­kanafraktion geprägt), die sich dem Neoli­beralismus zugewandt haben; den Grünen, die sich nicht mehr klar für eine Politik des Friedens und der Abrüstung entschieden hätten; und eben ihrer eigenen Partei, in der die Linksliberalen immer stärker den Ton angeben. Dabei wären diese weder links noch liberal.

Weder links….

Links wären sie nicht, denn eine linke Poli­tik hätte sich immer für die eingesetzt, die es schwer haben und denen die Gesellschaft höhere Bildung, Wohlstand und Aufstiegs­möglichkeiten verwehrt. Durchaus partei­übergreifend hätte das linksliberale Milieu aber »seine soziale Basis in der gut situier­ten akademischen Mittelschicht der Groß­städte« (S. 9). Das Auftauchen dieser Milieus ist kein Zufall, sondern ein Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung der letz­ten Jahrzehnte, bei der die Linksliberalen sich mehrheitlich auf der Seite der Gewin­ner fanden, währen die klassischen Arbeiter­schichten, kleine Angestellte, Arbeitslose und sich selbst ausbeutende kleine Selbstständige eine Verschlechterung ihres Lebensniveaus erfuhren.

… noch liberal

Liberal wären sie auch nicht, denn die klassi­schen Liberalen hätten sich neben Freiheit und Toleranz immer auch für soziale Verant­wortung interessiert. Die Linksliberalen hät­ten am Niedergang der Debattenkultur ihren Anteil. Rationale Argumente würden nicht mehr gegeneinander abgewogen, sondern durch Abwertungen und Beschimpfungen ersetzt. Der Diskussionspartner werde zum Feind. Der Diskurs stecke voller Widersprüche und falscher Schlussfolgerungen, die Kontra­hentInnen würden verteufelt. Wagenknecht gibt Beispiele für falsche logische Zuordnun­gen: »Nazis sind gegen Zuwanderung? Also muss jeder Zuwanderungskritiker ein ver­kappter Nazi sein! Klimaleugner lehnen CO2-Steuern ab? Also steckt wohl mit ihnen unter einer Decke, wer höhere Sprit- und Heizöl­preise kritisiert! Verschwörungstheoretiker verbreiten falsche Informationen über Corona? Wer anhaltende Lockdowns für die falsche Antwort hält, steht also mutmaßlich unter dem Einfluss von Verschwörungstheo­rien! Kurz: Wer nicht für uns ist, ist ein Rech­ter, ein Klimaleugner, ein Aluhut … So einfach ist die linksliberale Welt.« (S. 10)

Wahlergebnisse

Die verschlechterten Wahlergebnisse für die linken Parteien und die gleichzeitige Stärkung der Rechten treten nicht nur in Deutschland auf. Thomas Piketty hat in seinem zweiten umfangreichen Werk Kapital und Ideologie (nach Das Kapital im 21. Jahrhundert) die Verän­derungen in der WählerInnenlandschaft detailliert in 13 Ländern untersucht und eine ähnliche Entwicklung festgestellt: Es gibt zwei große Gruppen, die in den 1950er und 1960er Jahren linke Parteien wählten, jedoch in den Jahren 1990 bis 2020 nicht mehr. Es waren dies einerseits Industriearbeiter*innen, anderer­seits einfache Angestellte im Dienstleistungs­bereich, vor allem Menschen in den unteren Lohngruppen und mit geringerer Bildung, die sich von der traditionellen Linken angespro­chen und von ihr vertreten fühlten. Heute seien es die Bessergebildeten und in wachsen dem Ausmaß die Besserverdienenden, die links wählen, während die untere Hälfte der Bevölkerung den Urnen fernbleibt oder für konservative oder rechte Parteien stimmt.

