Hungerrevolten und Sozialdemokratie. Robert Sommer über den Herbst 1911 in Wien. Das Jahr, in dem das Subproletariat vor lauter Hunger vergaß, dass die Demonstration rechtzeitig vor dem nicht vorhandenen Mittagsessen beendet sein musste.
Der Brotkrustenkrieg. Die Gaspreisrandale. Die Milchrebellion. Der Speckschwartlaufstand. Teuerungskrawalle. Günstiges Kakerlakenklima. Das sind die Schlagzeilen des kommenden Jahres. Du Mob, ich Mittelschicht. Das wird der Irrtum des Jahres 2023 sein. Die einzige Prognose aber, auf die man wirklich setzen kann: Die Werktätigen werden von der Sozialdemokratie zurückgehalten werden wie schon 1911, 1918 oder 1934. Die ewig gleiche Parole lautet: »Warten wir den richtigen Zeitpunkt ab, Genossen!«
1911 hatten die Lebensmittelpreise und die Wohnungskosten in Wien eine Dimension erreicht, die dem Sodawasser eine neue Bedeutung verlieh (Quelle fehlt). Auf manchen Heurigentischen sah man nur mehr die weltweit in Wien bekannte Siphonflasche stehen. Die Frauen schleuderten Bierkrügel aus den Fenstern, wenn die Dragoner in ihre Gasse bogen. Glas zersplittert, die Kavallerie wiehert, die Bosniaken fluchen serbokroatisch und die Gasse klatscht. Das ist der Sound der Hungerrevolte.
Das Jahr war gefüllt mit Trauma-Material und Millionen Gründen, die Hand an sich zu legen.
Das einzige Antidepressivum, das kein Placebo war, hieß Revolte. Revolten können aber tödlich sein. Otto Bauer zu den Hungerunruhen 1911: »Zum ersten Mal seit dem Oktobertag 1848, an dem die Truppen Windischgrätz die Hauptstadt dem Kaiser wiedererobert haben, ist in Wien auf das Volk geschossen worden. Was selbst in den gewaltigsten Stürmen des Wahlrechtskampfes nicht geschehen ist, hat sich am 17. September 1911 in Wien ereignet. In ganzen Stadtvierteln blieb kein Haus, kein Fenster, keine Laterne unversehrt. In dem Proletarierviertel Ottakring wurden Schulgebäude und Straßenbahnwagen in Brand gesetzt. Barrikaden wurden gebaut, die Truppen schossen auf das Volk.«
Der Zi-Kü-Ka-Standard war voller Leute. Die Mehrzahl bestand aus Bettgehern. Nur durch die Beiträge der Bettgeher konnte die Familie die Miete bezahlen. Es war gut, dass die Kinder die meiste Zeit im Niemandsland der Schmelz waren, die damals noch unverbaut war. Die Schmelz war eine Universität der Delinquenz. Lasst euch nicht von der Polizei erwischen, war der Abschiedsgruß. Die Kinder brauchten das Bett nur im Winter, gottlob. Es waren drei Kinder in der Familie. Sie schliefen zu dritt in einem Bett. Das Bett war 1,20 Meter breit. Jedes Kind hatte 40 Zentimeter. Von den 20 Bettgehern in dieser Wohnung beschuldigte jeder jeden, verantwortlich für den unerträglichen Gestank zu sein. Und klagte jeden an, gestohlen zu haben. Das war kein Freundeskreis.
Die Angst vor der eigenen Courage ist konstituierendes Merkmal der Weltverbesserungsschadensversicherungsanstalt SDAP. Hätte eine angstbefreite Linkspolitik den Umstand, dass eine halbe Million Wienerinnen sich von dem ermordeten Working Class Hero Franz Schuhmeier verab-schiedete, auf sich wirken lassen können? Und sich die Frage stellen müssen, welche Bedingungen eigentlich noch fehlen, um endlich einen angewandten Austromarxismus in die Wege zu leiten?
Neben den »logischen«, geradezu obligaten Außenfeinden der Sozialdemokratie (Lueger, Monarchie, Kapitalist:innen und Klerus) waren von schräg unten neue politische Subjekte emporgewachsen. Die Freude der sozialistischen Funktionär:innen über die Erweiterung des Widerstandsspektrums in der Hungerrevolte hielt sich in Grenzen, weil der Monopolanspruch der Sozialdemokratie auf Linkspolitik damit in Frage gestellt war.
