Die staatlichen Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 werden auch in der Linken sehr kontrovers diskutiert. Ein Plädoyer für eine mehrdimensionale Sichtweise.
VON KARL REITTER
Nach Monaten der Erfahrung mit Covid-19 lassen sich ernsthafte Aussagen über die Gefährlichkeit des Virus treffen. Die Sterblichkeit ist inzwischen fast auf das Niveau einer Grippe gesunken. »Der Median liegt bei 0,23 Prozent, aber es gibt große regionale Unterschiede«, zitiert Florian Rötzer den international anerkannten Epidemologen John Ioannidis. (Rötzer, telepolis, 24.10.2020) Der Professor für Allgemeinmedizin an der MedUni Wien, Andreas Sönnichsen, ermittelte auf Basis des amtlichen Dashboards eine »Infection-Fatality-Rate« (IFR), sprich eine Sterberate »zwischen 0,1 % und 0,8 %« (Sönnichsen, 57) Seine Schlussfolgerung: Sars-CoV-2 sei »nicht wesentlich gefährlicher als eine etwas heftigere Grippewelle«. (Sönnichsen, 59) Das Problem liegt weniger in der Gefährlichkeit der Erkrankung, sondern in der Rasanz der Ausbreitung. So trifft eine steigende Zahl von infizierten Personen auf ein neoliberales, kaputt gespartes Gesundheitssystem, dessen Mängel angesichts der Pandemie nicht mehr zu verschleiern sind. Diese Mängel sind selbst bei ehrlichem politischem Willen kaum in wenigen Wochen zu kompensieren. Daher die Schlussfolgerung: Es gäbe, schon um den Zusammenbruch des Gesundheitssystem zu verhindern, keine Alternative zu den einschneidenden staatlichen Maßnahmen. Für manche ist die Debatte damit schon beendet. Eigentlich beginnt sie erst.
Vermintes Gelände
Anstatt das soeben skizzierte Szenario zum Ausgangspunkt einer dringend nötigen Debatte zu nehmen, wird jede weitere Diskussion oftmals demagogisch verunmöglicht. Wer Kritik äußert, ja selbst nur eine sachliche, wissenschaftlich fundierte Debatte einfordert, wird als Corona-LeugnerIn und VerschwörungstheoretikerIn denunziert. Zu diesem Zweck werden bedeutungslose Mini-Sekten und ihre abstrusen Vorstellungen zu relevanten gesellschaftlichen Strömungen aufgeblasen und als repräsentativ für all jene vorgeführt, die eine ruhige, abwägende Debatte einfordern. Erfahrene MedizinerInnen und ExpertInnen wie John Ioannidis und Hendrik Streeck werden medial als verantwortungslose Scharlatane vorgeführt. Wer sich kritisch äußert, ist geradezu genötigt, erstmal einen Eid abzulegen, er oder sie sei keine Corona-LeugnerIn. Ein Beispiel: Rolf Gössner, ein engagierter, linker Anwalt in Deutschland, bekam den Hans-Litten-Preis zugesprochen. In seiner Dankesrede kommt Gössner auch auf Corona zu sprechen und leitet seine Redepassage mit folgenden Worten ein: Er würde sich nun auf »ziemlich vermintes Gelände« begeben. Er wusste offenbar, seine Aussagen – wie etwa folgende – können auch in der Linken einen Sturm der Entrüstung hervorrufen: »Es gibt begründete Zweifel an der Angemessenheit mancher der panikartigen und pauschal verhängten Lockdown-Maßnahmen auf ungesicherter Datenlage.« (Gössner, junge Welt, 13.10.2020)
Vom Kleinreden der Folgeschäden
Die Diskussion wird insbesondere dann schwierig, wenn die dramatischen Folgeschäden der Maßnahmen systematisch kleingeredet werden. Man kann die Gefährlichkeit des Virus unterschätzen, man kann aber auch die Folgewirkungen der Einschränkungen unterschätzen, und zwar auf allen Gebieten des sozialen Lebens. Studien weisen auf die dramatischen gesundheitlichen und psychischen Folgen des Lockdowns hin. (Andreas von Westphalen, telepolis, 12.11.2020) Es ist für mich bedrückend, wie viele Kräfte auch in der Linken diese negativen Folgeschäden nicht wahrhaben wollen oder kleinreden. Selbst die kapitalistische Ökonomie kommt nicht ungeschoren davon. Machen wir uns nichts vor, obwohl die Produktion weiter läuft und alles andere erstickt wird, verstärken die Maßnahmen die schwelende Krise der kapitalistischen Ökonomie. Alfred Noll hat das Dilemma des Staates diesbezüglich treffend beschrieben: »Der Covid-19-Staat ist der Würgeengel der kapitalistischen Produktionsweise, indem er Produktion und Konsumtion über weite Strecken verhindert – er macht also exakt das Gegenteil von dem, wozu er geschaffen wurde.