Eva Schörkhuber im Gespräch mit Heide Hammer über ihren neuen Roman Die Gerissene, das Papiertheaterkollektiv Zunder und Politisch Schreiben (PS)
Dein jüngster Roman, Die Gerissene, ist im Februar in der Edition Atelier erschienen. Die Ich-Erzählerin Mira ist sehr gegenwärtig, sehr tätig und zugleich distanziert, mitten drinnen und doch nicht voll dabei. Ist diese Distanz Miras zur Welt auch deine Distanz zur Figur?
EVA SCHÖRKHUBER: Der Schreibprozess an diesem Text dauerte vier Jahre. Dabei war Mira am Anfang eine sehr traurige, melancholische Figur. Meine Erstleser*in nen wünschten sich mehr zärtliches Zutrauen in sie. In der Komposition des Schreibens, den Wiederholungen und Schleifen, verdichtete sich für mich die Frage nach Freiheit: In welchem Namen wird Freiheit für wen durchgesetzt? Wenn wir von formalen Analogien sprechen, geht es weniger um einen Entwicklungs- als um einen Schelmenroman. Dafür gibt es wenige herausragende Vorbilder – Irmgard Keun und Irena Brežná –, die den Weg einer Schelmin beschreiben. Die üblichen Versatzstücke, eine Herkunft aus der Arbeiter*innenklasse oder die Ich-Erzählerin habe ich beibehalten. Auf ihrer abenteuerlichen Reise erfüllt Mira eine Spiegelfunktion, sie erfährt gesellschaftliche Dynamiken, lebt darin und zieht auch wieder weiter.
Wann geht Mira? Du kennst die Orte sehr gut, in denen die Geschichte spielt – Marseille, Oran, die Westsahara, Havanna – du hast sehr viel recherchiert. Inwiefern entzieht sich Mira, entziehen wir als jeweils privilegierte Menschen mit den richtigen Papieren uns einer globalen Veränderung?
EVA SCHÖRKHUBER: Ich habe für längere Zeit in diesen Städten gelebt, und neben den aktuellen Recherchen bin ich auch meine eigenen Notizen durchgegangen. Dabei ging es mir um ein Wissen und Erinnern lokaler Gegebenheiten, Erfahrungen und Begegnungen in einer konkreten Architektur und Geografie. Es geht zugleich auch nicht um meine Reisen, es ist keine wie immer fingierte Autobiografie, konkrete gesellschaftliche Möglichkeiten und Missstände sind ein durchgängiges Thema, wobei genau diese, wie du sagst, privilegierte Position, sozusagen »von Haus aus« mit den »richtigen«, den »guten« Papieren ausgestattet zu sein, stets mitverhandelt wird.
Die Mira des Romans geht, wenn ihr etwas durch die Finger rutscht, entgleitet oder wenn ihr Menschen zu nahe kommen, sie sich zu sehr an einem Ort verankert. In der geopolitischen Dimension der Flucht macht Mira Gegenbewegungen, sie geht in jene Ecken der Welt, aus denen die Leute tendenziell weg wollen: Algerien etwa, seine revolutionäre Geschichte und postkoloniale Gegenwart mit einem Machtsystem, worin die alten FLN-Kader [Front de Libération Nationale] und heutigen Militärs und Geheimdienste ebenso eine gewichtige, korrupte Rolle spielen wie der Erdölreichtum des Landes, der zwar langsam versiegt, aber insgesamt wohl eher ein Fluch für das Land war.
Oran, die größte Stadt im Westen, war früher, vor dem Bürger*innenkrieg, eine der liberalsten Städte Algeriens. Was ich auch beschreibe, sind die jungen Männer, die in den 1990er und frühen 2000er Jahren vom Land kamen und durch Gelegenheitsdiebstahl und Raubüberfälle ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen, da es kaum andere Möglichkeiten für sie gibt. Viele, auch sehr gut ausgebildete Frauen und Männer kommen vom Land in die Stadt, weil es dort mehr Freiheiten gibt, wobei etwa in Oran nach dem Bürger*innenkrieg kein einziges Kino mehr existierte: Es handelt sich also immer um relative Freiheiten und Zwischenräume, die genutzt werden.
