Auch wenn Corona derzeit vieles verändert, die Grundlagen unseres Sozialsystems werden sich nicht so rasch ändern. KARL REITTER wirft einen kritischen Blick auf den Sozialstaat.
Der österreichische Sozialstaat ist ein Resultat des Klassenkompromisses nach 1945. Verglichen mit der Situation in vielen anderen Regionen dieser Welt ist er zweifellos eine Errungenschaft. Seit Jahren wird er unter neoliberalem Vorzeichen attackiert. Permanent wird die Senkung der Sozialabgaben, verschleiernd als Lohnnebenkosten bezeichnet, gefordert und damit die Basis der Finanzierung des Sozialstaates in Frage gestellt. Allerdings kann das Sozialsystem mit Sozialversicherungsbeiträgen nur zu 63 Prozent finanziert werden, 37 Prozent stammen aus »allgemeinen Steuermitteln«.1 Dieser Zuschuss ist vor allem den NEOS ein Dorn im Auge. Da diese Steuermittel überwiegend für die Finanzierung der Pensionen verwendet werden, wird behauptet, dass sich damit die »Alten« auf Kosten der »Jungen« ein fideles PensionistInnenleben bezahlen lassen würden. Anstelle des derzeit noch bestehenden Umlageverfahrens, bei dem Steuern- und Sozialbeiträge der erwerbstätigen Generation für die Finanzierung der Pensionen verwendet werden, soll ein privates Versicherungssystem treten. Dieser Kritik gilt es entgegenzutreten, aber wie?
Eine bloß passive Verteidigung des Sozialstaates, so wie er ist, kann keine linke Perspektive sein. So sozial, wie der Name suggeriert, ist der Sozialstaat nämlich gar nicht. Um seine massiven Mängel zu erkennen, beginnen wir mit einem Blick auf die Ausgabenstruktur. Wofür wird das Geld eigentlich ausgegeben? 56 Prozent entfallen auf Renten und Pensionen, 26 Prozent auf Krankheit/Gesundheit, neun Prozent auf Familienleistungen, gerade sechs Prozent auf Ausgaben für Erwerbsarbeitslosigkeit. zwei Prozent für Wohnen und nur ein Prozent für die sogenannte Mindestsicherung.2 In welcher Art und Weise werden die Sozialausgaben gewährt? Das Sozialministerium unterscheidet zwischen bedarfsgeprüften und nicht bedarfsgeprüften Leistungen. »Mehr als 95 Prozent der Geldleistungen aus den Sozialschutzsystemen werden ohne Bedürftigkeitsprüfung, d. h. ohne Prüfung von Einkommen und/oder Vermögen, gewährt.«3 Was bedeutet dies im Klartext?
Die Leistungen des Sozialstaates sind so ungleich wie die Erwerbseinkommen
Es bedeutet, dass sich bei vielen Sozialtransfers, insbesondere bei den Pensionen, dem Arbeitslosengeld und der Notstandhilfe, die ungleichen Einkommen des Erwerbslebens in ungleichen Geldgrößen niederschlagen. Das wirkt sich insbesondere bei den Renten und Pensionen aus. Hier die Daten des Sozialministeriums für das Jahr 2016: Durchschnittliche Alterspension in Euro, inklusive Kinderzuschuss und Ausgleichszulage.4
Auch beim Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe sind die Unterschiede bedeutend. Der durchschnittliche Tagsatz bei der Arbeitslosen betrug 2018 bei Männern 34,60 bei Frauen 29,00 Euro, bei der Notstandshilfe 27,50 bzw. 23,90.5 Diese Differenzen ergeben sich aus unterschiedlichen Bezahlungen, aber auch aus den unterschiedlichen Rechtsformen der Arbeitsverhältnisse. Prekär Beschäftigte, Scheinselbständige, SchwarzarbeiterInnen und geringfügig Angestellte können oftmals nur sehr eingeschränkt Versicherungszeiten und damit sozialstaatliche Ansprüche erwerben. Wobei der Unterschied zwischen Männern und Frauen nur die Spitze des Eisbergs darstellt. Die Situation in der Arbeitswelt ist durch ein Bündel ineinander verwobener Hierarchien bestimmt. Zu jener zwischen Männern und Frauen tritt die zwischen ÖsterreicherInnen und MigrantInnen, zwischen Gebildeten und weniger Gebildeten, zwischen Jüngeren und Älteren; die Auflistung ist keinesfalls vollständig.