Flüchtlingspolitik

Während viele Linke gemeinsam mit Mer­kel für eine Willkommenspolitik und für offene Grenzen plädierten, meinte Wagen­knecht 2016 in der Zeitung Die Welt: »Dass es Grenzen der Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung gibt, ist eine Tatsache, und dass Kapazitäten nicht unbegrenzt sind, auch. Das festzustellen, ist weder links noch rechts, sondern eine Banalität.« Dies brachte ihr den Vorwurf des Faschismus und den Bewurf mit einer Torte ein. Fünf Jahre später meinen parteiinterne Kritike­rInnen, in Wagenknechts Buch würden Bewegungen wie Unteilbar, Black Lives Matter oder Fridays for Future verun­glimpft, womit sie gegen ihre eigene Partei agiere. Auch durchaus richtige Bemerkun­gen Wagenknechts, dass sich die Wirt­schaftsflüchtlinge eher aus den besser Gebildeten und besser Verdienenden der Herkunftsländer zusammensetzten, dass gerade die qualifizierteren Menschen das Land verlassen würden und die ärmsten Menschen aus Geldmangel gar nicht flüch­ten könnten, werden als Affront verstan­den.

Reformvorschläge

In dieser aufgeheizten Stimmung kommen auch Wagenknechts programmatische Vor­schläge unter die Räder. Obwohl sie in dem Buch Begriffe wie Sozialismus oder Kom­munismus explizit nicht verwendet, sollte dies nicht zu negativ gesehen werden. Alle Vorschläge sind ja immer darauf zu prüfen, ob sie in Richtung Sozialismus weisen.

Wagenknecht verweist auf die Bedeutung des Nationalstaats, der von den Linkslibera­len als altmodisch und kontraproduktiv abgetan wird. Aber nach wie vor ist der Nationalstaat in Europa die Arena, auf der sich die wichtigen politischen Auseinander­setzungen abspielen. Erst in zweiter Linie kommt die Europäische Union, die von den Kräfteverhältnissen auf der nationalen Ebene bestimmt wird. Natürlich heißt das nicht, dass Umweltfragen, Energieproduk­tion, Migration oder digitale Standards auf nationaler Ebene entschieden werden soll­ten, sondern international abgestimmt wer­den müssen.

Für soziale Dienstleistungen (Gesundheit, Pflege) und für die digitale Infrastruktur (Plattformökonomien) schlägt Wagenknecht die Überführung in gemeinwohlorientiertes Eigentum vor. Für private Industrieunter­nehmen wäre eine alternative Rechtsform günstiger, die sie »Leistungseigentum« nennt. Ein solches Unternehmen hat keine externen Eigentümer, sondern Kapitalgeber, die für ihre Einlagen Zinsen erhalten und nach Auszahlung alle Ansprüche auf die Firma verlieren. Die Firma gehört sich schließlich zur Gänze selbst. Dies ist keine Utopie: Zeiss, Saarstahl, Bosch und ZF Fried­richshafen sind so strukturiert.

Refeudalisierung

Wagenknecht konstatiert eine Refeudalisie­rung von Wirtschaft und Gesellschaft, wodurch sich die ökonomische und soziale Ungleichheit und die Armut verstärken. Wohlhabende Schichten schotten sich ab, Misstrauen und Feindseligkeit zwischen unterschiedlichen Lebensniveaus nehmen zu. Das Bildungsprivileg kehrt wieder, Lebenschancen werden stärker von der Her­kunft geprägt und nicht von eigener Leis­tung. Linksliberalismus sei eine große Erzählung der akademischen Mittelschicht, die aus den gegenwärtigen Verhältnissen Vorteile ziehen kann, während Schwächere auf der Strecke bleiben. Die Chancen von Frauen und von Einwandererkindern aus ärmeren Verhältnissen sind heute geringer als vor 30 Jahren, es gibt weniger Integra ­tionsmöglichkeiten, trotz der identitätspoli­tischen Erzählung von der Überwindung nationaler Abschottung, provinzieller Bor­niertheit, von Weltoffenheit, individueller Emanzipation und Selbstverwirklichung.

