Wenn man davon spricht, dass die Zivilgesellschaft den Nationalsozialismus und den Holocaust hätte verhindern müssen, hört man von Zeitzeugen als auch von Nachgeborenen nicht selten, dass man die Gräuel doch nicht hatte ahnen können. Ein nun wiederentdecktes Zeugnis beweist eindrucksvoll, dass bereits in den frühen 1920er-Jahren der nationalsozialistische Terror präzise vorausgeahnt wurde. Einst wie heute wurden antifaschistische Warnungen als überspitzter Unsinn abgetan.
Ein Roman für übermorgen
Das Wien der 1920er-Jahre war eine polychrome Mischung liberaler Kunstschaffender, Musiker, Schriftsteller und Forscher einerseits, ein Zentrum des restriktiven politischen Antisemitismus andererseits. Die neben Budapest und Warschau höchste jüdische Bevölkerungszahl war dort bereits 1919 mit »Juden raus!«-Bannern konfrontiert. Diese explosive Mischung verarbeitete der 1872 geborene Schriftsteller Hugo Bettauer im Jahr 1922 zu seinem Roman »Die Stadt ohne Juden – ein Roman von übermorgen«. Einschlägig, klar und mit Verweisen auf Zeitgenossen schildert Bettauer darin nicht nur, wie eine Stadt ohne jüdisches Kulturleben verarmt, sondern ebenso das Leid der Gewalt, Übergriffen und Pogromen ausgesetzten jüdischen Bevölkerung.
Das erfolgreiche Buch wurde 1924 von Hans Karl Breslauer verfilmt und sogleich von Konservativen und Nationalsozialisten stark bekrittelt. Eine Hetzkampagne folgte und mehrfach wurden Aufführungen in gefüllten Kinosälen von Rechten beispielsweise durch Stinkbomben gestört. Der Autor Hugo Bettauer wurde am 10. März 1925 von einem Nazi erschossen und erlag am 26. März 1925 seinen Verletzungen. Der Attentäter Otto Rothstock war zeitweilig Mitglied der NSDAP und mit einschlägig bekannten Persönlichkeiten aus rechten Kreisen befreundet. Nach 18 Monaten wurde Rothstock aus einer psychiatrischen Klinik in die Freiheit entlassen.
Vergessene Stummfilme
Während die Romanvorlage international verbreitet und bekannt war, sah sich der Film mit zwei Zäsuren konfrontiert. So machten zum einen die zunehmend stärker werdenden rechten politischen Kräfte es den Kinobetreibern schwer, den Film zu zeigen. Der unaufhaltsame Aufstieg des Tonfilms ließ zum anderen das Interesse an Stummfilmen verschwinden und vorhandene Kopien wurden großteils vernichtet. Erst 1991 wurde eine stark gekürzte Fassung des Films in den Niederlanden wiederentdeckt und 2008 auf DVD veröffentlicht. Trotz der enormen Kürzungen im Film erfreute er sich schnell wachsender Popularität.
Als das Filmarchiv Austria im Oktober 2016 bekannt gab, es sei 2015 eine weitere – vollständige – Fassung auf einem Pariser Flohmarkt aufgetaucht, war die Aufregung groß. »Durch den Tonfilm ging das Gros der Stummfilme verloren. Es ist ein großes Glück, wenn man Zeugnisse dieser Zeit heutzutage findet. Bereits die erste, stark reduzierte Fassung aus den Niederlanden war so ein Glücksfall. Dass nun diese zweite, vollständige Fassung auftauchte, ist unglaublich. Der Film ist nicht nur für Österreich, sondern auch im internationalen Vergleich ein antifaschistisches Monument. Kein anderer Film greift so früh und prononciert dieses Thema auf. Durch die nun neu entdeckten Szenen des Innenlebens der jüdischen Welt in Wien erhält der Film auch einen nicht zu unterschätzenden dokumentarischen Charakter. Besonders in dieser Zeit des erstarkenden Rechtspopulismus ist es wichtig, dass wir diesen Film haben und ihn der Öffentlichkeit zugänglich machen«, sagt Nikolaus Wostry, Geschäftsführer des Filmarchiv Austria.