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Hierarchien und Diskriminierungen in der Erwerbswelt drücken sich direkt im Ausmaß der Ansprüche und in der Höhe des monetären Transfers aus. Diesbezüglich ist der Sozialstaat nur ein Spiegel der allgemeinen Verhältnisse am Arbeitsmarkt und in der Arbeitswelt. Dieses Prinzip wird vom Gesetzgeber begrüßt: »Der österreichische Wohlfahrtsstaat gehört zu den Sozialstaaten konservativ-korporatistischer Prägung (vgl. Esping-Andersen), was sich unter anderem stark an der Anbindung sozialer Sicherung an der Erwerbsarbeit festmachen lässt. Das bedeutet, dass z. B. die Zugangsvoraussetzungen und die Leistungsbemessung der Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit, im Alter und bei Invalidität überwiegend an den früheren Erwerbs- und Einkommensstatus gekoppelt sind.«6 Wir sollten es in Frage stellen.
Dieses Prinzip muss überwunden werden
Die klassische sozialdemokratische und gewerkschaftliche Haltung besteht darin, die ungleichen Pensionen wohl zu beklagen – die Lösung soll aber allein in höheren Löhnen und geregelten Arbeitsverhältnissen für alle liegen. Bis allerdings Frauen so viel verdienen wie Männer, bis MigrantInnen so viel bekommen wie »echte« ÖsterreicherInnen, wird noch viel Wasser die Donau hinabfließen, von der Gleichstellung von ErntehelferInnen und Pflegekräften aus dem Osten ganz zu schweigen. Ob zudem eine derartige Strategie für Ältere überhaupt noch relevant sein kann, sei dahingestellt. Wer mit 60 Jahren schlecht verdient, wird sich in den verbleibenden Erwerbsjahren keine Spitzenpension mehr erarbeiten können. Es gilt daher entschlossen das Prinzip des Sozialstaates selbst zu kritisieren. Nicht die Höhe der Erwerbseinkommen, die Bedürftigkeit muss das Maß sein.
Die bedarfsgeprüften, »mindestsichernden Leistungen«
Zu diesen sozialstaatlichen Instrumenten zählt die Mindestsicherung, die Schüler- und StudentInnenbeihilfe, das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe sowie die Ausgleichszulage bei Renten und Pensionen. Ihr Volumen an den gesamten Sozialstaatsausgaben ist gering und beträgt rund fünf Prozent. Die hoch gelobte Treffsicherheit des Sozialstaates umfasst gerade fünf Prozent der Ausgaben. Aber kann zumindest dieser kleine Teil tatsächlich als »sozial« bezeichnet werden, sozial in dem Sinne, dass damit allen Menschen eine materielle Existenz in Würde gesichert wird? Die Antwort müsste Ja lauten, wenn da nicht die massiven Auflagen und Bedarfsprüfungen wären, die insbesondere beim Arbeitslosengeld und bei der Notstandshilfe bzw. Mindestsicherung den Bezug an eine ganz Reihe entwürdigender Maßnahmen knüpfen würden. Diese Maßnahmen haben Methode. Der alt-ehrwürdige Nachkriegssozialstaat ist nämlich unter der Hand schon längst neoliberal umgeformt worden. Diese Veränderungen werden in der sozialwissenschaftlichen Literatur mit den Begriffen welfare state und workfare state bezeichnet. Der ehemalige Sozialstaat der Nachkriegszeit, der welfare state, sollte die Risiken einer Arbeiter-Normalbiographie absichern, für die Frau war der Haushalt vorgesehen. Der neoliberale workfare state hingegen nimmt den ganzen Menschen ins Visier. Der große Unterschied zwischen diesen beiden Formen des Sozialstaates besteht weniger in einer Absenkung der Transferleistungen, sondern in der Verknüpfung der monetären Zuwendung mit einem Bündel an paternalistischen Bevormundungen, verordneten Eingriffen in die Lebensführung und einem ausgeklügelten Sanktionssystem. »Der Übergang von Welfare (einem bedingungslosen Bürgerrecht auf soziale Unterstützung) zu Workfare (einer bedingten, an entmündigende Handlungs- Berichts- und Arbeitszwänge gekoppelten Unterstützung) erzeugt einen punitiven [strafenden] Paternalismus.«7 Nicht soziale Sicherheit steht im Vordergrund, sondern die Zurichtung des arbeitslosen Individuums auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes. Unter türkis-blau wurde die Sanktionspraxis des AMS massiv verschärft. Die Anzahl der Bezugsstreichungen durch das AMS wurde von 103.804 im Jahre 2016 auf 133.420 im Jahre 2018 gesteigert, und das bei damaliger geringfügiger Senkung der Arbeitslosenzahlen.