Die Anarchie der Vorstadt
Die Polarisierungen im Linksdenken und Linkshandeln äußerten sich in den einander ausschließenden Bedeutungen der Phrase Die »Anarchie der Vorstadt« (so auch der Titel des Buches von Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner, Campus Verlag). Die einen assoziierten: Vandalismus, Chaos, Gesetzlosigkeit, Unsittlichkeit, Verwahrlosung. Die anderen träumten von einem Ersatz der Fürsprecher:innen durch die Selbstsprecher:innen, von der Umwandlung der repräsentativen Demokratie zur Basisdemokratie, für eine Welt ohne Hierarchien.
Die Frauen sind es, heute mehr denn je, die die schweren Einkaufstaschen tragen. Noch bevor sie im Fernsehen die Teuerungs statistiken sehen, leiden sie an ihrer Inflationswitterung. Es macht ihnen Angst, dass die Einkaufstaschen immer leichter werden, umsselbe Geld. Frauen spüren, dass die Krise schneller kommt als die Wirtschaftsprofessor:innen denken können. Die Frauen sind oft die Vorhut der Lebensmittelrebellionen. Die zweite neue Kraft sind die Jugendlichen der Vorstädte. Vor ihrer Radikalität, Kompromissfeindlichkeit und Unerschrockenheit ziehen sogar anarchistische Attentatsanwärter:innen den Hut. Die Hungerrevolte hat viele von den jugendlichen Wilden politisiert. Die dritte neue Kraft ist das, was die Bürger Mob nennen, das Arbeiter:innen Gsindl, die Gschtudierten, Marginalisierte und die Pfarre Beladener.
Ein Herbeizoomen dieser Akteur:innen ist nötig, wenn man sich die Wiener Besonderheiten der Hungerkrise anschauen will.
1. Die Frauen haben Hunger
Vielen Frauen und Müttern kam nicht in den Sinn, vor ihre Kinder mit dem pädagogischen Zeigefinger zu treten, wenn diese in den frühen Morgenstunden, »tätowiert« durch die Säbel der Berittenen, nachhause kamen. Leider könne die Aufklärung nur schwer zu den Frauen gelangen, schrieb ein zweifellos männlicher Arbeiterzeitungs-Journalist. Was da am 17. September 1911 in sein Blickfeld geriet, entsetzte ihn. Die Frauen füllten ihre Schürzen mit Steinen, die für ihre Söhne »an der Front« gesammelt wurden. Solche Produktlieferketten auf (proletarischer) Familienbasis stärkten die Verteidigungskraft der Youngsters gegen Dragoner, Ulanen, Husaken, Deutschmeister und Bosniaken, die an der Seite der Polizei mit ungeheurer Härte gegen die Protestierenden vorgingen.
Manche Historiker:innen datieren das Initialerlebnis dieser Revolte auf den Juni 1910. Weil die Fleischpreise einmal mehr gestiegen waren, rief das »Kremser Frauenkomitee« zum Fleischboykott auf. Es gab in dieser behaglichen Senf- und Weinstadt kaum jemanden, der die Offensive der Frauen missbilligte. Zwei Wochen lang blieben die Fleischhauer auf ihren Waren sitzen. Die cleveren Kremser:innen gründeten eine Konsumgesellschaft und verkauften Fleisch zum Einkaufspreis. Das Kremser Modell wurde in keinem Ort zur Vollendung gebracht.
Ebenso von autonormen Frauen ging, ein Jahrzehnt später, der in der Folge so genannte Kirschenrummel in Graz aus. Das klingt nach Kirtag inklusive Wahl der Kirschenkönigin. Es ist nicht bekannt, wem dieser absolut verharmlosende Titel eingefallen ist. In Wahrheit herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände in der sterischen Hauptstadt, zwischen dem Wochenmarkt am Kaiser-Josef-Platz und dem Jakominimarkt. Am 7. Juni 1920 organisierten die Frauen in Eigenregie eine Marktpreiskontrolle. Sie stellten fest: in einem großen Schritt war alles teurer geworden, insbesondere die prallen Kirschen. Die Frauen verwüsteten den Wochenmarkt. Der Weltkrieg war noch nicht lange beendet, die materielle Situation war trister als vor dem großen Krieg. Die rebellierenden Frauen erreichten viel. Schon ab dem 12. Juni wurden die Marktpreise amtlich festgelegt. Es war für den Handel nicht mehr ratsam, Fantasiepreise für die Kirschen zu verlangen.
