Das Gebiet, das heute an Italien, Slowenien und Kroatien grenzt, war schon immer mehrsprachig und multikulturell. In den letzten Jahrzehnten ist es geradezu zu einem Thermometer geworden, von dem die Fieberkurve der italienischen Rechten abgelesen werden kann. Diese hat das Grenzgebiet zum Brennpunkt ihres Geschichtsrevisionismus gemacht. Von Piero Purich
Jahrhundertelang benutzten die Menschen an der Oberen Adria unterschiedliche Sprachen, redeten italienisch, slowenisch, kroatisch, deutsch, furlanisch, in venezianischen Dialekten, istriotisch, häufig in gegenseitiger Beeinflussung. Viele Kinder aus Mischehen gehörten mehreren auf dem Territorium präsenten Kulturen an, waren im engeren Umkreis in einen, am Arbeitsplatz in einen anderen sprachlichen Kontext eingebunden.
Dieses Gleichgewicht wurde mit dem großen Krieg und der anschließenden Annexion des Territoriums durch Italien zerstört, das sich die Homogenisierung der gesamten Bevölkerung in eine einzige ethnonationale Gruppe, die italienische, zum Ziel setzte. Ab 1918 wurde mit zunehmender Gewalteskalation und Verboten, gerichtet vor allem gegen die slowenische, kroatische und deutschsprachige Bevölkerung, eine »ethnische Rekultivierung«, sprich erzwungene Italianisierung betrieben, die bis zum Ende des 20. Jahrhunderts andauerte.
Zweiter Weltkrieg
Am 1. Mai 1945 drangen die jugoslawischen Partisaneneinheiten in Triest und dem Rest des Territoriums ein. Sie waren Angehörige einer von den Alliierten anerkannten Befreiungsarmee, in deren Reihen neben JugoslawInnen auch italienische AntifaschistInnen vertreten waren. Die jugoslawische Armee, wie alle alliierten Armeen, nahm feindliche SoldatInnen, deutsche und italienische KollaborateurInnen, gefangen und internierte sie in Jugoslawien. Hier wurden sie identifiziert, ihre Rolle in den faschistischen Einheiten festgestellt. Diejenigen, denen Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurden, wurden verurteilt – teilweise zum Tode. Die meisten Gefangenen wurden innerhalb einiger Monate in die Freiheit entlassen, allerdings hatten die schlechten sanitären und hygienischen Bedingungen in den Lagern den Tod vieler zur Folge gehabt.
Wie überall in Europa kam es in den Tagen der Befreiung auch in dieser Region zu summarischer Justiz und persönlichen Rachefeldzügen gegen FaschistInnen, die UnterstützerInnen der Besatzer und jene, die über zwanzig Jahre lang die Bevölkerung – sowohl aus politischen als auch aus nationalistischen Motiven – schikaniert und terrorisiert hatten. In manchen Fällen wurden die Opfer der Racheakte in Karsttrichter (Foibe) geworfen, d. h. in vertikale Höhlen, die mehrere Dutzend Meter tief sein können. 162 dieser Leichen wurden später von Triestiner Stellen, etwas mehr als zweihundert von istrischen geborgen.
Grausames Nachspiel
Die Gesamtzahl der vermissten Personen (einschließlich jener, die als SoldatInnen in der Gefangenschaft verstorbenen waren, sowie der Opfer der Nachkriegsrache, aber auch jener Menschen, von denen man nichts weiß und die auch in früheren kriegerischen Auseinandersetzungen umgekommen sind) schwankt zwischen 1.200 und 1.800; diese Zahl ähnelt jenen in den anderen Regionen Norditaliens. In der Emilia etwa gab es im Showdown gegen die FaschistInnen 3.000 Opfer.
Nach dem Fall der Berliner Mauer rückten die Foibe in den italienischen Medien plötzlich wieder in den Vordergrund. Nach der Auflösung Jugoslawiens und dem Selbstmord der Kommunistischen Partei Italiens gingen die NeofaschistInnen daran, sie zur Grundlage eines neuen italienischen Staatsmythos zu machen. Ein Opferparadigma wurde ersonnen, das alle vorangegangene italienische Verantwortung für Verbrechen in Jugoslawien auslässt: Die Opfer in den Abgründen sind keine in Gefangenenlagern an Krankheiten gestorbene SoldatInnen oder wegen ihrer abscheulichen Taten hingerichtete KollaborateurInnen mehr, sondern einfach ItalienerInnen – »Als ItalienerInnen getötet« und/oder »Opfer der slawischen kommunistischen Barbarei«.
Institutionalisierter Revisionismus
Der diesbezügliche historische Revisionismus ist mittlerweile institutionell geworden: 2004 hat der italienische Staat den 10. Februar offiziell als »Tag der Erinnerung« (Giorno del Ricordo) eingeführt (mit deutlich antagonistischem Bezug zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Januar), der eine Parallele zwischen der Shoah und den Foibe intendiert, so dass sogar von einem »istrianischen Holocaust« gesprochen werden darf. Widerstand dagegen leisteten im Parlament lediglich die wenigen kommunistischen Abgeordneten.