Den Sozialstaat zu verteidigen bedeutet unter andrem die Novellierung des § 10 AlVG »Ablehnung von Beschäftigungs- und Schulungsangeboten« zu fordern. Dieser 2007 veränderte Paragraf stellt Schulungsangebote sowie Vermittlung zu den sogenannten Sozialökonomischen Betrieben mit tatsächlichen Jobangeboten gleich. Dadurch können sich Erwerbsarbeitslose gegen schikanöse und sinnlose Kurse sowie gegen die Vermittlung zu den Sozialökonomischen Betrieben, eine trübe Mischung aus Schulungsinstituten und Leiharbeitsfirmen, nicht mehr wehren. Der § 11 AlVG »Arbeitslosigkeit aufgrund von unberechtigtem vorzeitigem Austritt, Kündigung des Arbeitnehmers, fristloser Entlassung« wäre zu streichen. Alle müssen das Recht haben, ihren Arbeitsplatz aufzukündigen, das darf nicht sanktioniert werden.
Schlussfolgerung
Wer bloß von der Verteidigung des Sozialstaates spricht und die hier angeführten massiven Mängel verschweigt, legitimiert diese. Eine tatsächlich offensive und zukunftsorientierte Verteidigung des Sozialstaates muss sich konsequent gegen alle Sanktionen aussprechen sowie fordern, dass alle Sozialtransfers aus der Geiselhaft des Lohnsystems befreit werden. Mit einem Wort, der Sozialstaat muss in Richtung des Grundeinkommens weiterentwickelt werden. Ob Rente, Arbeitslosengeld oder Mietzinsbeihilfen, alle Transfers sollten nach den vier Merkmalen des Grundeinkommens erfolgen, also tatsächlich existenzsichernd, personenbezogen, allgemein (die Staatsbürgerschaft darf keine Rolle spielen) und möglichst bedingungslos eingerichtet werden. Dies wird sicher nicht auf einen Schlag zu verwirklichen sein. Aber ein bloßes »Hände weg vom Sozialstaat« ist keine Antwort auf die Angriffe des Neoliberalismus.
1 Sozialstaat Österreich, Broschüre des Sozialministeriums 2019, Seite 46
1 Sozialstaat Österreich, Broschüre des Sozialministeriums 2019, Seite 37
2 Sozialstaat Österreich, Broschüre des Sozialministeriums 2019, Seite 84
3 Sozialstaat Österreich, Broschüre des Sozialministeriums 2019, Seite 183
4 Quelle: AMS Jahresbericht 2018; https://www.ams.at/arbeitsmarktdaten-und-medien/arbeitsmarkt-daten-und-arbeitsmarkt-forschung/berichte-und-auswertungen
5 Sozialstaat Österreich, Broschüre des Sozialministeriums 2019, Seite 41
6 Michael Hirsch Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft 2016; Seite 87)