Es wird die Aufgabe der Partei Die Linke sein, ihr Programm so zu gestalten, dass sie die Emanzipation der Arbeit (Marx) auf allen relevanten Ebenen fördert. Dabei wird es darum gehen, klassenbezogene Forderun­gen mit identitätsorientierter Politik zu ver­binden, ohne die Einheit der Partei aufzuge­ben. Dazu sind Diskussionen auf gleicher Augenhöhe nötig, die ohne Ausschlussdro­hungen und Beschimpfungen auskommen.

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Thomas Keck war der Lebenspartner des 1991 verstorbenen Schriftstellers Ronald M. Schernikau, dessen künstlerischen Nachlass er betreut und herausgibt. Die Volksstimme hat ihn anlässlich des Schernikau-Jahres 2020/21 zum Gespräch gebeten.

In wenigen Monaten geht das »Scherni­kau-Jahr« – 60. Geburtstag im Juli 2020 und 30. Todestag im Oktober 2021 – zu Ende. Wie ist es heute um die Bekannt­heit des Autors bestellt?

THOMAS KECK: 30 Jahre … das ist schon verrückt, oder? Damals gab es zwei, drei Zeitungsmeldungen anlässlich seines Todes, weil doch vereinzelt noch in Erinne­rung war, dass er im Herbst 89 die Staats­bürgerschaft der DDR angenommen hatte, ein paar Tage vor ihrem Ende. Dieser Umzug war bis Tokio groß im Feuilleton. Dabei war er nicht kalkuliert, kein Presse­coup, sondern natürlich aus innerster Überzeugung und gegen alle Widerstände aus West und Ost, grade auch der Partei, von langer Hand vorbereitet; der Zeitpunkt war Zufall.

Nicht ganz dieses Echo, aber doch jeweils starkes hatte die »Milva der deutschen Literatur«, eine schnell Kult gewordene Selbstbezeichnung, bis dahin mit KLEIN­STADTNOVELLE und DIE TAGE IN L., der Erzählung eines schwulen Comingout, als der Begriff noch nicht im Schwange war, in der westdeutschen Provinz und dem Essay über die systembedingte Sprach- und Ver­ständnislosigkeit zwischen DDR und BRD. Und auf dem Schreibtisch hatte er bei sei­nem Tod nach acht Jahren Arbeit fertig, aber ohne Verlag, den Riesenroman LEGENDE liegen.

Anfang der neunziger Jahre krähte kein Hahn nach solcher emanzipierter und hei­ter unbeirrbar um wirkliche Emanzipation werbender Literatur. Wer damals gestorben war, war wirklich, wenn du mir das unmög­liche Wort erlaubst, töter als tot. Schon die Lebenden, die nicht ausführlich coram publico Abbitte geleistet hatten, waren ja nicht bloß an den Rand, sondern rausge­drängt worden aus dem Betrieb und damit in ihrer Existenz geschädigt, so, dass etwa Gisela Elsner, langjährige enge Freundin von Schernikau, keinen Weg mehr für sich sah als den Freitod. An eine Publikation von LEGENDE war nicht zu denken, alle, wirk­lich alle Verlage hatten abgelehnt.

LEGENDE konnte erst Jahre später erscheinen, dank einer Subskriptions­kampagne, an der sich u. a. Peter Hacks und Elfriede Jelinek beteiligten.

THOMAS KECK: Ja, die Zeiten ändern sich, wir ändern sie, um einmal Schernikau zu zitieren: »Eine Niederlage ist eine Nieder­lage, das sind Angelegenheiten bloß eines Jahrhunderts«. Und je undurchlässiger betoniert der Sieg des Westens schien, desto beharrlicher begannen die Leute, Alternativen zu suchen. 1999 hatte es noch starker Worte von Peter Hacks und Elfriede Jelinek und einer Woge der Solida­rität bedurft, um mithilfe von 500 Subskri­bierenden die Erstveröffentlichung zu erzwingen. Heute haben wir, schon seit zwei Jahren, LEGENDE ausführlich kom­mentiert als ersten Band der im Berliner Verbrecher-Verlag in Arbeit befindlichen Schernikau-Werkausgabe vorliegen.

