Die Frage nach Kontinuitäten in einem postfaschistischen kleinen Nationalstaat drängt sich auch in Portugal wieder immer auf. Was wird erinnert und ins friedliche Selbstbild integriert? Was sollte verdrängt werden und kommt doch immer wieder durch die Kritik postkolonialer AktivistInnen zur Sprache?
VON MIGUEL CARDINA
Lissabon, November 2017: Der portugiesische Premier minister António Costa spricht beim 9. Web Summit, der größten Tech-Konferenz der Welt, die jedes Jahr zehntausende von Besucher*innen nach Lissabon lockt. Bei seiner Eröffnungsrede erinnert er an den Portugiesen Magellan, bei der ersten Weltumsegelung spielte. Ära der neuen Technologien mit dem Anfang der großen Entdeckungsreisen. Im Vorjahr hatte Fernando Medina, der Bürder im 16. Jahrhundert eine tragende Rolle Costa verglich den Web Summit und die germeister von Lissabon, dem CEO der Organisation hinter dem Web Summit ein Astrolabium, ein astronomisches Messinstrument, geschenkt. Damit stellte er den Pioniergeist der Entdeckungsreisenden und denjenigen der Unternehmer*innen auf dem Web Summit auf eine Stufe. »Vor 500 Jahren war Lissabon die Hauptstadt der Welt: Von hier stach man in See, um neue Menschen, neue Ideen, neue Welten zu entdecken. Hier begann ein großes Abenteuer, das die Menschheit verbinden sollte (...). Vor 500 Jahren überquerten Seefahrer* innen die Weltmeere. Heute ist es an Ihnen, den Ingenieur*innen, den Kreativen, den Innovativen, den Start-ups und allen Unternehmen.«
In Portugal wird zur Projektion nationaler Mythen gerne auf die Entdeckungsreisen und die eigene Kolonialgeschichte zurückgegriffen: In der Werbung, im Tourismus, in der Regierungsarbeit und im Zuge gesellschaftlicher Debatten. Wie dies auch für andere ehemalige Kolonialmächte in Europa gilt, zeigt sich die Erinnerung – wie auch das Vergessen – auf vielfältige, nicht immer offensichtliche Weise. Im Falle Portugals ist es die andauernde Präsenz des Lusotropikalismus. So bezeichnete die Diktatur des »Estado Novo« unter António de Oliveira Salazar die Ideologie, die den portugiesischen Kolonialismus als wohlwollender und weniger aggressiv als andere Formen des Kolonialismus umdeutete. Portugal leitet seine eigene Bedeutung aus dieser Vergangenheit ab, während es gleichzeitig geographisch am Rande Europas liegt und die daraus folgenden Einschränkungen verschiedentlich zu spüren bekommt. Wir werden später noch sehen, dass diese Sicht von immer mehr Stimmen infrage gestellt wird. Diese Bilder sind eng mit dem verknüpft, was Michael Billig als »banal nationalism« (deutsch: Banaler Nationalismus) bezeichnet: Ein System aus Praktiken, Ritualen und Diskursen, das die Wege vorzeichnet, auf denen sich eine Nation selbst denkt und reproduziert.
Krieg und Gedächtnis
Während sich im März die Nachricht von der Corona-Pandemie verbreitete, wendete sich der Fernsehjournalist Rodrigo Guedes de Carvalho am Ende einer TV-Sendung an die junge Generation. Er sagte ihnen, dass ihre Großeltern in den Krieg ziehen hätten müssen, während sie selbst einfach zuhause auf dem Sofa bleiben müssten. Der Krieg, auf den er sich bezog, ist der Portugiesische Kolonialkrieg. Das ist nur eines von vielen Beispielen, die zeigen, wie häufig Kriegsmetaphern zur Darstellung der Corona-Krise herangezogen werden und man erkennt daran eine in Portugal verbreitete Sicht auf den Kolonialkrieg: Obwohl die Niederlage in diesem Krieg und die Demokratisierung des Landes stark miteinander verbunden sind, schaut man nur auf die »patriotische Pflicht«, die eine ganze Generation nach Afrika geführt hat.
