»Die Ästhetik des Widerstands« wiedergelesen Volksstimme Redaktion Foto: CC BY-SA 3.0 / wikimedia
08 November

»Die Ästhetik des Widerstands« wiedergelesen

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Peter Weiss’ hunderster Geburtstag am 8. November ist ein gute Gelegenheit, sein großes Werk wiederzulesen.
Von Helmut Rizy, zitiert aus der Volksstimme No.11 November 2016

Es gibt Bücher, die man gelesen haben soll, da sie zum Kanon der Literatur zählen. Vielfach sind es jene Bücher, die seit Jahren ungelesen die Bibliotheken zieren. Wer hat James Joyce’ »Ulysses« gelesen, wer Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, wer Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften«, von Dantes »Göttlicher Komödie« ganz zu schweigen? Und es gibt Bücher, die man gelesen haben muss, weil sie zu einer Zeit in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Das traf in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts insbesondere unter Linken auf Peter Weiss’ Trilogie »Die Ästhetik des Widerstands« zu. Lesekreise und Diskussionsrunden in großer Zahl, Kolloquien, Seminare, selbst wissenschaftliche Konferenzen im gesamten deutschsprachigen Raum beschäftigten sich mit dem umfangreichen Werk, das sowohl in der BRD als auch der DDR erschienen war.

Jedenfalls hat dieses doch ziemlich anspruchsvolle Werk innerhalb kurzer Zeit eine außergewöhnliche Publizität gefunden. Angesichts des bevorstehenden 100. Geburtstags von Peter Weiss wollte ich wissen, was mich wie so viele andere an dem Roman so sehr beeindruckt hat und was von der einstigen Faszination nach mehr als 30 Jahren geblieben ist. Dafür habe ich »Die Ästhetik des Widerstands« wiedergelesen. Vielfach wurde Weiss’ Roman als Jahrhundertbuch bezeichnet, wogegen mitunter eingewandt wurde, dass eine solche Bezeichnung potentielle Leserinnen und Leser abschrecken könnte. Aber selbstverständlich gab es von bürgerlicher Seite auch Unverständnis und Ablehnung; Fritz J. Raddatz seinerzeitiger Verriss in ‚Die Zeit’ war deren deutlichster Ausdruck. Für viele junge Leser war es aber ein Buch, das ihnen die jüngste Geschichte näherbrachte, und zwar so, wie sie sie im Geschichtsunterricht nicht erfahren hatten. Der Kampf gegen den Faschismus steht zwar im Mittelpunkt, aber es geht auch um einen Widerstand, der darüber hinausgeht, der Widerstand gegen die Herrschaftsmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft, der Widerstand gegen die von ihr betriebene Aussperrung der ihr gegenüberstehenden Schichten aus den Bereichen der Kultur, Kunst und Wissenschaft.

»Die Ästhetik des Widerstands« war für die Leserinnen und Leser, die sich durch die mehr als 1.000 Seiten durchgekämpft hatten, ein Buch, das ihr Jahrhundert durchleuchtet hat, also durchaus auch in diesem Sinn ein Jahrhundertbuch. Womit sich die Frage stellt, inwieweit es das vergangene Jahrhundert auch überdauert hat. Peter Weiss’ proletarischer Ich-Erzähler kommt an einer Stelle zum Schluss: »Beim Einblick in unsre eigne Geschichte konnte es manchmal scheinen, als seien wir immer die Unterlegnen gewesen, als habe sich nichts geändert an den Gewalten, die uns gegenüberstanden, der Oktober dann aber war der Beweis dafür, daß sich in all den Anläufen eine Kraft aufgespeichert hatte, die mehr Gewicht besaß, als alles, was uns früher gebunden hatte.« Allerdings ist die Sowjetunion mittlerweile auch Geschichte und der Oktober reiht sich ein in die Zahl jener erfolglosen Versuche, die Unterlegenheit tatsächlich zu beenden. Wenn es an einer Stelle heißt: »Die Bekämpfung des Faschismus, die Solidarität mit dem Sowjetstaat, dies waren die absoluten Notwendigkeiten, die sich aus unsern Erfahrungen ergeben hatten«, so ist sich der Erzähler allerdings durchaus bewusst, dass dieser Sowjetstaat noch keineswegs dem entsprach, wofür es zu kämpfen galt. Man ist nicht blind gegenüber den Fehlern, er blieb jedoch der Hoffnungsträger. »Verbunden mit dem Wunsch nach grundlegender Verändrung, nach dem Aufbau eines neuen Daseins, war die Empfindung der Zusammengehörigkeit mit dem Land, in dem die Kapitalherrschaft gestürzt und die Arbeitermacht errichtet worden war. Unsre Empörung und Auflehnung wäre ohne Hoffnung gewesen, hätte dieses Land nicht etwas Unzerstörbares dargestellt, etwas, das allen Kränkungen, aller Mißgunst, allen Besorgnissen standhalten mußte. Aus unsrer eignen Verzweiflung heraus verstanden wir, daß es auch dort zu Anfällen von Umnachtung, von Raserei kommen konnte. Wir stimmten der Unduldsamkeit zu, mit der dort vorgegangen wurde.«

Der Zugang zu Kultur, Kunst und Wissenschaft mag sich auch hier zwischenzeitlich verändert haben, der Roman macht jedoch deutlich, wo immer noch die Grenzen sind, und die Barrieren werden ja auch jeweils an die Bedürfnisse des Kapitals angepasst.