Wir blicken zurück auf erfolgreiche Theaterabende wie die ausschließlich aus Originaltexten zusammengestellte Scher­nikau-Collage DIE SCHÖNHEIT VON OST­BERLIN am Deutschen Theater in Berlin und eine Bühnenadaption von LEGENDE an der Berliner Volksbühne, beide auch über­regional hoch gelobt. Nicht zu vergessen die populäre Biographie von Matthias Frings. Es liegen auch Übersetzungen von KLEINSTADTNOVELLE ins Italienische und ins Spanische vor. Schernikau ist zuneh­mend präsent in der Literaturwissenschaft und den Genderwissenschaften.

Ihr habt in den 1980er Jahren oft gemeinsam Wien besucht. Wo habt ihr gewohnt, wenn ihr hier wart, und wie habt ihr in Wien eure Zeit verbracht?

THOMAS KECK: Grinzing war unser Früh­jahrs-, Sommer- und Herbstwohnsitz. Das hat mit meiner Herkunft aus Wien zu tun – ich bin hier geboren und aufgewachsen und habe das Max-Reinhardt-Seminar besucht – und mit der Tatsache, dass meine Eltern ein bisschen Platz in Gestalt eines Gartenhauses hatten, das ihnen in ihren mittleren Jahren nicht ganz so wich­tig war, als sie in ihren Urlauben lieber auf Reisen gingen. Ein wunderbarer Ort, par­zellierter Weingartengrund mit einem kleinen Holzhaus, das mein Großvater in der globalen Krise der dreißiger Jahre gebaut hatte.

Wir haben oft Monate dort verbracht, die Idee und große Teile von LEGENDE sind in Grinzing entstanden. Schernikau hat hier Wittgenstein gelesen und, stöhnend zwar, aber auch mit Lust und großem Gewinn, Hegel – »Wer sich den Luxus erlau­ben kann, sollte unbedingt Hegel lesen.« – neben der Volksstimme natürlich, die wir als Tageszeitung abonniert hatten, und der gan­zen österreichischen Literatur rauf und run­ter: Ingeborg Bachmann und Friederike Mayröcker, H. C. Artmann, Ernst Jandl und Andreas Okopenko, Michael Scharang und Peter Turrini und Elfriede Jelinek.

Elfriede Jelinek war von all diesen SchriftstellerInnen am wichtigsten für ihn.

THOMAS KECK: Schernikau hat Jelinek sehr genau verfolgt, er kannte und schätzte sie von ihren frühesten Texten beginnend. Ich habe eine Lesung der »Liebhaberinnen« erar­beitet in Westberlin, eine schöne, scharfe, lustige Sache, aber je näher die Premiere rückte, desto mehr hatte ich den Eindruck, irgendwas daran stimmt nicht. Also bat ich ihn auf eine Probe. Und er lachte sehr und fand das alles ganz wunderbar und sagte nur: »Du bist zu lang.« Setzte sich hin und strich das Buch, das ich auswendig kannte, auf die Hälfte zusammen, ich schreiend daneben, weil damit natürlich auch die Hälfte der krassen Pointen entfiel. Was soll ich sagen: er hatte Recht. Dieser beherzte dramaturgi­sche Zugriff fehlt mir bis heute, ich bin wohl eher der Peter Stein von uns beiden.

Er hat immer nach Gründen gesucht, sie zu treffen, aber erst, als er ihr DIE TAGE IN L. schicken und damit seinen Umzug in die DDR melden konnte, hat er sich wirklich an sie gewendet. Spät also kam es zu dieser Begeg­nung, die Elfriede Jelinek sehr schön irgendwo schildert.

Seid ihr in Wien auch direkt mit der KPÖ in Berührung gekommen, etwa am Volksstimmefest? Gibt es Wien-Bezüge, etwa in LEGENDE, die es noch zu entde­cken gilt?

