Links: Antirassistische Organisationen kämpfen weiter darum, dass Persönlichkeiten wie Patrice Lumumba, ehemaliger Premierminister des unabhängigen Kongo, der im Auftrag Belgiens ermordet wurde, den Platz bekommen, den sie verdienen – auf unseren Straßen, in unseren Geschichtsbüchern... Rechts: Nabil Boukili Links: Antirassistische Organisationen kämpfen weiter darum, dass Persönlichkeiten wie Patrice Lumumba, ehemaliger Premierminister des unabhängigen Kongo, der im Auftrag Belgiens ermordet wurde, den Platz bekommen, den sie verdienen – auf unseren Straßen, in unseren Geschichtsbüchern... Rechts: Nabil Boukili FOTO INTAL

INTERVIEW: »Der Kolonialismus hat dem Kongo, Ruanda und Burundi das Licht und die Zukunft geraubt«

von

In Belgien hat das Bundesparlament am 17. Juli eine Kommission eingesetzt, die Belgiens Kolonialvergangenheit untersuchen und Lehren für die Gegenwart und Zukunft ziehen soll. NABIL BOUKILI, Abgeordneter der Partei der Arbeit Belgiens (PTB-PVDA), der sich schon seit Jahren vor Ort dem Kampf gegen Rassismus und Kolonialismus widmet, ist Mitglied dieses Komitees und sein Berichterstatter. TONY BUSSELEN hat mit ihm gesprochen.

In Belgien war die Geschichte des belgi­schen Kolonialismus im Kongo, in Ruanda und Burundi lange Zeit ein Tabuthema. Noch bis vor einiger Zeit wurde die »zivilisatorische Mission« die­ses Kolonialismus in Schulen gelehrt. In den letzten Jahren hat das flämische Fernsehen dem Thema eine Serie gewid­met, und jetzt gibt es diese Kommission. Worauf ist diese Entwicklung zurückzu­führen?

NABIL BOUKILI: Diese Entwicklung ist das Ergebnis von Kämpfen, die in die 1980er-Jahre zurückreichen, als in der akademi­schen Welt noch keine Einigkeit zur Frage der Kolonialvergangenheit herrschte und außerhalb der akademischen Welt die ers­ten kritischen Stimmen gegen den Kolonia­lismus laut wurden.

Heute zahlt sich der Druck der antikolo­nialen Bewegung aus. Die weltweiten Reak­tionen auf den Mord an George Floyd, die auch an unserem Land nicht vorbeigegan­gen sind, zeigen, dass ein Teil der Bevölke­rung bereit ist, sich für dieses Thema zu engagieren … Weitere Initiativen wurden gestartet, beispielsweise die Petition des Schülers Noah, bei der 80.000 Unterschrif­ten zusammenkamen. Er beklagt die Exis­tenz von Statuen wie die von König Leopold II, einem äußerst brutalen Kolonialherr­scher. Angesichts all dieser Aspekte sah sich das Parlament gezwungen, sich dieser Geschichte zu stellen.

Die Existenz dieser Kommission ist somit ein Erfolg für all jene Organisationen und Personen, die seit Jahren darum kämpfen, Licht in die Kolonialvergangenheit Belgiens zu bringen. Dies ist ein außerordentliches Ereignis, weil Belgien eine der wenigen ehemaligen Kolonialmächte ist, die eine Kommission dieser Art ins Leben gerufen haben.

Angriffe auf die Statuen von König Leo­pold II werden manchmal als Angriffe auf »unsere Traditionen und unsere Geschichte« gedeutet. Besteht nicht die Gefahr, dass die Kommission solche Ideen verstärkt?

