Die Welt blickt besorgt auf diese entlegene Ecke der Welt. Im Konflikt um die international nicht anerkannte, umkämpfte Republik Arzach (Bergkarabach) geht es nicht mehr nur um territoriale Begehrlichkeiten, sondern um die Vormachtstellung der Türkei.
VON ELKE DANGELEIT
Lange Zeit lebten im Kleinen Kaukasus verschiedene Völker in den abgeschiedenen Tälern relativ friedlich nebeneinander: Armenier*innen, schiitische Aseris (Tatar*innen), ezidische und muslimische Kurd*innen. Die willkürlichen Grenzziehungen am Reißbrett und geopolitische Interessen führten und führen auch in dieser Region immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen.
Ein kurzer Blick in die Geschichte der Region
Armenien war der erste christliche Staat auf der Welt. Das armenische Christentum ist von einer starken nationalen und religiösen Identität mit eigener Nationalkirche geprägt. Das Siedlungsgebiet der Armenier*innen umfasste ein Territorium bis weit in die heutige Türkei hinein. Zu diesem Siedlungsgebiet gehört auch Berg-Karabach, wo ebenfalls schon immer mehrheitlich Armenier*innen lebten. Bis 1919 hatte Bergkarabach keinen eindeutigen Status. Auch die Pariser Friedenskonferenz vom 18.–21. Januar 1919 konnte dafür keine eindeutige Regelung finden, eine dauerhafte aserbaidschanische Herrschaft über dieses Gebiet wurde jedoch nicht anerkannt. 1920 kam es in Baku, der heutigen Hauptstadt Aserbaidschans, zu Massakern an dort lebenden Armenier*innen mit 30.000 Opfern. Zur gleichen Zeit fanden Massaker der aserischen »Islamischen Armee« in der historischen Hauptstadt Schuscha statt, dem die Hälfte der Stadtbevölkerung (20.000 Armenier*innen) zum Opfer fiel.
Die schiitischen Aseris, ein Turkvolk, sympathisierten angesichts der russischen Expansion im Südkaukasus im 19. Jahrhundert mit dem sunnitischen Osmanischen Reich und später mit dem aufkommenden Pantürkismus der Jungtürken. Der Völkermord im Osmanischen Reich an den Armenier*innen und anderen Christ*innen 1915 traf auch bei den Aseris auf Unterstützung.
Am 4. Juli 1921 beschloss Stalin, Berg karabach der autonomen »Sowjetrepublik Aserbaidschan« zu übergeben, als Georgier wohl wissend, dass in der Region mehrheitlich Armenier*innen lebten. Stalin nutzte also die Differenzen zwischen den Armenier*innen und Aseris, um beide besser unter Kontrolle halten zu können. In der Sowjetunion wurde der Status von Berg-Karabach nie richtig geklärt. Ihm wurde keine Bedeutung beigemessen, da die ganze Region ja zum Territorium der Sowjetunion gehörte.
In der Auflösungsphase der Sowjetunion in den 1980er Jahren kam es in Armenien zu zahlreichen Streiks und Protesten, bei denen die Armenier*innen aus Bergkarabach ihre Zugehörigkeit zu Armenien forderten. Ende 1989 eskalierte der Konflikt in einem grausamen Krieg um Bergkarabach, bei dem Tausende Menschen starben. Von März bis Juni 1991 vertrieben aserbaidschanische Truppen mit Unterstützung der 23. Sowjetarmee in und um Bergkarabach die armenische Zivilbevölkerung aus 23 armenischen Dörfern. 1991 erklärte Bergkarabach als Republik Arzach seine Unabhängigkeit von Aserbaidschan, allerdings wurde sie international nie anerkannt. Von Dezember 1991 bis 1994 versuchte die aserbaidschanische Armee, das Gebiet zurückzuerobern. Bilanz: 40.000 Kriegstote, davon 23.000 Armenier*innen, 80.000 armenische und 40.000 aserische Kriegsflüchtlinge und bis zu 700.000 Kriegsflüchtlinge aus den umliegenden aserbaidschanischen Gebieten. Der Krieg endete im Mai 1994 mit einem Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Es folgten Jahre der angespannten Koexistenz, allerdings ohne den Status von Bergkarabach zu klären. Dies war eigentlich der Auftrag des Minsker-Vermittlungsausschusses der OSZE, der aus Frankreich, Russland und den USA bestand.