THOMAS KECK: Ah, das Pressefest Ende des Sommers, wo auch immer die PoetIn­nen auftraten, Hand in Hand quasi mit der internationalen Box-Elite und den »kackengeilen«, wie er sagte, Judokas. Von ihnen sammelte er auch Fotos zwi­schen seiner Korrespondenz und den Manuskripten; die Mengen an Handzet­teln, Pamphleten, Aufrufen zu Demos, die wir mitnahmen von dort, Zeugnisse des politischen Tageskampfes.

Ich muss es hier einstreuen, weil es so gut passt, obwohl natürlich kein Wien-Bezug im Speziellen: In LEGENDE gibt es einen kleinen Text, den er als Siebzehn­jähriger für seine Parteigruppe in Hanno­ver geschrieben hat, da sitzen die Tugen­den beisammen und streiten, so nach dem Motto: »Ich bin die erste Sängerin«, wer unter ihnen die Größte sei, bis der Kampf diesen Rang beansprucht und sie ihn wäh­len, denn schließlich erschafft erst sein Zutun eine Welt, in der ihr Strahlen wirk­lich sinnvoll werden wird.

Ich will noch eine kleine Anekdote erzählen: Schernikau hatte großen Res­pekt, andere würden sagen, eine Phobie vor Kirchen. Er hat mir erzählt, er hätte noch nie eine betreten. Eines Tages bat er mich, ihn in den Stephansdom zu beglei­ten. Hand in Hand gingen wir also, nein, wir tasteten uns durchs Riesentor, und wie er sich diesen Raum eroberte, archi­tektonisch und gleichermaßen die Andächtigen, deren Haltungen er respekt­voll nachahmte, um ihren Sinn zu erfas­sen, vom Stecken der Votivkerzen bis zum Knien vor Altären, das gehört zu meinen unauslöschlichen Erinnerungen an ihn. Aufgehoben in LEGENDE.

Schernikau wird heute von der Jungle World und der jungen Welt gleicherma­ßen geehrt und gefeiert. Er ist sowohl für antideutsche Linke als auch für tra­ditionelle MarxistInnen eine »Identifi­kationsfigur«. Hast du eine Vorstel­lung, wie er sich selbst in heutigen politischen Debatten verorten würde?

THOMAS KECK: Du sagst es, aber wer soll das beantworten? Oder so: Schon in Klein­stadtnovelle ist eben nicht das Comingout die­ses Provinzkindes die unerhörte Begeben­heit, die der Titel suggeriert, sondern das, was über das bloß Zeit- und Entwicklungsge­bundene hinausweist, die Emanzipation zum politisch denkenden und agierenden Men­schen. Das ist es, was die Geschichte für immer mit Gewinn lesbar macht.

Noch für die kleinsten Artikel, die wir in KÖNIGIN IM DRECK zusammengestellt haben, gilt das, die Interviews mit Betroffe­nen in dem Beitrag über die Arbeit mit AIDS etwa, die Gespräche mit Cox Habbema und Ingrid Caven, das alles war tagesaktuell und wäre längst veraltet, aber die Leute sprechen, und Schernikaus Zugriff ist immer für morgen und übermorgen. LEGENDE ist ganz Westberlin auf tausend Seiten, aber niemand wird auf die Idee kommen, sie als Westberlin-Roman zu lesen. Ursula Püschel, eine deutsche Litera­turwissenschafterin, hat 2014 geschrieben: »Schernikau ist Weltliteratur.« Und wenn wir jetzt kurz an Homer denken, dann haben wir auch die Antwort: als Dichter.

Der Berliner Verbrecher-Verlag bringt seit 2009 Werke aus Schernikaus Nachlass heraus. Wie geht es mit der Werkausgabe weiter, die ihr 2019 mit LEGENDE begonnen habt?