NABIL BOUKILI: Der Kolonialismus war zu keinem Zeitpunkt eine Initiative der belgi­schen Bevölkerung: Es ging dabei aus­schließlich um das Streben nach großen Profiten. In erster Linie für König Leopold II selbst, und dann für das belgische Großka­pital. Der Kolonialismus ging von jener kleinen Minderheit in Belgien aus, die zur gleichen Zeit den Großteil der Belgier* innen zu Hause unterdrückten und ausbeu­teten. König Leopold II war es schließlich auch, der für die Erschießung belgischer Arbeiter*innen verantwortlich war und im Kongo ein Terrorregime aufbaute, in dem Kongoles*innen, die nicht genug Gummi lieferten, die Hände abgeschnitten wurden. In den 1950er-Jahren wurde die kongolesi­sche Wirtschaft von einigen wenigen gro­ßen belgischen Finanzgruppen kontrolliert. Nehmen wir als Beispiel Union Minière: Mit den Kupferminen von Katanga schuf dieses Unternehmen während der Kolonialzeit die Grundlage für seinen Reichtum. Selbst nach der Unabhängigkeit gelang es der Firma, diese Minen weiter zu kontrollieren und eignete sich auf diese Weise viele Milliar­den belgische Franken an. Ihren Namen hat sie auf Umicore geändert. Wir sprechen von ebenjenem Unternehmen, das in Bel­gien mit seiner Produktionsstätte in Hobo­ken (Antwerpen) Kinder im Arbeiter*innen­viertel Moretusburg krankmacht. Und des­sen Direktor erst kürzlich erklärte, dass Familien mit Kindern doch einfach umzie­hen sollten, wenn sie von seinem Werk nicht vergiftet werden wollten. Der Kampf um Dekolonisation ist insofern nicht ein Kampf gegen die belgische Bevölkerung, sondern gegen belgische Großunterneh­men.

Was sind deiner Ansicht nach die Inhalte und Ziele dieser Kommission?

NABIL BOUKILI: Unser erstes Ziel in die­ser Kommission besteht darin, Kolonialver­brechen zu beleuchten. Denn der Kolonia­lismus ist vor allem ein Projekt, das in der Geschichte mit beispielloser Gewalt vor­ging, ein zerstörerisches Projekt für die kolonialisierten Länder und Menschen auf wirtschaftlicher, kultureller und gesell­schaftlicher Ebene. Für die betroffenen Menschen war das tägliche Leben unter dem Kolonialismus schrecklich, umfasste es doch Dinge wie das Abhacken von Händen, Zwangsarbeit usw.

Dieser belgische Kolonialismus im Kongo, in Ruanda und Burundi hatte Konsequen­zen, deren Folgen noch heute sichtbar sind. Zerstörte Länder, verfälschte Kultur. Jegli­che Strukturen, die diese Länder hätten aufbauen können, um sich ihren Schwierig­keiten zu stellen, wurden von den Siedler* innen zerstört.

Der Kolonialismus hat die­sen Ländern absolut nichts Positives gebracht. Im Gegenteil: Er hat ihnen die Zukunft geraubt.

Was primär zu dieser grausamen Ausbeu­tung des Kongo, von Ruanda und Burundi geführt hat, war die Gier nach Profiten für das belgische Großkapital. Wir müssen uns gegen die Idee verwehren, dass es in der Kolonialzeit einen »Austausch« gegeben habe oder es sich um eine »Win-Win«-Beziehung gehandelt hätte. Dieser Mythos, dass der Kolonialismus für die koloniali­sierten Länder mehr Gutes gebracht als Schaden angerichtet habe, ist gefährlich und komplett falsch. Im Kolonialismus gab es Gewinner*innen: die königliche Familie und die großen belgischen Vermögen, die großen belgischen Unternehmen. Es sei nur daran erinnert, dass 11 der 23 reichsten Familien in Belgien ihr Vermögen zumin­dest teilweise dem Kolonialismus verdan­ken. Und dann gab es die Verlierer*innen: die Kongoles*innen.

Sollte die Kommission auch die Geschichte des Kolonialismus mit der heutigen Situation in Zusammenhang bringen?

NABIL BOUKILI: Unbedingt. Rassismus beispielsweise hat seinen Ursprung im Kolonialismus. Denn um diese Länder kolo­nialisieren und ohne Skrupel ausbeuten zu können, musste die belgische öffentliche Meinung davon überzeugt werden, dass es sich dabei um ein absolut legitimes Unter­fangen handelte. Und um die Ausbeutung dieser Menschen und die Massaker zu rechtfertigen, musste gezeigt werden, dass uns diese »unzivilisierten« Menschen unterlegen waren, dass sie ohne uns nicht zurechtkamen.