Und wieder einen ganz eigenen Kosmos bildet jenes UNHCR Camp, das seit vier Jahrzehnten im äußersten Südwesten Algeriens Schutzsuchende aus dem so genannten Westsahara-Konflikt beherbergt. Die Bewohner*innen leben in der Wüste, in einer Zelt- und Lehmhüttenstadt, ihre Zeit ist perspektivenlos. Zwar ist auch ihr Zugang zu Wissen sehr viel demokratischer geworden und manche verlassen das Niemandsland zum Studium in Frankreich oder einem anderen Land des globalen Nordens, dennoch ist die Anwendung dieses Wissens ein Nadelöhr. Nach ihrer Rückkehr hat sich an der alltäglichen Enge und den fehlenden Möglichkeiten nichts geändert.
Jedes Kapitel, jede neue Station beginnt mit sehr poetischen, philosophischen, auch melancholischen Sätzen: »[…] Etwas in Gang zu setzen, den Anstoß dafür zu geben, die gewohnten Bahnen zu verlassen, bedeutet nicht, alles im Griff zu haben. Der Griff nach den Sternen ist ein vager, ein tastender. Das leuchtende Ziel vor Augen kann, wenn man endlich so weit gekommen ist, schon erloschen sein. […] Die Bedrohungen sind zahlreich, den äußeren Feinden folgen die inneren, und wenn gar nichts mehr hilft, wird der einstige Leitstern selbst zum Gegner erklärt, den es zu bekämpfen gilt. Am häufigsten hat dieses Schicksal einen Stern namens Freiheit ereilt.« (S. 55)
EVA SCHÖRKHUBER: Viele dieser einleitenden Passagen sind von bestimmten Lektüre erfahrungen inspiriert. In diesem Fall handelt es sich um Bini Adamczaks Buch Beziehungsweise Revolution. Darin arbeitet sie entlang konkreter historischer Kontexte die großen revolutionären Konzepte – Gleichheit, Freiheit und, nein, nicht Brüderlichkeit, sondern Solidarität – auf und verortet sie neu. Dabei zeigt sie, wie mitunter verheerend sich ein hoher Abstraktionsgrad auf revolutionäre Taktiken und Praktiken ausgewirkt hat und wie wichtig es ist, diese revolutionären Konzepte auf einer sehr breiten Basis zu praktizieren, anstatt sie zu Dogmen, die von einer kleinen Elite verwaltet und durchgesetzt werden, gerinnen zu lassen.
Zugleich beschreibst du in sehr eingängigen Bilder das körperliche Empfinden Miras, als eine »alte, eine verrostete Saite« (S. 50), die sie schlicht vergessen hatte, da sie sich in Marseille »endlich angekommen« wähnte, um wenig später zu bemerken: »Mein Leben, mein ganzes Leben hier in Marseille erschien mir plötzlich öd und leer.« Mira bricht aus der Enge und Rigidität einer dörflichen Gesellschaft auf und findet Resonanz und Intensität. Sie bleibt aber auch stumm oder verstummt immer wieder, sie ist eine Reisende und vieles bleibt ambivalent.
EVA SCHÖRKHUBER: Diese theoretische wie musikalische Resonanz ist für Mira wichtig. Sie lernt zuerst diese fremde Seite in sich kennen, sucht sie und läuft zugleich vor ihr davon. Zunächst ist sie primär mit dieser Art der Entfremdung beschäftigt: Sie fällt aus einem sozialen Rahmen, den sie eine Zeit lang aufrechtzuerhalten versucht, da er auch eine gewisse, für sie allerdings immer beklemmendere Stabilität gewährleistet. Schließlich macht sie sich auf, um das Weite zu suchen. Revolutionen und ihre Verwirklichung ziehen Mira an: Sie imaginiert sich selbst an der Spitze einer Bewegung, sie stürmt mit der Fahne voran. Der paternalistische Gestus, der naive Glaube, etwas richtig machen zu können, held*innenhaft zu wirken und zu helfen, wird fortwährend dekonstruiert. Amarou ist eine Figur, die ihr diese Begrenzungen aufzeigt, die sie begreifen lässt, wie existenziell unterschiedlich die Bedrohungen und Handlungsmöglichkeiten in einer Stadt je nach race, Klasse und Geschlecht verteilt sind. Dass sie danach auch in Kuba eine neue Revolution mit einer Fahne, einem Stück Stoff, voranzubringen sucht, zeugt zugleich von ihrer Unbeirrbarkeit oder eben unseren begrenzten Lernerfahrungen.