2. Die Lumpen haben Hunger
Wolfgang Maderthaner: »Die Revolte ist das Stehenbleiben vor der organisierten Revolution in der Anarchie des Aufstands und sie ist die verzweifelt schrille Mündlichkeit vor der artikulierten politischen Rhetorik. Sie ist Wut und Zerstörung, ohne die herrschende Ordnung aufheben zu können. Sie attackiert die Totalität der Herrschaft und trifft doch nur deren individuellen Repräsentanten. Sie kann vom scheinbar Geringsten ausgehen und mit dem Geringsten enden. Ihre Akteure sind klassenbewusste Arbeit ebenso wie Pülcher und Strizzis, Frauen und Männer, Kinder und Alte. Als Masse, die die Revolte trägt, läuft durch sie die Spaltung von Hoffnung und Verzweiflung, Kalkül und Spontaneität, Mut und Zaghaftigkeit, Utopie und Pessimismus, denn in jedem Einzelnen ihrer Teilnehmer sind diese Spaltungen als Mikrokosmos präsent. Ohne im Gesamten Form und Strategie zu haben, können nichtsdestoweniger einzelne Aktionen von hoher Präzision und Planhaltigkeit sein.«
Um zwölf Uhr muss die Demonstration beendet werden. Das hatten die Wiener Parteiführung und die Wiener Polizeiführung vereinbart. Wir befinden uns demnach wieder im Wien des Jahres 1911.
Schon im Oktober 1910 waren Hunderttausende auf der Straße, um gegen die Lebensmittelpreise zu protestieren. Von den offiziellen Protestmärschen ging kein politischer Druck mehr aus. Sie waren oft nur noch ministrant:innenfreie Liturgie. Die Parteisoldaten hatten alles unter Kontrolle. Aber als es ums Nachhausegehen ging, hatte die Parteispitze jede Kontrolle verspielt. Der befürchtete Schulterschluss zwischen Kultur und Subkultur, zwischen Arbeitssuchenden, Arbeitsverweiger:innen und Arbeiteraristokrat:innen war nicht nachhaltig, aber für einen Moment blitzte die Möglichkeit der Gleichheit auf. Auf nach Ottakring, lautete nun die Devise. Zu den Arbeiter:innen gesellte sich immer mehr Mob, vor allem aus dem 16. Bezirk. Der war keiner Partei verpflichtet. Die sozialdemokratische Fortbewegungsform der Prozession wurde durch den Schwarm ersetzt, der als Demoform der Anarchos gilt. In einer Prozession kann man nicht untertauchen, wenn man seinen Steine- Vorrat leer geschossen hat. Ein Schwarm macht alle unsichtbar, die in seinem Inneren Schutz suchen.
Ausgerechnet auf Marx beziehen sich die Funktionäre, die vor einer Aktionseinheit mit dem Plebs warnen. Als Verbündeter der Arbeiter:innen sei dieses Lumpenproletariat – so nannte Marx die Verlierer:innen des Systems – nicht zu verwenden. Ihre Käuflichkeit sei konstituierendes Merkmal dieses Milieus.
Diese Ressentiments waren im September des Jahres 1911 Schall und Rauch. Die gemeinsame Sorge, woher die Krone zu holen sei, um zumindest einmal in der Woche in eine Extrawurstsemmel beißen zu können, schaffte eine Nivellierung innerhalb der beherrschten Klassen. Die weniger Verarmten schnitten sich ein Gurkerl auf die Wurst (Quelle fehlt). Die führenden Sozis hätten es am liebsten, wenn ein Vaterunser, der – verdammt! – gerechter ist als der Herrgott, den wir kennen, so nett wäre, den 17. September aus dem Schöpfungsregister zu streichen.
3. Die Kinder der Gasse haben Hunger
Der Fokus auf die Kids der Vorstadt ist notwendig, um die Bedeutung dieses Tages zu begreifen. Viele Historiker:innen verwenden den Begriff Jugendrevolte, um das überraschendste Phänomen dieses Aufstands zu würdigen. Zehn- bis 15-jährige Halbwüchsige brachten ihre spezifische Organisationsform, die Bloddn (deutsch: Platten) in die Revolte ein. In Einzelgefechten eroberten sie die militärisch gleiche Augenhöhe mit den Gesetzeshütern. Weil die Polizei an diesem Tag schon vier Menschen getötet hatte (einem Mann war durch einen Dragonersäbel der Kopf gespaltet worden), wurden die Aktivitäten der Gassenkinder als Gegengewalt empfunden. Die marxistische Analyse war nicht die Hauptkompetenz der Arbeiterzeitung. Für das sozialdemokratische Zentralorgan waren die Kids nichts als verwahrloste Kriminelle. Stolz hob sie hervor, dass es unter den rund 200 verhafteten Jugendlichen kein einziges Mitglied der sozialdemokratischen Jugendorganisation gab. Eine tadellose Referenz für eine Organisation, die eine sozialistische Revolution in Erwägung zog.