Seit 2004 ist der italienische Tag des Gedenkens der einzige staatliche Gedenktag in Europa, der FaschistInnen ins Gedenken mit einbindet. (Man stelle sich vor, der deutsche Staat würde die Toten der SS feiern, zusammen mit den SoldatInnen der Wehrmacht, und dabei die Vertriebenen gleich miteinbeziehen.) Er ist zu einem echten Tag des faschistischen Stolzes geworden. HistorikerInnen, die versuchen, das Geschehene objektiver zu betrachten, werden als LeugnerInnen gebrandmarkt, vielen von ihnen wurde verboten, in den Schulen öffentlich darüber zu sprechen. Filme, Fernsehdramen und Theateraufführungen propagieren eine völlig ahistorische Sichtweise, aufbereitet für die durchschnittlichen italienischen ZuschauerInnen, die keine Gelegenheit oder keinen Willen hatten, sich mit der Genese der Grausamkeiten vor, während und nach dem Krieg zu beschäftigen und die der fast dreißig Jahren früheren faschistischen Gewalt unwissend, gleichgültig oder billigend gegenüberstehen.
Leider sind sogar die höchsten institutionellen Ämter diesen Interpretationen gefolgt: Im Februar 2007 sprach Präsident Napolitano (ehemaliger Kommunist, in den 1970er Jahren verantwortlich für die Beziehungen der Kommunistischen Partei Italiens zu Jugoslawien) in seiner offiziellen Rede von »rasendem Blutdurst«, »Barbarei« und »slawischer Annexion«, was die Empörung des kroatischen Präsidenten Mesić hervorrief, der ihm ausgeprägte »rassistische Phrasen« vorwarf. 2020 war es Mattarella, der von ethnischen Säuberungen sprach (das Risiko, damit einen diplomatischen Zwischenfall mit dem slowenischen Präsidenten Pahor zu provozieren, wurde umschifft, indem man in Bazovica – ganz auf EU-Linie – gemeinsam sowohl der Opfer in den Foibe als auch der Opfer des faschistischen Terrors gedachte und sich auf etwas gemeinsames Drittes einigte: auf die Verurteilung des Terrors der slowenischen bzw. jugoslawischen »kommunistischen PartisanInnen«). Unterwerfung unter die Rechten auch in der Sprache: Leise wird für die Obere Adria bereits der Begriff »Ostgrenze« verwendet, was dieser multikulturellen Region einen italienischen Charakter oktroyiert.
Die institutionelle Linke in Italien ist heute nicht imstande, ihre eigenen kulturellen Linien zu produzieren, die Verarmung historischer, politischer und sozialer Analysen ist deprimierend (vor allem, wenn man bedenkt, welche hervorragenden Intellektuellen beiderlei Geschlechts die italienische Linke hervorgebracht hatte), die Unterwerfung unter das Narrativ der Macht ungebremst.
Kapitalistischer Autoritarismus
Italien driftet nach rechts ab, und das nicht erst seit Meloni. Besonders sichtbar geworden ist das angesichts des kriminellen Verhaltens der Behörden während des G8-Gipfels in Genua im Jahr 2001, fortgesetzt wird es mit der fortschreitenden Umwandlung der VertreterInnen des Staates (in erster Linie des Präsidenten der Republik und der höchsten Ämter der Justiz) in BefehlsvollstreckerInnen von WirtschaftspotentatInnen. Die Draghi-Regierung legte unter dem Vorwand der Covid-Krise und des Krieges in der Ukraine den Grundstein für einen neuen autoritären Staat, der finanziell direkt vom Kapital kontrolliert wird. Das Parlament wurde durch einen verfassungsrechtlich gar nicht vorgesehenen Ausnahmezustand weit gehend entmachtet. Die Gewerkschaften haben sich vollständig an Regierungsentscheidungen ausgerichtet, Privatisierungsmaßnahmen von öffentlichem Vermögen wurden genehmigt; die meisten Medien sind – mit ganz wenigen Ausnahmen – zu einem Propagandainstrument für neoliberale Orientierungen geworden. Bei den letzten Wahlen war die Reaktion der BürgerInnen auf all dies hauptsächlich Enthaltung (ein Drittel der Stimm berechtigten ging nicht zur Wahl) oder die instinktivste Antwort: Wähle direkt die neofaschistische Rechte, die einzige Formation, die sich im Parlament gegen die Draghi-Regierung gestellt hat. Die Situation ähnelt jener in den 1920er Jahren, als das Finanz- und Industriekapital die Faschisten kooptierte und die Drecksarbeit machen ließ; heute will es nicht die historische Verantwortung tragen für die Umwandlung des Landes in einen Polizeistaat, verbunden mit der zunehmenden Prekarisierung des Proletariats und der Mittelschicht, der Rechte der BürgerInnen und ArbeiterInnen, des Sozialstaats sowie mit der totalen Anpassung der Außenpolitik an die Positionen der NATO.
Die gezielte Erosion der Demokratie und Volkssouveränität ist dabei, ihr Gesicht zu ändern: Um die KetzerInnen zu beruhigen, gibt es nicht mehr den respektablen Inquisitor, sondern einen Henker mit Kapuze. Die Einführung des »Giorno del Ricordo« ist keinesfalls nur ein historischer Revisionismus.
Piero Purich ist Historiker, Musiker und Lehrer. Sein Hauptinteresse gilt der Migration, der Vertreibung und dem Einsatz von Propaganda zur Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen, insbesondere im nordadriatischen Raum. Verfasser mehrerer Bücher und Artikel in europäischen Zeitschriften. 2017 nahm er seinen ursprünglichen Nachnamen an, der während des Faschismus in Purini italianisiert wurde. Unterrichtet Geschichte am Carducci-Dante-Gymnasium in Triest.