Nach Ansicht des Staatswissenschaftlers Otto Luchterhand ist Bergkarabach nicht nur de facto, sondern de jure kein Teil Aserbaidschans. Dies deckt sich mit den vier UN-Resolutionen, die zwar die armenische Besatzung von Provinzen außerhalb Bergkarabachs verurteilen, aber nicht von Bergkarabach selbst und auch nicht von Lachin, dem Korridor zwischen Bergkarabach und dem armenischen Staatsgebiet.
Der aktuelle Konflikt um Berg-Karabach
Bisher war Russland immer die Schutzmacht von Armenien. Nachdem es 2018 in Armenien zu einer friedlichen Revolution kam, bei der die herrschenden Oligarchen abgesetzt wurden, agiert Putin zögerlich im aktuellen Konflikt. Bei dem neu ausgebrochenen Krieg ging der jüngste Angriff von Aserbaidschan aus – befeuert durch die Türkei. Armenien hatte sich mit dem bisherigen Status quo von Bergkarabach abgefunden. Aserbaidschan konnte durch die Einnahmen seiner Öl- und Gasquellen massiv aufrüsten. Israel, Russland, Weißrussland und die Türkei statteten das Land mit Waffen, die Türkei und Israel auch mit Drohnen aus. Das wirtschaftlich schwache Armenien ist mit seiner veralteten russischen Waffentechnik dem Nachbarland militärisch unterlegen. Daher ist Armenien nicht an einem Krieg mit Aserbaidschan interessiert. Vielmehr möchte die Regierung in Jerewan den Erhalt des Status quo von Bergkarabach und die internationale Anerkennung der Republik Arzachs (Berg-karabach).
Welche Rolle spielt die Türkei im Konflikt?
Zusammen mit der neo-osmanischen Expansionspolitik Erdogans wuchs in der Türkei eine nationalistische Strömung in Verbindung mit dem politischen Islam. Erdogan sieht die Türkei als Führungsmacht der islamischen Staaten, auch wenn er dies bisher real kaum durchsetzen konnte. Der jetzige Ausbruch des Konflikts zwischen Aserbaidschan und Armenien kam für Erdogan zum rechten Moment, da er die Türkei als Schutzmacht Aserbaidschans ins Spiel bringen konnte, auch im Sinne der aserbaidschanischen Staatsdoktrin »eine Nation – zwei Staaten«. Innenpolitisch will Erdogan sowieso über außenpolitische Provokationen von den gravierenden ökonomischen Problemen im eigenen Land ablenken. Dazu gehören neben der völkerrechtswidrigen Annexion kurdischer Gebiete in Nordsyrien auch die Provokationen im östlichen Mittelmeerraum um Gasbohrungen in Griechenlands Gewässern. Das Abkommen über Seegrenzen mit Libyen, das international nicht anerkannt wird, weil es die souveränen Rechte Griechenlands in dem betreffenden Gebiet ignoriert, ist ebenfalls in diesem Kontext zu betrachten. Weiterhin ist Aserbaidschan für die Türkei auch energiepolitisch wichtig. Der direkte Zugang zu aserbaidschanischem Öl und Gas würde die Türkei unabhängig von russischem Gas und anderen Öllieferant*innen machen. In diesem Zusammenhang ist die aserbaidschanische Offensive im Süden von Bergkarabach zu betrachten: Es könnte eine Landverbindung von Aserbaidschan über Bergkarabach und bisher unbestritten armenisches Staatsgebiet in die aserbaidschanische Enklave Nachitschewan hergestellt werden, die direkt an die Türkei angrenzt.