Der Krieg dauerte 13 lange Jahre, von 1961 bis 1974. Er brachte fast 800.000 junge Portugies*innen nach Afrika und etwa 500.000 afrikanische Soldat*innen traten den portugiesischen Streitkräften bei, um die Unabhängigkeitsbewegungen in drei verschiedenen Territorien zu bekämpfen: Angola, Mosambik und Guinea. Mit einer Bevölkerung von damals etwa 9 Millionen entsandte Portugal damit im Verhältnis zu seiner Größe etwa fünfmal so viele Soldat* innen nach Afrika wie gleichzeitig die USA nach Vietnam. Zum Ende des Krieges gab es auf dem afrikanischen Kontinent fünf neue Staaten (Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Cabo Verde und São Tomé und Príncipe) und Portugal erlebte einen politischen Machtwechsel. Am 25. April 1974 stürzte die Movimento das Forças Armadas (eine von den mittleren Militärdiensträngen gegründete Bewegung) die Diktatur des »Estado Novo«. Damit war die längste Diktatur Europas, die das Ende des Nazifaschismus und die Nachwehen des 2. Weltkriegs überstanden hatte, ohne effektive Gegenwehr Geschichte.
Zwei Besonderheiten sind an dieser Stelle hervorzuheben. Erstens: Das Militär spielte beim politischen Wandel Portugals eine zentrale Rolle. Diese enge Beziehung zwischen der Demokratisierung im Inland und dem Kolonialkrieg in Afrika, durch die grundlegende Bedeutung des Militärs für beide, befördert später die Auslöschung des Krieges aus dem öffentlichen Gedächtnis, vor allem die seiner blutigsten Aspekte. Zweitens: Indem sie Portugal eine politische Niederlage aufzwingen, sind es letztlich die afrikanischen Befreiungsbewegungen, die dafür sorgen, dass Portugal nicht länger Kolonialmacht bleibt. Diese offensichtliche Tatsache ist aus dem öffentlichen Gedächtnis des Landes verschwunden.
Die Erinnerung an den Krieg (und der Verlust derselben) ist in Portugal Teil des nationalen Gedächtnisses, das sowohl den systemischen Rassismus als auch die Selbstwahrnehmung als ein ehemals großes Land nährt. Im Alltagsdenken lebt das Narrativ der »Begegnung der Kulturen« zwischen den Portugies*innen und den Menschen, denen sie in Afrika, Amerika und Asien »begegneten«, fort. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass Portugal sich für ein Land der »Sanftmütigen« und eine grundsätzlich nicht-rassistische Gesellschaft hält, was wiederum Sklaverei, Ausbeutung und Kolonialherrschaft verschleiert.
Neuer Schwung in der Debatte
Seit 2017 hat eine Reihe von Kontroversen neuen Schwung in die Debatte um die Kolonialvergangenheit gebracht. Im April 2017 besuchte Präsident Marcelo Rebelo de Sousa die senegalesische Insel Gorée, von der aus versklavte Afrikaner*innen über den Atlantik verschleppt wurden. Dort verwies er auf das Jahr 1761 und auf die angebliche Vorreiterrolle Portugals bei der Abschaffung der Sklaverei. Tatsächlich endete damals allerdings nicht der Sklav*innenhandel im gesamten Großreich Portugals, sondern nur jener ins Mutterland (der Sklav*innenhandel konzentrierte sich damit auf Brasilien als Zielgebiet). Diese Aussage führte zu einem offenen Brief, dessen Unterzeichner*innen diese »romantisierte und ungewöhnliche Sicht auf das koloniale Erbe der portugiesischen Geschichte« kritisierten.
Im selben Jahr wurde in Lissabon eine Statue von Padre António Vieira errichtet, die den Jesuiten mit Kreuz in der Hand und südamerikanischen Kindern zu Füßen darstellt. Diese Statue sollte wiederholt zu Protesthandlungen führen, zuletzt als 2020 Unbekannte das Wort »entkolonisieren« auf die Statue schrieben und kleine rote Herzen auf die drei Kinder malten. Ebenfalls 2017 schlug Djass, eine Vereinigung von Afro-Portugiesischen Bürger*innen, ein Denkmal für die Versklavten vor. Der Vorschlag wurde angenommen. Das Siegerprojekt wurde von Kiluanji Kia Henda vorgelegt, einem angolanischen Künstler. Es befindet sich derzeit in der Umsetzungsphase.