THOMAS KECK: Es wird noch ein, zwei Jahre dauern. Wir bereiten gerade eine Aus­gabe seiner Briefe vor. Der Tod Schernikaus fällt mit dem Ende des Briefzeitalters zusam­men, und wir haben im Archiv der Akademie der Künste Berlin, wo der Nachlass dauerhaft untergebracht ist, an die tausend von ihm erhalten. Das wird ein Buch!

Interview: Manfred Mugrauer

Thomas Keck wurde 1956 in Wien geboren. Nach dem Studium am Max-Reinhardt-Seminar folgten Engage­ments in Oldenburg, Marburg, Salzburg, Wien und Berlin. Seit 1982 lebt er in (West)Berlin, wo er freibe­ruflich als Schauspieler und Regisseur arbeitet. Er ist Herausgeber der fünfbändigen »Berlinischen Drama­turgie« der von Peter Hacks geleiteten Arbeitsgrup­pen an der Akademie der Künste der DDR, Verwalter des Nachlasses von Ronald M. Schernikau und betreut die Website schernikau.net.

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Unter der Losung »Was tun!« trat der 38. Parteitag der KPÖ zusammen. Fortan wird eine neue Generation Gesicht und Politik der Partei prägen.

Von Michael Graber und Mirko Messner

Drei Mal musste er verschoben werden, am 19. und 20. Juni konnte er endlich stattfinden. An diesem heißen Wochenende versammelten sich rund 150 Kommunist* innen in der VHS Liesing, um den 38. Par­teitag der KPÖ durchzuführen. Es war damit auch das erste größere Zusammen­treffen der Partei seit Beginn der Corona-Zeit, das endlich auch wieder die Atmo­sphäre des kollektiven Beratens, Diskutie­rens und Entscheidens spürbar werden ließ. Delegierte aus allen Bundesländern und Vertreter*innen befreundeter Organi­sationen waren gekommen. Das Bedürfnis, einander wieder zuzuhören, war an der großen Aufmerksamkeit im Saal abzulesen. Während bei den Parteitagen anderer Parteien, aber oft auch bei Parteitagen der KPÖ in der Vergangenheit, die Musik, also die eigentlich relevanten Diskussionen, in den »Couloirs«, d. h. in den Nebenräumen oder beim Buffet spielte, war das diesmal ganz anders.

Generationswechsel

Es war auch deshalb ein besonderer Parteitag, weil er einen Einschnitt und einen neuen Aus­gangspunkt in der Entwicklung der KPÖ bedeutet. Der Einschnitt ergab sich daraus, dass er mit einem gründlichen Generations­wechsel in den leitenden Gremien verbunden war. Mirko Messner, der seit 2006 Bundesspre­cher der KPÖ war, kandidierte nicht mehr für diese Funktion. In gewisser Weise trat die »Nach-68er-Generation« ab, zu der auch der ehemalige Parteivorsitzende Walter Baier und der langjährige Finanzreferent Michael Graber gehören. Sie wurden vom Parteitag mit viel Applaus aus ihren Funktionen verabschiedet.