Gegen den Faschismus

Die entscheidende Frage für Weiss’ Ich-Erzähler und seine beiden Mitstreiter aus dem ersten Teil der Trilogie war jedoch, wie der wachsende Faschismus bekämpft werden könne. Und gerade das war wohl eines der Momente, die für die nachfolgende Generation, die sich dann mit der Roman-Trilogie auseinandersetzte, maßgeblich waren: Hätte der Faschismus verhindert werden können?

»Noch bei den Reichstagswahlen im März Dreiunddreißig hätten Kommunisten und Sozialdemokraten, wären sie zum Umdenken fähig gewesen, eine proletarische Front von zwölf Millionen mobilisieren können. Die Kommunistische Partei aber wartete auf den revolutionären Umbruch, und die sozialdemokratische Leitung zog eine Politik des Stillhaltens und der Anpassung vor und sah ihre Aufgabe darin, gegenüber einer rechtmäßigen Regierung die Rolle fairer Kritiker einzunehmen. ... So konnte die Zerschlagung der kommunistischen Organisationen und die Auflösung der Sozialdemokratischen Partei, der Gewerkschaftsverbände unbehindert durchgeführt werden,« ist Weiss’ Resümee bzw. das seines Erzählers.

Dabei stellt der Autor dem Erzähler, der sich zu den Kommunisten hingezogen fühlt, dessen Vater, einen altgedienten Sozialdemokraten gegenüber, der allerdings keineswegs mit der Politik der Parteiführung übereinstimmt, hat er doch selbst seinerzeit in Bremen am Kampf um eine Räterepublik teilgenommen. Besonders anschaulich wird dies in der Schilderung: »Ich sah ..., wie mein Vater während der letzten drei Jahre gealtert war, sein Gesicht war müde, das Haar grau, nie kam er von dem Gedanken los, daß sich die Arbeiter in Deutschland von ihrer eignen Unentschlossenheit hatten niederzwingen, von ihrer eignen Blindheit hatten ausliefern lassen. Sein rechtes, von den Geschossen eines zaristischen Maschinengewehrs getroffnes Bein nachziehend, die linke Schulter steif nach der Verletzung auf der Kaiserbrücke, für die eine Verwundung mit dem Eisernen Kreuz Zweiter Klasse belohnt, für die andre als Staatsfeind verfolgt, wanderte mein Vater in der Küche umher ...«

Aus seiner eigenen Erfahrung heraus gesteht der Vater ein, dass der Kampf in Russland erfolgreicher gewesen war. »Was hatten denn wir erreicht, fragte er. Nicht mal den Achtstundentag hatten wir gewonnen. Die Revolution hatte uns den alten Herrschaftsapparat wiedergegeben, hatte das heilige Recht auf Eigentum, Ausbeutung und Profit sichergestellt.« Und er ist sich der Rolle der SPD durchaus bewusst: »... es zeigte sich auch, daß nicht einmal mehr die von Bernstein und Kautsky genährte Illusion des friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus, auf dem Weg der Reformen bestand, sondern daß sich die Sozialdemokratische Mehrheitspartei zum Zentrum der Gegenrevolution gemacht hatte.« Und doch findet er nicht zur KPD. »... doch stieß es mich ab, wie in fortwährendem Zwist eine Führungsgruppe die andre ersetzte, und wie, mit einer Terminologie, die die sozialdemokratische an Gehässigkeit übertraf, die aktivsten, die ergebensten Kräfte, ohne die es die Partei und die Internationale nicht gegeben hätte, plötzlich, weil sie nicht die jeweils richtige Linie vertraten, von ihren eignen als Sektierer, als Abtrünnige verstoßen wurden,« lässt ihn Peter Weiss seinen Entschluss erklären, wieder der SPD beizutreten.

Und das obwohl auch für ihn ein gemeinsam mit den Kommunisten geführter Kampf gegen den Faschismus vordringlichstes Ziel ist. Doch der wird immer wieder hintertrieben. »Die parteipolitischen Interessen waren dem sozialdemokratischen Vorstand wichtiger als der Versuch, in letzter Stunde zu einer gemeinsamen Front zu finden. Nur ein Krieg, so wurde behauptet, könne die nationalsozialistische Diktatur beseitigen. Die Katastrophe wurde dem Risiko vorgezogen, ein Bündnis mit der Kommunistischen Partei einzugehn, bei dem die Sozialdemokratie vielleicht ins Hintertreffen geraten könnte.«