« (Noll, 93). Nolls entscheidende These dazu lautet: Die Notwendigkeit, »immer das eine und das andere zugleich machen zu müssen«, kann mit den »üblichen parlamentarischen Routinen« nicht bewerkstelligt werden. Massive Schädigung der Ökonomie verknüpft sich mit weitgehender Suspendierung der Rechtsstaatlichkeit. Viele linke Stimmen weisen kritisch darauf hin. Halina Wawzyniak und Udo Wolf schreiben in einem Papier der Rosa Luxemburg Stiftung: »Linke Politik, die aus der Geschichte gelernt hat, darf Freiheitsrechte nicht geringschätzen. […] Ohne Freiheitsrechte lässt sich gesellschaftlicher Fortschritt nicht erstreiten und auch keine sozial gerechte Politik. Die Würde des Einzelnen, die nach dem Grundgesetz unantastbar ist, beinhaltet, dass der Mensch nicht zum reinen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf.« Der Parteigenosse von Wawzyniak und Wolf, Klaus Lederer, ist anderer Meinung und plädiert für den Ausnahmenzustand: »Die begrenzte Außerkraftsetzung von Grundrechten ist angesichts der Bedrohung für Menschenleben nicht nur legitim, sondern notwendig.« (Lederer, Neues Deutschland, 13.10.2020) Der Aufschrei aus der Linken blieb aus.
Von Schuldzuweisungen auf Basis absurder Annahmen
Stattdessen passiert etwas sehr Problematisches. Normalerweise weisen vernünftig und besonnen denkende Menschen Schuldzuweisungen an bestimmte Personengruppen mit guten Argumenten zurück. Weder die Jüdinnen und Juden, die MigrantInnen, die Muslima noch die Erwerbsarbeitslosen usw. sind am Übel der Welt schuld. Bei Corona wird anders argumentiert: Aus Angst und Frust werden Sündenböcke gesucht und drakonische Strafen gefordert. Nun seien es die unverantwortlichen HedonistInnen, die die Ausbreitung des Virus weiter ermöglichen. Um es unmissverständlich und klar zu sagen: Zu meinen, wenn wir uns alle nur richtig verhalten würden, würde Covid-19 aus der Welt verschwinden, ist eine unverantwortliche Wahnidee. Keine Frage, entsprechendes Verhalten kann wohl die Ausbreitung bremsen, aber kein denkbares Verhalten kann Covid-19 ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Es müssten schon jegliches soziale Leben, jeglicher Kontakt auf Tage, wenn nicht Wochen, vollständig eingestellt werden, und das ohne Ausnahme, weltweit – eine Unmöglichkeit. Selbst wenn das Virus unter die Wahrnehmungsschwelle herabgedrückt werden würde, könnte es jederzeit umso rascher wieder ausbrechen. Wie sich das Virus tatsächlich ausbreitet, wissen wir kaum. Die Cluster-Analyse der staatlichen Agentur AGES weist »Haushalt« zu 67 Prozent als Infektionsherd aus, aber wie kommt Covid-19 in die Familien? (Quelle: www.ages.at) »Bürgerinnen und Bürger können nirgendwo nachlesen, ob ein Restaurantbesuch zu zweit gefährlich ist; ob sich viele Menschen beim Friseur oder Arztbesuch oder zum Beispiel in Aufenthaltsräumen oder Meetings am Arbeitsplatz angesteckt haben.« (Standard, 1.11.2020) An die Stelle wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse treten Phantasien über die Verbreitungswege des Virus. Der Hass gegen die Uneinsichtigen hat auch eine soziale Dimension: »Während die unterprivilegierten Massen nun dem Staat misstrauen, sind es die privilegierten linksliberalen und postmaterialistischen Oberschichten und Eliten, die dem Staat täglich die Mauer machen und ihn immer wieder dazu anfeuern, gegen ungestüme und uneinsichtige Massen vehement durchzugreifen.« (Heinzlmaier, 245)
Hoffen auf die Erlösung?
