Friedensmarsch am 15. Mai 1982 Friedensmarsch am 15. Mai 1982

FRIEDEN: Besuchen Sie Europa, solange es noch steht

von

WALTER BAIER über die Friedensbewegung der 1980er Jahre

Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich den 3. Juni 1980 verbracht habe. Von der Dramatik der Ereignisse dieses Tages hatte ich – wie die meisten Menschen auf der Welt – keine Ahnung. Im nordamerika­nischen Luftverteidigungskommando hatte an diesem Dienstag um zwei Uhr früh ein Computer den Anflug mehrerer hundert sowjetischer Raketen angezeigt. Als sich der Irrtum herausstellte, war bereits ein Drittel der strategischen Atomstreitkräfte im Einsatzmodus und konnte gerade noch gestoppt werden. Die Welt war am nuklea­ren Desaster vorbeigeschrammt.

Dabei schien es, als hätte sich das Ver­hältnis zwischen der USA und der Sowjet­union entspannt. Nach jahrelangen Ver­handlungen hatte man 1972 vereinbart, die Potentiale, die zur mehrfachen gegenseiti­gen Vernichtung ausreichten, auf ein nied­rigeres Niveau zu senken. Europa blieb aber

ausgeklammert, weil die USA ihre hier sta­tionierten Waffen nicht als »strategisch« mitzählen lassen wollten. Außerdem waren die Arsenale von Frankreich und Großbri­tannien im Abkommen nicht erfasst. Die Sowjets nahmen dies zum Anlass einer Modernisierung ihrer Mittelstreckenrake­ten in Europa.

1981 war Ronald Reagan zum 40. Präsi­denten der USA gewählt worden. Für ihn war die Sowjetunion ein »Reich des Bösen«, gegen das er zum weltweiten Kreuzzug auf­rief. 108 Pershing-2-Raketen, die man in der BRD aufstellen wollte, von wo sie in vier Minuten Moskau erreichen konnten, und neue treffgenaue Marschflugkörper sollten einen »Enthauptungsschlag« und den auf Europa begrenzten Atomkrieg mög­lich machen.

In Österreich protestierten die Friedens­bewegten zu dieser Zeit vor allem gegen die florierenden Waffengeschäfte der ver­staatlichten Industrie. Im Sommer 1981 aber veröffentlichte eine Gruppe friedensbewegter Persönlichkeiten einen Aufruf für die UN-Abrüstungs­woche im Oktober. Der Erfolg war überraschend: Innerhalb weniger Wochen wuchs die Zahl der Unterstüt­zer_innen auf mehrere tausend an. Unter den prominentesten: Friedrich Cerha, Johanna Dohnal, Michael Köhlmeier, Frie­derike Mayröcker, Erika Pluhar, Margarete Schütte-Lihotzky, Peter Fleissner, Michael Häupl und Erwin Steinhauer. Zum Abschluss der Aktionswoche fanden zeit­gleich in Wien und Linz die ersten größe­ren Friedensdemonstrationen statt, wäh­rend unabhängig davon, landauf-landab, in ganz Österreich örtliche Initiativen gebil­det wurden.

Parteijugend und Bewegung

Am 10. Dezember 1981 versammelten sich 150 Personen in Wien zum ersten Plenum der österreichischen Friedensbewegung, unter ihnen auch die Spitzen der Parteijun­gend von SPÖ und ÖVP, des Bundesjugend­rings, der Gewerkschaftsjugend und der katholischen Jugendorganisationen. Einmü­tig beschlossen wurde, für den 15. Mai, der auch Jahrestag der Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrags ist, zu einer Großdemonstration aufzurufen.

Das Mitte Dezember unter sowjetischem Druck in Polen ausgerufene Kriegsrecht und das Verbot der Gewerkschaft Solidar­ność prägte die Debatte auf dem nächsten Plenum. Eine kleine Arbeitsgruppe, in der ich den »kommunistischen Zugang« zu vertreten hatte, einigte sich schließlich darauf, eine »demokratische Lösung der gesellschaftlichen Kon­flikte in Polen unter Einschluss einer unabhängigen Gewerk­schaftsbewegung« zu fordern. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer für die KPÖ.

Das Problem der Jusos, dass ihnen per Parteibeschluss eine Zusammenarbeit mit den Kommunist_innen untersagt war, blieb aber bestehen. Um die Mes ­alliance für die Parteioberen erträglich zu machen, setzte Josef Cap durch, den Bundesju­gendring, dessen Überpartei­lichkeit hauptsächlich in der Ausgrenzung der kommunisti­schen Jugendorganisationen bestand, zu einem der offiziellen Träger der Veranstaltung zu machen. Beim letzten Vorberei­tungsplenum, sechs Wochen vor dem Friedensmarsch, überraschte er die Anwe­senden, indem er namens eben dieses Bun­desjugendrings darauf bestand, dass bei der Abschlusskundgebung auf dem Rathaus­platz ein Sprecher der Jungen ÖVP, aber kein Kommunist das Wort ergreifen sollte.