VS: Ein Ausweg aus solchen Verirrungen und Selbstüberhöhungen könnte in Kollektiven zu finden sein, eine kritische Gruppe oder Masse, die als Korrektiv wirkt. Du selbst widmest sowohl als Autorin als auch Redakteurin einen Teil deiner Zeit der kollektiven Produktion, seit einigen Jahren auch dem Papiertheater. Mit dem Kollektiv Zunder wird diese Form mit radikalen, revolutionären Inhalten bespielt. Welche Geschichten erzählt ihr und was fasziniert euch an der Form?
EVA SCHÖRKHUBER: Am Papiertheater fasziniert uns das ursprünglich biedermeierliche Modell ebenso wie die sehr mobile und autonome Form: Eine der allerersten Überlegungen war es, diese Form des Theaters aus den privaten, bürgerlichen Wohnzimmern in den öffentlichen Raum, auf Plätze, in Cafés und Gaststätten zu verlagern und insofern gleichsam vom Kopf auf die Füße zu stellen. Unsere selbstgebaute Bühne hat in etwa die Größe eines mittleren Flachbildfernsehers und ist mit allem, was eine Bühne so braucht, in Miniaturform ausgestattet: Wir haben unterschiedliche bewegliche Scheinwerfer, verschiedene Kulissen und ein Papierfigurenensemble. Um irgendwo auftreten zu können, benötigen wir ein wenig Platz und lediglich eine Steckdose. Inhaltlich haben wir uns mit unserem ersten längeren Stück, mit der Rätebewegung in Österreich unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges, befasst. Das Stück haben wir kollektiv entwickelt und im Rahmen der WienWoche 2018 umgesetzt. Wir sind damit herumgewandert, waren in Innsbruck, Ebensee, Linz, auch in Meran und München. Beim momentan aktuellen Stück handelt es sich um eine musikalische Revue in Kooperation mit der Band Laut Fragen: Wir inszenieren einen Festakt für den expressionistischen Vagabundendichter Hugo Sonnenschein (1889–1953).
Du bist auch Teil der Redaktion der Literaturzeitschrift PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb/Politisch Schreiben. Ihr erscheint – ebenso wie die Volksstimme – im antiquierten Papierformat. Was lässt euch daran festhalten und warum ist ein politisches Schreiben für euch wesentlich?
EVA SCHÖRKHUBER: Die PS erscheint einmal im Jahr sowohl auf Papier als auch digital: Beim Printformat legen wir Wert auf eine kooperative Gestaltung, die stets von Grafiker*innen und Illustrator*innen, die nicht zur Redaktion gehören, übernommen wird. Und ein Heft, an dem wir beinahe ein Jahr lang gearbeitet haben, in Händen zu halten, ist immer auch und Jahr für Jahr etwas Besonderes. Unsere Auffassung von politischem Schreiben ist weit gefasst und fokussiert nicht ausschließlich auf die inhaltliche Ebene, sondern auch darauf, dass wir Zugangsmöglichkeiten beziehungsweise -beschränkungen mitdenken, bei der Auswahl der Heftthemen ebenso wie bei der Auswahl der eingereichten Texte: Die PS-Ausgaben bestehen grundsätzlich aus einem inhaltlichen Teil, in dem wir uns anhand von Essays und Gesprächen mit einem bestimmten Aspekt des Literaturbetriebs beschäftigen – die letzte Ausgabe haben wir zum Prosadebüt gemacht und uns angesehen, welche Auswirkungen die marktökonomischen Strukturen auf die Möglichkeiten haben, sich als Autor*in zu positionieren. Neben dem inhaltlichen Teil gibt es auch einen literarischen: Mit der Ausschreibung sprechen wir vor allem Personen an, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihrer Erstsprache, ihres Geschlechtes, ihres Alters, ihrer physischen und/ oder psychischen Konstitution mit Zugangsbarrieren zum Literaturbetrieb zu kämpfen haben.
Bis zum 22. Juni können noch Texte eingereicht werden, die Ausschreibung findet sich auf https://www.politischschreiben.net/offene-ausschreibung-fur-ps7/
Eva Schörkhuber lebt als Schriftstellerin und Literaturwissenschafterin in Wien, ist Mitglied im Redaktionskollektiv von PS sowie im Papiertheaterkollektiv Zunder.