Über die Hungerrevolte zu reden, heißt, über Franz Schuhmeier zu reden. Wenn jemand sagt, Lueger hätte das Volk durch sein Charisma elektrisiert wie kein anderer Politiker vor und nach ihm (bis 1933), sagt er nur die halbe Wahrheit. Schuhmeier bot ihm Paroli. Er war spätestens nach 1911 der von der Reaktion bestgehasste Sozialdemokrat in Österreich. Seine Duelle mit dem Bürgermeister wurden legendär. Schuhmeier setzte dafür die einzige Sprache ein, die er beherrschte: ein vorstädtisches Wienerisch, derb wie das Idiom der Strizzis. »Es ist beschämend, dass wegen jeder Tonne Fleisch Straßendemonstrationen stattfinden müssen und dass sich die Bevölkerung mit der Polizei herumraufen muss, die ja genauso billiges Fleisch braucht wie die Demonstrantinnen«, so Schuhmeier in seiner Parlamentsrede von Ende Juli 1911.
Er war der ungekrönte Kaiser von Wien. 1891 hatte er mit ein paar Dutzend Aktivist:innen begonnen, die Bezirksorganisation Ottakring der SDAP aufzubauen. 1911 war diese Bezirksorganisation schon so stark, dass sie alleine 2.600 Ordner für den längsten Begräbniszug, den Wien je erlebte, abstellen konnte. Es war das Begräbnis von Franz Schuhmeier. Eine halbe Million folgte dem Sarg. Jede:r vierte Wiener:in. Seither flammte die Diskussion über die Rolle charismatischer Einzelpersonen in einer Partei, die die Gleichheit an die Spitze ihrer Werteskala stellt, immer wieder auf. Ohne Zweifel ist Franz Schuhmeier die Verkörperung des Populismus von links. Die Juden sind ihm nicht geheuer. Er suchte die Ursachen der Hungerkrise nicht in der Struktur der kapitalistischen Herrschaft, sondern in der Bosheit bürgerlicher Politiker. Wie eine zynische Einladung zur Randale mutete seine Drohung an die Regierung an: »Wenn der Ministerpräsident die Fenster klirren und die Straßen erdröhnen lassen will von den Rufen der Verzweiflung, so kann er das erleben.«
Der überaus nützliche Populist
Viele Arbeiter:innen vermochten dieses Spiel nicht zu durchschauen. Sie hielten diese pur verbale Aggression für sozialdemokratische Politik und fanden ihre eigene Wut gut darin aufgehoben. Der Radikalismus war Schimäre. Der Populist rettete die Einheit der Partei. Viktor Adler und Otto Bauer, die beiden Denker der Partei, hielten nichts von ihm.
Es war ein Tag des Staunens und des Lernens. Der Journalist von der Arbeiterzeitung staunte, wie organisch sich der Zorn der Demonstrant:innen, unter denen die Infos von der Ermordung eines »Unsrigen« sofort zirkulierten, mit dem Scheißdrauf der Halbstarken (ich glaube, dieses Wort war damals noch nicht erfunden) vermischen ließ. Noch mehr staunte er, wie sehr die roten Straßenbahnfahrer grinsten, als die Kids eine Bim aus den Gleisen kippten. Am nächsten Morgen wird das Bild mit der umgestürzten Straßenbahn in allen Zeitungen zu sehen sein, mit Bedacht auch in der Arbeiterzeitung, damit deren Leser:innen zumindest im Nachhinein wissen, dass die Parteispitze gut beraten war, den Aufstand für die billige Knackwurst von 9.00 bis 12.00 Uhr zu terminisieren.
Die anfangs zitierte Schilderung von Otto Bauer ist aus dramaturgischen Gründen unterbrochen worden. Das Zitat schließt so: »Im Rücken der wild erregten Menge plünderte das Lumpenproletariat die Geschäftsläden.« Wem nützt, lieber Onkel Otto, der austromarxistische Überbau, wenn Verhungernde aus moralischen Gründen keinen Laden plündern dürfen? In einer Stadt, in der 40.000 Menschen einem Sarg nachlaufen, in dem Einbrecherkönig Schani Breit wieser ruht, der sachlich kompetenteste Safeflüsterer der Monarchie, zeigt der Zeigefinger ins Leere. Bauers Plünderer waren Teil einer sub-proletarischen Bewegung, die die proletarische, und Teil der proletarischen, die die subproletarische begleitete. Sie waren erfolgreich: Das Mieterschutzgesetz und die Mieterschutzverbände, die mit dem Skandal des Bettgeher:innentums Schluss machten, waren die Folgen des 17. Septembers 1911.