In der Auseinandersetzung zwischen Weiss’ Ich-Erzähler und dessen Vater, obwohl in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts geführt, findet sich heute angesichts des Erstarkens totalitärer Kräfte ein gehäuftes Maß an Aktualität. »Der Faschismus war für uns die offene Diktatur des Finanzkapitals, war Waffe der reaktionärsten Kräfte, im Dienst ihres Interesses, Europa neu aufzuteilen. Diese Formel aber, sagte mein Vater, erklärte noch nicht, warum schon im Jahre Dreißig ein großer Teil der Arbeiterklasse den Nationalsozialisten seine Stimme gab und warum die Zahl der Wähler des Faschismus zu den siebzehn Millionen im Frühjahr Dreiunddreißig anwachsen konnte.« Und: »Die ökonomische Notlage, fügte er hinzu, hemmte uns alle, doch auch sie kann nicht verantwortlich gemacht werden für die Passivität, den Fatalismus, die Unfähigkeit einzugreifen. Und hiermit hatte mein Vater die Frage gestellt, auf die es ankam, warum die Arbeiter in der Partei blieben, deren zentraler Programmpunkt der Antikommunismus, die Bekämpfung der Revolution, die Unterstützung der reaktionären Gesellschaft war.«

Der Pergamon-Altar

Das Besondere und auch Überzeugende an Peter Weiss’ Romantrilogie ist aber auch heute noch das umfassende Herangehen an den Widerstand und dessen Geschichte, aber auch die Intensität, mit der er auf die Thematik eingeht. »Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstenen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs ...« Einen antifaschistischen, hochpolitischen Roman mit der Beschreibung antiker Skulpturen zu beginnen, das war, als dieser erschien, außergewöhnlich. Doch mich nahm dieser Anfang sofort für das Werk ein. Ich weiß nicht, wie er auf Leserinnen und Leser wirkte, die nicht zuvor schon des öfteren meilenweit in der Mittagshitze gewandert waren, um ausgegrabene und teilweise wiedererrichtete Reste antiker griechischer Bauwerke zu besichtigen und sich schließlich angesichts eines kunstvoll gestalteten Sarkophags von einem Fremdenführer sagen zu lassen: »Everything handmade, with chisel and hammer!«

Auch die Künstler, die im Auftrag König Eumenes II. in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v.u.Z. den Pergamon-Altar gestaltet hatten, den die drei Antifaschisten an diesem 22. September 1937 bei ihrem Museumsbesuch in all seinen Details betrachteten, hatten keine anderen Werkzeuge zur Verfügung gehabt, um im Fries den Kampf zwischen den Göttern und den Giganten darzustellen. Den drei Betrachtern – dem Ich-Erzähler sowie Heilmann und Coppi, wobei Weiss sich hier der Namen zweier vom NS-Regime hingerichteter deutscher Widerstandskämpfer bedient – geht es aber nicht so sehr um die Bewunderung der außerordentlichen Kunstfertigkeit, mit der dieser geschaffen wurde, sondern darum, was dessen Auftraggeber damit bezweckt hatte: »... und die Meißel und Hämmer der Steinmetzen und ihrer Gesellen hatten das Bild einer unumstößlichen Ordnung den Untertanen zur Beugung in Ehrfurcht vorgeführt.«

Viele Jahre nach der Lektüre der »Ästhetik des Widerstands« fand ich, dass Peter Weiss nicht der erste war, der die Skulpturen des Pergamonaltars mit bewundernder Eindringlichkeit beschrieben hat. Der russische Autor Iwan Turgenjew begeisterte sich schon 1880 in einem Schreiben an den Redakteur der Zeitschrift ‚Vestnik Jevropy’ über »die Falten der Gewebe, das schimmernde Wogen der Locken, sogar das sich sträubende Haarbüschel über den Hufen der Hengste.« Und er stellte fest: »Unter den Rädern Apollons stirbt ein überrannter Gigant, – kaum in Worte fassen läßt sich der bewegende und tiefbewegte Ausdruck, mit dem der nahende Tod seine schweren Gesichtszüge verklärt; allein schon seine herabhängende, erschlaffte, gleichfalls sterbende Hand ist ein Wunder der Kunst. Um dieses zu bestaunen, würde es sich lohnen, eigens nach Berlin zu reisen.«

Den Wunsch, den Pergamon-Altar nicht nur auf den verfügbaren Abbildungen, sondern in voller Größe zu sehen, weckte aber vor allem Peter Weiss bei vielen Leserinnen und Lesern mit seiner Beschreibung. Für manche und manchen von ihnen – mich eingeschlossen – blieb diese Verbindung über die Jahrzehnte präsent; wird der Pergamon-Altar erwähnt, denkt man unwillkürlich: Peter Weiss.

Allerdings ging es dem Autor ja um das Beispiel des Widerstands, den er im Giganten-Fries dargestellt sehen wollte. Die erdgeborenen Giganten, Kinder der Gaia, erheben sich gegen die olympischen Götter, die sich mit dem Sieg über die ebenfalls von Gaia gezeugten Titanen nicht zufrieden gaben. Gewaltig ist der Sturm auf den Olymp und ihr Kampf hätte erfolgreich sein können, wäre nicht Herakles, ein Sterblicher, den Göttern zu Hilfe gekommen.


Die Fortsetzung des Textes finden Sie in der kommenden Dezember-Ausgabe der Volksstimme.

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