Kurz danach wurde angeregt, in der Stadt ein »Museum der Entdeckungen« zu gründen, was eine lebhafte Debatte entfachte. Dieser Vorschlag zur Förderung des Hauptstadttourismus wurde von den Sozialist*innen vor den Lokalwahlen eingebracht, die sie später gewannen. In Teilen der Zivilgesellschaft und akademischen Kreisen regte sich Widerstand gegen den Namen »Museum der Entdeckungen«. Ein offener Brief legte dar: »Haben sich die Bevölkerungen Afrikas, Asiens, Amerikas mit ihren jahrtausendealten Kulturgeschichten von den Portugies*innen »entdeckt« gefühlt? Und wie fühlen sich diese Menschen heute, wenn sie ein Museum besuchen, das ihren Vorfahren jede historische Initiative abspricht und sie in ihrer Bedeutung auf die oft gewaltsame ›Entdeckung‹ durch Portugal reduziert?« Gleichzeitig war ein erheblicher Teil der Pressestimmen bei diesen Themen darauf erpicht, die Rolle der Überseeexpansion für die nationale Identität zu bestärken und zensierte die engagierten Vertreter*innen der öffentlichen Meinung, die dem Thema mit Reue begegnen.
Die Parlamentswahl von 2019 hat einige Neuerungen hervorgebracht. Erstmals wurden drei schwarze Frauen in die Volksvertretung gewählt: Beatriz Gomes Dias (Bloco de Esquerda/Linksblock), Joacine Katar Moreira (LIVRE, links-grün) und Romualda Fernandes (Partido Socialista/Sozialistische Partei). Gleichzeitig hat die extreme Rechte mit der Wahl von André Ventura ein nie da gewesenes Maß an politischer Repräsentation erreicht. Er vertritt die neugegründete Partei Chega. Genau wie die überall auf der Welt auftauchenden Populist*innen aus dem rechten Spektrum nutzt Chega strategisch Gefühle sozialer Ungerechtigkeit und stützt sich dabei auf einen Diskurs über »korrupte Eliten«. Dieser Diskurs erhält nicht nur die Strukturen der kapitalistischen Ausbeutung, sondern nimmt immer homophobere und rassistischere Züge an, insbesondere gegen Communities von Schwarzen und Roma. Nach Demonstrationen nach dem Mord an George Floyd und der Entrüstung über rassistische Gewalttaten im eigenen Land, die wiederum zu großen antirassistischen Demonstrationen in Portugal führten, organisierte Chega Gegenveranstaltungen unter dem Motto »Portugal ist nicht rassistisch« und versucht, mithilfe der Kolonialgeschichte den Nationalstolz zu mobilisieren.
Wie geht es weiter?
Das heutige Portugal ist nicht mehr die kolonisierende Großmacht, die es – trotz seiner Lage an der Peripherie – weite Teile des 20. Jahrhunderts über war. Doch in Portugal ist heute noch eine verklärte Selbstwahrnehmung als einflussreiches Land verbreitet, die viele Positionen zur eigenen Identität und Geschichte signifikant beeinflusst. Die verleugnete Kolonialgeschichte äußert sich in verbreitetem Rassismus, in der Polizeiarbeit, Wohnpolitik und Segregation, der Gesetzgebung, im politischen Diskurs und der Selbstdarstellung des Landes, die seine Einwohner*innen und ihre Geschichtssicht prägt. Die endlose Reproduktion eines ewig gleichen Narrativs wurde in den letzten Jahren infrage gestellt, allerdings ist die zukünftige Entwicklung der Debatte nur schwer abzusehen. Wir wissen nur, dass sie in der portugiesischen Politik auch in Zukunft eine Rolle spielen wird.
Miguel Cardina ist Historiker am Zentrum für Sozialstudien der Universität Coimbra und Koordinator des Projekts CROME (Crossed Memories, Politics of Silence. Die Kolonialbefreiungskriege in postkolonialen Zeiten), finanziert vom Europäischen Forschungsrat. Er ist Mitglied von Cultra, der portugiesischen Mitgliedsorganisation des transform! europe Netzwerks, mit dessen Unterstützung dieser Text übersetzt und bearbeitet wurde.