Die Empörung über diesen »groß-koali­tionären« Coup war ziemlich einhellig, doch offenbarte sich in den Reaktionen auch die Ambivalenz, mit der die Kommu­nist_innen in der Friedensbewegung wahr­genommen wurden. Die Intensität ihres Engagements wurde zwar geschätzt, aber ideologisch bestand Misstrauen, zum Teil selbst verschuldet, weil die Partei jede Kri­tik an der sowjetischen Rüstungspolitik abwehrte, geradeso als wollte sie den Ver­dacht bestätigen, dass sie tatsächlich nur für eine einseitige Abrüstung des Westens eintrat, was nicht zutraf.

Die Demonstration am 15. Mai 1982, ein Sternmarsch von den vier großen Wiener Bahnhöfen auf den Rathausplatz, an dem 70.000 Menschen teilnahmen, wurde trotz­dem zum überragenden Erfolg. ÖVP und SPÖ, die die Plattform der Friedensbewe­gung als »naiv«, »moskaugesteuert« und »einäugig« verketzert hatten, gratulierten sich nun gegenseitig zu dem wundervollen Ereignis, zudem sie außer Störmanöver nichts beigetragen hatten.

Der Meinungsstreit

Inzwischen rückte der November des kom­menden Jahres, an dem die entscheidende Abstimmung im deutschen Bundestag statt­finden sollte, näher. Die Vertreter_innen der Oberösterreichischen Friedensbewe­gung drängten darauf, die Aktionen gerade darauf zu fokussieren. Im Dezember legten sie den »Linzer Appell« vor, der auf einer Konferenz in der Linzer Arbeiterkammer von Hunderten Friedensakti­vist_innen aus ganz Öster­reich beschlossen wurde. Darin wurde von der österrei­chischen Regierung gefordert, »sich gegen die Stationie­rung von Pershing-2 und Cruise-Missiles in Europa« auszu­sprechen. Innerhalb von sechs Monaten wur­den für den Appell 140.000 Unterschriften gesammelt, darunter auch die Bruno Kreiskys, der damit eine Forderung an die von ihm geführte Regierung unterschrieb. Öster­reich!

Kurz zuvor hatte ein in Graz ausgerichte­tes Friedensplenum zu einer neuerlichen Großdemonstration im Herbst in Wien auf­gerufen.

Zu diesem Zeitpunkt wurde die von Mar­git Niederhuber und Annemarie Türk koor­dinierte, unabhängige Initiative »Künstler für den Frieden« für den Zusammenhalt der Bewegung besonders wichtig. Am 6. November 1982 veranstaltete sie in der Wiener Stadthalle ein Großkonzert. Vor 15.000 Menschen sangen, lasen, performten und sprachen unter anderen: Dietmar Schönherr und Peter Turrini, die eine von den Künstler_innen angenommene Resolu­tion verlasen, Erwin Steinhauer, Esther Bejerano, Konstantin Wecker, Erika Pluhar, Ludwig Hirsch, Sigi Maron, Reinhardt Sell­ner, André Heller und Harry Belafonte. Friedensreich Hundertwasser steuerte das Plakat bei. Im Mai 1983 fuhr ein »Zug für den Frieden« quer durch Österreich.

Indessen entwickelte sich eine interes­sante inhaltliche Debatte in den Kirchen. Der Weltkirchenrat hatte die Atomrüstung als unmoralisch gebrandmarkt. Die Bischöfe der USA forderten vom Präsiden­ten den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen, und die anglikanische Kirche verlangte von Premierministerin Thatcher eine einseitige Abrüstung der britischen Nukleararsenale.

In Österreich waren es die katholischen Jugendorganisationen, die die Debatte vorantrieben. Ihre Grundhaltung war pazi­fistisch, ihre Vertreter_innen, die keine Parteikarrieren vor Augen hatten, konnten zur Verteidigung der Aktionsgemeinschaft mit den Kommunist_innen ein im wahrsten Sinn entwaffnendes Argument anführen: die im Evangelium geforderte »Feindes­liebe«.

Allerdings testeten auch sie die Bündnis­fähigkeit der Kommunist_innen, indem sie eine Solidarisierung der Friedensbewegung mit der von den Behörden unterdrückten, unabhängigen, von Christ_innen getrage­nen Friedensbewegung der DDR verlangten. Eine dementsprechende Resolution wurde auf dem Friedensplenum durch eine Stimmenthaltung der meisten kommunisti­schen Teilnehmer_innen möglich.