Der Erlöser heißt 2020 nicht Jesus, sondern »Die Impfung«. Wenn überhaupt, beruht der rationale Kern der aktuellen Maßnahmen auf der Hoffnung, spätestens im Frühjahr 2021 gäbe es einen Impfstoff. Und was ist, wenn nicht? Zweifellos konnten Infektionskrankheiten tatsächlich ausgerottet werden, etwa die Pocken. Gegen andere Infektionskrankheiten wie Malaria, HIV und Hepatitis C gibt es bis dato keine Impfung und es scheint auch keine in Sicht. Nun erreichen uns Pressemeldungen aus den Hauptquartieren der Pharmafirmen Pfizer und BioNTech, sie hätten bereits den Impfstoff BNT162b2 entwickelt, der bald einsatzbereit wäre. Viele medizinische Fragen sind offen, aber es gibt in jedem Fall GewinnerInnen. Allein Pfizer-Chef Albert Bourla machte innerhalb von Tagen durch Verkauf seiner Aktien 5,6 Millionen US-Dollar Gewinn (Rötzer, telepolis, 12.10.2020). Angesichts jüngster Erfahrungen mit Pharmafirmen ist jedenfalls Skepsis angebracht. 2009 wurde durch die WHO die Schweinegrippe-Pandemie ausgerufen, deren Gefährlichkeit völlig überschätzt wurde. Die Infektionskrankheit wurde mit dem rasch entwickelten Impfstoff Pandemrix bekämpft, mit dramatischen Folgen. »Insbesondere in Schweden kam es in Folge der H1N1-Impfung mit dem Impfstoff Pandemrix in mehreren hundert Fällen zu unheilbaren Nebenwirkungen der Narkolepsie (Schlafkrankheit), von der vor allem Kinder und Jugendliche betroffen waren.« (Hunko, 50) Ein Großteil der Medikamente wurde deswegen vernichtet, die Kosten betrugen 30 Milliarden Euro. Aber das Starren auf die Entwicklung von Impfstoffen provoziert eine weitere Frage: kein Interesse an Medikamenten?
Erstaunlicherweise ist von der Entwicklung wirksamer Medikamente gegen Covid-19 nirgendwo die Rede. Krankheiten durch Impfungen zu verhindern ist eine Sache, eine andere, sie mit Medikamenten zu lindern und zu heilen. Gegen AIDS gibt es keine Impfung, aber wirksame Medikamente haben der Krankheit ihren Schrecken genommen. Wieso gibt es offenbar so wenig Interesse an der Entwicklung von Medikamenten gegen Covid-19? Wieso ist das schlichtweg kein Thema? Liegt es am Profitinteresse der Pharmafirmen? Derzeit würden wirksame Medikamente gegen Covid-19 hierzulande wohl nur einigen tausenden Menschen verabreicht werden. Zu impfen sind aber hunderte Millionen … Die Debatte ist eröffnet.
Quellenangaben: Um den Text nicht mit Fußnoten zu überlasten, wurde nur Name, Medium und Datum angegeben. Die Quelle ist so leicht zu recherchieren. Namen mit Seitenzahlen verweisen auf Texte im Sammelband Lockdown 2020, der im Promedia-Verlag erschienen ist. Zitiert wird aus den Texten: Alfred Noll, Seuchenzeit: der Staat als ideeller Gesamtkapitalist; Bernhard Heinzlmaier, Jugendliche als Betroffene der Corona-Pandemie; Andrej Hunko, WHO – Wer bestimmt, was gesund ist?, Andreas Sönnichsen, Covid-19: Wo ist die Evidenz?