Systematische Unterfinanzierung
Gerade die Sicherung und Verfügbarmachung dieses Films gestaltet sich jedoch schwierig. »Nitrofilm ist ein sensibles und sich zersetzendes Material. Bereits die in den 1990er-Jahren wiederentdeckte niederländische Fassung war stark beschädigt. Der nun in Frankreich entdeckte Nitrofilm weist ebenfalls bereits Beschädigungen und Zersetzungen auf«, so Wostry. Tatsächlich handelt es sich beim sogenannten Nitrozellulosefilm um ein Material, das sich auch unter besten Lagerungsbedingungen sukzessive zersetzt und im fortgeschrittenen Stadium selbst bei Temperaturen unter 40 Grad brennbar ist. »Unser Problem ist, dass das Jahresbudget des Filmarchiv Austria seit 20 Jahren nicht mehr erhöht wurde. Selbst eine Inflationsanpassung erfolgte nicht. Die strukturelle Unterstützung unseres Archivs ist folglich ausgesprochen gering. Ein Sonderbudgetantrag für die Sicherung von ›Die Stadt ohne Juden‹ wurde kürzlich zurückgewiesen. Seit im Frühjahr 2016 die Synchro Film Wien Insolvenz anmelden musste, hat sich unsere Lage nochmals verschlechtert. Es handelte sich dabei nämlich um den einzigen Ort in Österreich, an welchem wir den Nitrofilm analog sichern konnten. Dies muss nun im Ausland erfolgen, was die Kosten zusätzlich erhöht. Eine solche Sicherung ist aber unbedingt notwendig um den Film zu erhalten und in Zukunft restaurieren und verfügbar machen zu können«, erzählt Ernst Kieninger, Direktor des Archivs.
»Wir erleben die dramatische Situation, dass Zehntausende Filmrollen in unseren Lagern darauf warten, vor dem endgültigen Zerfall gerettet zu werden. Filmarchive stehen weltweit im Zentrum der Fragestellung unseres Geschichtsbewusstseins und unserer kulturellen Identität und so etwas darf nicht einfach verloren gehen. Europaweit sind Filmarchive stark unterstützt. Nur in Österreich ist es anders. Hier ist auf internationale Standards aufzuholen. Es kann nicht sein, dass wir unsere grundlegenden Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können und uns zu 40 Prozent über private Investoren selbst finanzieren müssen«, ergänzt Wostry.
Crowdfunding – einst und jetzt
Es wirkt wie ein Treppenwitz der Geschichte, dass sich das Filmarchiv Austria nun dazu entschloss, die Rettung von »Die Stadt ohne Juden« über ein Crowdfunding-Projekt zu finanzieren. Auch Breslauer stand 1924 vor dem Problem, dass sich die öffentliche Hand nicht für den antifaschistischen Film erwärmen konnte und er somit private Investoren finden musste. »Die gestartete Crowdfunding-Initiative ist ein Hilferuf unseres Archivs. Der Staat ist dringend angehalten einzugreifen, denn so kann es nicht weitergehen. Die benötigten 75.500 Euro ermöglichen uns ja lediglich eine Grundsicherung. Da die Geräte der Synchro Film noch existieren, wäre es unser eigentlicher Wunsch, diese in unserem Depot in Laxenburg aufbauen zu können, um die Sicherungen selbst vorzunehmen«, erläutert Kieninger.
Obschon das Interesse des österreichischen Staates gering ist, zeichnet sich mit der Kampagne ein Erfolg ab. Mit über 38.000 Euro (Stand 20. November) wurde bereits mehr als die Hälfte des benötigten Betrags durch Privatpersonen finanziert. Auch das internationale Interesse scheint geweckt. Neben amerikanischen Universitäten haben auch die Deutschen Sender Arte und ZDF den Wunsch artikuliert, den Film ausstrahlen zu wollen und somit ein antifaschistisches Monument einer breiten Basis verfügbar zu machen.
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