Innerhalb der Kirchenhierarchie waren die Meinungen geteilt. Während der Linzer Bischof Aichern den Linzer Appell unter­zeichnet hatte, sah sich der Klagenfurter Bischof Kapellari veranlasst, öffentlich zu erklären, dass eine »Volksfront mit den Kommunisten« niemals geduldet würde.

Anfang September, sechs Wochen vor der für 22. Oktober anberaumten Großdemons­tration kam es zum Showdown mit der ÖVP. Wochenlang hatten die Medien einen Untergang des Abendlands für den Fall pro­phezeit, dass ein Kommunist bei der Abschlusskundgebung das Wort ergreifen würde. Der Koordinationsausschuss hatte mich aber gerade dafür vorgeschlagen. Othmar Karas, dem Chef der Jungen ÖVP fiel zu, das Abendland zu retten und sich selbst als Redner zu empfehlen. Er wurde mit 177 Stimmen der 200 Anwesenden abgelehnt und ich mit derselben Stimmen­zahl gewählt. Mediale Schelte gab es nach dieser Entscheidung vor allem für die Katholische Jugend, deren Bundessekretä­rin, Elisabeth Aichberger, in der rechten Presse als unwürdig bezeichnet wurde, dem drei Tage später zu einem Besuch in Öster­reich eintreffenden Papst Johannes Paul II einen Strauß Blumen zu überreichen.

Trotz oder vielleicht sogar wegen dieser Dauererregung wurde der Friedensmarsch am 22. Oktober 1983 mit seinen 100.000 Teilnehmer_innen zu einem politischen Großereignis.

Schlussbemerkung

Am selben Tag demonstrierten in Europas Hauptstädten Millionen Menschen. Nach einer Gallup-Umfrage waren im November 1983 67 Prozent aller wahlberechtigten Bundesbürger_innen, 68 Prozent der Nie­derländer_innen, 58 Prozent der Brit_innen und 54 Prozent der Italiener_innen gegen die Raketen. Trotzdem beschloss der Deut­sche Bundestag die Aufstellung. Damit war der Höhepunkt der Bewegung überschrit­ten, auch in Österreich. Daran vermochten auch teilnehmer_innenstarke und bemer­kenswerte Aktionen in den folgenden bei­den Jahren nichts zu ändern.

Eigentlich waren wir uns alle nicht bewusst, wie tief der Einschnitt war, den das Jahr 1983 markierte. In Afghanistan hatte sich die Sowjetunion in einen aus­sichtslosen, unpopulären Krieg verwickelt, der Aufstand der polnischen Arbeiter_ innen ließ sich nicht mehr unterdrücken und signalisierte das Ende der kommunisti­schen Regierungen Osteuropas. Reagans Plan, die Sowjetunion durch eine neue kostspielige Runde des Wettrüstens »totzu­rüsten«, war aufgegangen.

Die Friedensbewegung im Westen war zu schwach, um den Ereignissen eine andere Richtung zu geben. Ob die von Gorbatschow 1988 in seiner Rede vor der UNO vorge­stellte Wende in der sowjetischen Außen­politik etwas ändern hätte können, wäre sie früher erfolgt, muss hypothetisch bleiben. Österreich hätte in einem solchen interna­tionalen Ringen um eine neue Friedenspoli­tik sicher keine Hauptrolle gespielt. Seine Friedensbewegung hätte trotzdem eine gute Figur gemacht.

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Walter BaierDer Atomtod wird nicht nach dem Parteibuch fragen

»Es ist nicht einfach die Angst um das eigene biss­chen Leben, das uns heute auf die Straße treibt, sondern es ist die tief empfundene Verantwortlich­keit für das Schicksal unserer Gemeinschaft und des Planeten, auf dem wir leben.

Die Friedensbewegung ist ebenso wenig einseitig wie die Stationierung der neuen Raketen eine Nachrüstung ist. Die Friedensbewegung tritt für die Abrüstung in West und Ost ein.

Aber, so möchte ich fragen: Kann man die von der atomaren Gefahr Bedrohten, die Beunruhigten und Besorgten in Glaubwürdige und Unglaubwürdige einteilen? Ist die Angst, die ein Konservativer um sein Leben empfindet, glaubhafter und berücksich­tigungswürdiger als die Angst eines Sozialisten oder Kommunisten?«

Aus der Rede von Walter Baier (links) am 22. Oktober 1983

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Gelesen 6917 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 19 Juni 2019 13:59
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