Türkei greift auf Seiten Aserbaidschans in den Konflikt ein
Als bisher einzige internationale Akteurin trat die Türkei auch militärisch auf den Plan. Der russische Militärexperte Konstantin Sivkov schrieb dazu: »Tatsächlich war es Erdogan, der den Krieg in Arzach initiiert hat. Zu lange war es in dieser Region ruhig, in den letzten Jahren hat sich dort nichts geändert, und hier beginnen aus heiterem Himmel die Feindseligkeiten. Zum ersten Mal in der Geschichte des Konflikts stellt sich die Türkei gleichzeitig gegen die Vereinigten Staaten, Frankreich und Russland, während sie gleichzeitig an mehreren Konflikten in verschiedenen Teilen der Welt teilnimmt; es ist reiner Wahnsinn und politischer Selbstmord.« In der Tat fanden im Sommer, kurz vor Ausbruch des Konflikts, gemeinsame Militärübungen von der Türkei und Aserbaidschans statt, die als Vorbereitung für den aktuellen Konflikt interpretiert werden können. Die Türkei scheint mit 150 türkischen Offizieren als Militärberatern direkt in das Kriegsgeschehen auf Seiten Aserbaidschans involviert. Auf dem Rollfeld des aserbaidschanischen Militärflughafens Ganja parken nach einer Meldung der New York Times türkische F-16 Kampfflugzeuge. Das armenische Verteidigungsministerium berichtete, ein türkischer F-16 Bomber habe vom Flughafen Ganja aus eine armenische Su-25 über armenischem Gebiet abgeschossen. Türkische Kampfbomber greifen anscheinend immer wieder armenische Stellungen an, und vor allem sind türkische Kampfdrohnen im Einsatz. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew lobte am 6. Oktober die Effizienz der türkischen Drohnen. Er äußerte auch, dass die Türkei »Teil des Siedlungsprozesses« in Bergkarabach sein solle. Dies deutet darauf hin, dass die Region von Armenier*innen »gesäubert«, Aseris und evtl. Erdogans islamistische Söldner aus Nordsyrien angesiedelt werden sollen. Islamistische syrische Söldner wurden von der Türkei zu Tausenden per Flugzeug nach Aserbaidschan transportiert. Nach einem BBC-Bericht wurden 4.000 Söldner der in Nordsyrien berüchtigten Hamza-Brigade von Ankara nach Baku geflogen.
Armenier*innen in der Türkei beunruhigt
Der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien wirkt sich auch auf die wenigen noch in der Türkei lebenden Armenier* innen aus. Vor kurzem wurde der armenische HDP-Abgeordnete Garo Paylan in ganzseitigen Anzeigen in der türkischen Presse als »Vaterlandsverräter« deklariert, weil er sich für eine friedliche Lösung des Konflikts einsetzte. Raffi Kantian, der Vorsitzende der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, sorgt sich um Paylans Leben. Denn paramilitärische Gruppen wie die ultranationalistische »Türkische Rachebrigade« sind bekannt für Attentate und Morddrohungen. Die armenische Hrant-Dink-Stiftung hat in den türkischen Medien allein im vergangenen Jahr 803 Fälle von »Hassrede« gegen Armenier*innen gezählt, weit mehr als gegen jede andere Minderheit des Landes. Von den einst mehr als 1,5 Millionen Armenier*innen leben nach dem Genozid weniger als 60.000 Armenier*innen in der Türkei. Erdogan schürt die Ängste der Armenier*innen und ruft in dieser angespannten Lage den Völkermord 1915 in Erinnerung: »Wir werden die Mission fortführen, die unsere Großväter seit Jahrhunderten im Kaukasus ausgeführt haben.« Erdogans Armenien-feindliche Rhetorik korrespondiert auch mit dem pantürkischen Ansatz der Nationalist*innen. Nach dieser Ideologie stellen Aserbaidschan, die Türkei und die Turkvölker auf der anderen Seite des kaspischen Meeres ein Volk dar, das vereint werden muss. Armenien stört dabei auf der Landkarte.
Elke Dangeleit ist Ethnologin und Journalistin und schreibt als Nahostexpertin für die Internetzeitung Telepolis.