Die Folgen sehen wir in unserer heutigen Gesellschaft. In der Community mit afrika­nischen Vorfahren haben zwar 60 Prozent der Menschen einen abgeschlossene Ausbil­dung, und trotzdem sind sie mit am stärks­ten von Erwerbslosigkeit betroffen. Das ist strukturell bedingt und hat seinen Ursprung in Vorurteilen, die aus der Kolo­nialzeit stammen.

Wir müssen aber auch Konsequenzen und Lehren für die belgische Außenpolitik zie­hen. Unsere Beziehungen zu diesen Län­dern sind noch immer nicht ganz frei vom Kolonialgeist. Unsere Regierungen nehmen sich die Freiheit heraus, definieren zu kön­nen, wer »demokratisch« ist und wer nicht. Das ist Paternalismus, als seien die Men­schen jener Länder nicht in der Lage, ihre Rechte zu verteidigen und selbst die Ent­scheidungen zu treffen, die sie für ihr eige­nes Land für gut halten. In ihren Schlussfol­gerungen sollte die Kommission auch diese neokoloniale Politik infrage stellen.

Gab es auch Widerstand gegen diese Kommission?

NABIL BOUKILI: Im Parlament gab es Widerstand, insbesondere von Parteien wie der rechtsextremen Vlaams Belang, der rechtsnationalistischen Neu-Flämischen Allianz (N-VA) und der neoliberalen Reformbewegung (MR).

Die MR war dagegen, dass die Kommis­sion den wirtschaftlichen Aspekt behan­delte, und wollte den belgischen Kolonialis­mus mit der Praxis anderer Kolonialmächte gleichsetzen. Als ob das die Unmenschlich­keit des Kolonialismus für die Kolonialisier­ten verringern würde ...

Um den Kolonialismus zu relativieren, nutzen ironischerweise die N-VA und Vlaams Belang, beides flämische separatis­tische Parteien, die sich das Ende Belgiens wünschen, die gleiche Art von Argumenten wie die MR, eine nostalgische, paternalisti­sche Partei. Auf der Website von Vlaams Belang heißt es, die Partei würde »eine sys­tematische und radikale Diskreditierung der Kolonialvergangenheit« ablehnen. Der Vorsitzende der N-VA, Bart De Wever, erklärt zudem, der Kolonialismus müsse vor dem Hintergrund der Sitten der dama­ligen Zeit betrachtet werden. Was es ins rechte Licht rückt…

Andererseits sagen N-VA und Vlaams Belang, Flandern habe nichts mit dem Kolo­nialismus zu tun. Doch sowohl das flämi­sche Kapital als auch die wallonische Indus­trie profitierten vom Kolonialismus. Im Vorstand des Unternehmens Abir, das für König Leopold II Gummi extrahierte, waren nicht wenige Antwerpener Geschäftsleute vertreten. Auch Finanzholdings wie die Société Anversoise und die Crédit Anver­soise waren im Kongo aktiv. Selbst die Familie Van Thillo, die der N-VA sehr nahe steht und die mächtige Pressegruppe Pers­groep ihr Eigen nennt, war in den 1930er-Jahren im Diamantsektor aktiv.

Noch wichtiger ist, dass diese Kommis­sion eine vorhandene Debatte in der Gesell­schaft freilegt: Sind wir für Solidarität zwi­schen Menschen, oder sind wir für eine Gesellschaft, in der Menschen gegeneinan­der ausgespielt werden? Da sich diese Kom­mission auch mit Themen wie Rassismus auseinandersetzt, ist sie diesen rechten Parteien mit Sicherheit ein Dorn im Auge.

Erstveröffentlicht auf Französisch und Eng­lisch auf der Website der Partei der Arbeit Belgiens (PTB-PVDA), ins Deutsche übersetzt von Hilde Grammel.

https://international.ptb-pvda.be/articles/colonization-stole-light-and-future-congo-rwanda-and-burundi

AA FB share

 

 

Gelesen 4740 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 19 November 2020 12:58
Bitte anmelden, um einen Kommentar zu posten

Kontakt

Volksstimme

Drechslergasse 42, 1140 Wien

redaktion@volksstimme.at

Abo-Service: abo@volksstimme.at

Impressum

Medieninhaber und Herausgeber:

Verein zur Förderung der Gesellschaftskritik
ZVR-Zahl: 490852425
Drechslergasse 42
1140 Wien

ISSN Nummer: 2707-1367