Motivierende Wahlerfolge

Eröffnet wurde der Parteitag von Michael Gra­ber. Er verwies unter anderem auf den Plan, das Arbeitslosengeld auf 40 Prozent Nettoer­satzrate zu reduzieren, sowie auf den Hinaus­wurf von einem Drittel der Belegschaft im LKW-Werk in Steyr und die Lohnkürzungen von 15 Prozent für den verbleibenden Rest. Darin zeige sich beispielhaft die antisoziale Brutalität, mit der in den nächsten Jahren zu rechnen sein werde. Umso motivierender sei es, dass der Parteitag an einige bemerkens­werte wahlpolitische Erfolge in den letzten drei Jahren anknüpfen kann: Wiedereinzug in den Salzburger Gemeinderat mit KPÖ Plus, Erringung der Vertretung der Alternativen Liste Innsbruck im Gemeinderat mit Unter­stützung und Beteiligung der KPÖ, Ausbau der Vertretung im steirischen Landtag mit den zwei Mandaten, wobei das Dritte nur knapp verfehlt wurde, sowie das gute Abschneiden bei den steirischen Gemeinderatswahlen. Wahlerfolg bei den Wiener Bezirksratswah­len gemeinsam mit Links mit 23 Mandaten in 15 Bezirken, von denen neun statt bisher fünf von Mitgliedern der KPÖ gehalten wer­den. Der fulminante Wahlerfolg der Liste Schuh-KPÖ in Fischamend bei den Gemein­deratswahlen in Niederösterreich, wo mit 12 Prozent sogar die SPÖ überholt wurde, Stim­men- und Mandatszuwachs des Gewerk­schaftlichen Linksblocks bei den Arbeiter­kammerwahlen usw. Insgesamt, so berich­tete Florian Birngruber dem Parteitag, hält die KPÖ derzeit 115 kommunale Mandate, davon 80 in der Steiermark. Und dann gab es vor wenigen Wochen bei den Wahlen zur Österreichischen Hochschüler*innenschaft (ÖH) den Wahlerfolg von KSV-LiLi mit drei Mandaten und absoluten Stimmengewinnen trotz niedriger Wahlbeteiligung an der Uni­versität Wien, der größten Uni im deutsch­sprachigen Raum. KSV-Lili wurde damit drittstärkste Fraktion, noch vor den ÖVP- Student*innen, und ist erstmals auch im Uni­versitätssenat, dem wichtigsten Gremium der Uni Wien, vertreten. In der Bundesver­tretung der ÖH konnten die beiden kommu­nistischen Listen (KSV-Lili und KSV-KJÖ) ihre Mandate von zwei auf vier verdoppeln.

KPÖ nicht allein zu Haus

Mirko Messner und seine bis 2012 Ko-, danach stellvertretende Bundessprecherin Melina Klaus, die ebenso wie die Stellvertre­tenden Christiane Maringer und Michael Schmida nicht mehr kandidierte, referierten den Rechenschaftsbericht gemeinsam.

Heute, so Messner, unterscheidet sich die politische Landschaft stark von jener in den vergangenen Perioden: Einerseits ist die KPÖ wie alle Linksparteien mit einer globalen Umbruchsituation konfrontiert, in der sich vielfältige Krisen ineinander verflechten und insgesamt durch die ökologische Krise ver­tiefen, und in der die Linke weltweit ihren Platz finden muss. Andererseits ist die KPÖ in der österreichischen politischen Land­schaft nicht mehr allein, was den organisier­ten politischen Raum links von SPÖ und Grü­nen betrifft. Beides vergrößere immens die Anforderungen an die Kommunikationsfä­higkeit der Partei, erfordere neue Ansätze der Organisierung gegen eine Rückkehr zur alten Normalität, für soziale Alternativen, für bedingungslose soziale Existenzsiche­rung.

Melina Klaus thematisierte auch den Begriff der Aktivist*innenpartei. Nach dem Verlust des angestellten Apparats seien Spre­cher und Sprecherin 2006 als Ehrenamtliche angetreten. Auch wenn es nicht ideal sei, so eine Funktion als Ehrenamt auszuüben, hät­ten sie hoffentlich aus der Not eine Tugend gemacht – wobei eine stringente bundespoli­tische Arbeit ohne politischen Apparat zu leisten sich allerdings als fast nicht zu leis­tende Aufgabe herausgestellt hätte. Bewährt habe sich die Aktivist*innenpartei, was die vielfältige, in hohem Maß eigenverantwortli­che Tätigkeit der Kommunist*innen auf regionalen Ebenen betrifft. Jedenfalls, so Klaus abschließend, hätten sie die Partei vor allem als eines geschätzt: als pluralistische Partei. Dies nicht nur zu erhalten, son­dern konstruktiv zu nutzen – diesen Wunsch gab sie weiter.

Neue Generation, neuer Sprecher*innenrat

Adressat dieses Wunsches ist neben dem neuen Bundesvorstand nun auch ein neuer sechsköpfiger Sprecher*innenrat aus jungen, aber politisch erfahrenen Genoss*i nnen. Sie erhielten bei der Wahl in den neuen Bundesvorstand einen gro­ßen Vertrauensvorschuss. Das Gesicht der Partei wird sich dadurch wesentlich ver­ändern, liegt doch das Durchschnittsalter des Sprecher*innenrats bei 38 Jahren. Zwei der neuen Sprecher*innen kommen aus der Jungen Linken, der Nachfolgeor­ganisation der Jungen Grünen nach 2017, deren Bundessprecher*innen sie waren: Sarah Pansy und Tobias Schweiger. Kate­rina Anastasiou war Spitzenkandidatin der KPÖ bei den Europawahlen des Jahres 2019, Natascha Wanek und Günther Hopf­gartner gehörten schon bisher dem Bun­desvorstand der KPÖ an, Rainer Hackauf ist seit Beginn dieses Jahres für die Öffent­lichkeitsarbeit des Bundesvorstands zuständig. Heidi Ambrosch wurde als Frau­envorsitzende bestätigt und Florian Birn­gruber als neuer Finanzreferent und Bun­deskoordinator gewählt. Allesamt ein­stimmig in der konstituierenden Sitzung des Bundesvorstands, die wie im mer am Parteitag selbst abgehalten wurde.

Das Konzept »Organizing«

Ein neuer Ausgangspunkt für die KPÖ besteht in der politischen Orientierung, wie sie am Parteitag rund um das Konzept des »Organizing« beschlossen wurde. Es geht dabei um die Mobilisierung und Akti­vierung der Partei, ihrer Mitglieder und Aktivist* innen auf allen Ebenen – mittels der Formulierung konkreter politischer und sozialer Vorhaben, die zusammen mit ande­ren gesellschaftlichen Kräften erreichbar und durchsetzbar sind und zum Wachsen der Organisation und der Gewinnung neuer Mitglieder beitragen sollen. Dazu sollen neben den Grundorganisationen auch offene Arbeitsgemeinschaften gebildet werden, die sich um konkrete Vorhaben kümmern. Namens des Sprecher*innenrats formulierte Tobias Schweiger das Ziel, bis zum nächsten Parteitag – also in drei Jahren – die Zahl der Mitglieder wieder annähernd auf 2.000 zu bringen. Die KPÖ für Frauen attraktiver zu machen, steht auf der Prioritätenliste ganz oben.

»Wer will, dass die KPÖ so bleibt wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt«

Der neue statutarische Vorsitzende der KPÖ und Mitglied des Sprecher*innenrats Günther Hopfgartner fasste seine Positionen in Abwandlung eines Zitats von Erich Fried so zusammen: »Wer will, dass die KPÖ so bleibt wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt.« Die Herausforderung bestehe in der Formu­lierung einer »transformatorischen Sozialpolitik«, die die Möglichkeit einer solidari­schen Gesellschaft sicht- und erfahrbar mache. Dazu beschloss der Parteitag auch eine Neufassung des Dokuments mit dem Titel »Solidarische Gesellschaft«, das die programmatische Richtung skizziert.

Parteitage, auch die der Kommunist*innen, haben ihre Rituale und meist auch ein fest gefügtes überkommenes zeitliches Korsett. Große Aufregung herrscht natür­lich dann, wenn plötzlich etwas umgestoßen wird. Als sich nach einigen Wortmeldungen zur Generaldebatte herausstellte, dass keine Frauen dabei waren – es gilt in der KPÖ seit vielen Jahren das Reißverschlusssystem –, forderte die Frauensprecherin eine Auszeit, um den anwesenden Frauen unter den Dele­gierten Zeit und Raum zu verschaffen, sich besser in die Diskussion einzubringen. Daraufhin mussten die Männer eine Zeit lang den Saal verlassen, bis es weitergehen konnte. Die Intervention war erfolg- und lehrreich.

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