Didier Lombard, der ehemalige Télécom-Chef, als »automatisches Subjekt« beim Weltwirtschaftsforum Davos 2010. Karl Reitter Didier Lombard, der ehemalige Télécom-Chef, als »automatisches Subjekt« beim Weltwirtschaftsforum Davos 2010. CC BY-NC-SA 2.0 WORLD ECONOMIC FORUM. SWISS-IMAGE.CH/PHOTO: ANDY METTLER

Die Spitze des Eisbergs

von

KARL REITTER über den Prozess gegen die Bosse der France Télécom.

Die Vorgeschichte ist rasch erzählt. In den Jahren 2008 bis 2010 wurde die France Télécom (seit 2013 in Orange umbe­nannt) umstrukturiert und börsenfit gemacht. Dieses Ziel war nur durch die Ent­lassung von über 20.000 Angestellten, etwa 20 Prozent der Belegschaft, zu erreichen. Das hätte auf normalem Wege einiges an Abfindungen gekostet. Vor allem galt damals für einen Teil der Beschäftigten noch der BeamtInnenstatus, das heißt, diese Personen konnten regulär gar nicht entlassen werden. Das Management setzte daher auf Schikanen, Mobbing, Demütigun­gen und Herabwürdigung, immer mit dem Ziel, die Angestellten zur Selbstkündigung zu nötigen. Der psychische Terror war so groß, dass es zu 18 Selbstmorden und 13 Suizidversuchen kam. Jede Schikane war recht, um die Beschäftigten zu demoralisie­ren: »Überlastung war ein Mittel, um den Angestellten das Arbeitsleben möglichst schwer zu machen, dazu kamen spontane Versetzungen an Orte, die weit weg von der Wohnung und damit nicht selten von der Familie liegen, neue Arbeitsgebiete, die entweder zur Überforderung führten, die in Performance-Checklisten Woche für Woche gnadenlos dokumentiert wurden oder als Abstellgleis funktionierten, um den Angestellten vor Augen zu führen, dass sie nicht gebraucht würden.«1 Selbstmord ist wohl das äußerste Mittel, wie viel Ver­zweiflung, Angst, Selbstbeschädigung und Mutlosigkeit muss dieser immense Druck bei tausenden Menschen bewirkt haben?

Der Prozess

Am 6. Mai 2019 begann nun der außerge­wöhnliche Prozess gegen den früheren France Télécom-Chef Didier Lombard sowie sechs weitere Manager. Vorgeworfen wird ihnen Mobbing (harcèlement moral, wört­lich: psychische Belästigung), ein eher beschönigender Ausdruck für den ungeheu­ren Zynismus, den die Konzernführung an den Tag legte. Überliefert ist der Aus­spruch: »Wir werden sie schon rauskriegen, entweder durch die Tür, oder durch das Fenster.« Überflüssig zu sagen, dass diese Terrorwelle mit den üblichen neoliberalen Floskeln übertüncht wurde. Wir kennen die Vokabel: Effizienz, Optimierung, Kunden­orientierung, Wettbewerbsfähigkeit und über allem – Reform. Außergewöhnlich ist der Prozess nicht wegen des möglichen Strafausmaßes. Es drohen maximal zwei Jahre Haft und angesichts der Einkommen der Angeklagten eine eher lächerlich geringe Geldstrafe bis zu 30.000 Euro. Außergewöhnlich ist er deswegen, weil hier das Kapitalverhältnis offen als Herrschafts­verhältnis thematisiert wird. Herrschende, die KapitalvertreterInnen, tobten sich offenbar ungehemmt gegen die von ihnen Beherrschten aus. Die Gerichte sollen nun klären, wie und in welchem Ausmaß.

Schwarze Schafe oder Spitze des Eisbergs?

Selbst sozial angepasste Medien kommen in ihren Berichten über den Prozess nicht umhin, das Management eher übel ausse­hen zu lassen. Auch Erinnerungen an die Selbstmordwelle 2010 bei der chinesi­schen Zulieferfirma von Apple, Sony, Sam­sung und Microsoft, Foxconn, werden wach. Da diese Ereignisse nicht mehr zu leugnen sind, müssen sie als Ausnahmen, als das Produkt weniger schwarzer Schafe darge­stellt werden. Das überrascht bei all jenen Kräften, die eine Alternative zum Kapita­lismus nicht einmal denken wollen, kei­neswegs. Wie sollten sie denn sonst rea­gieren? Aber wie steht es bei der Linken? Nicht unbedingt immer zum Besten. Ohne Zweifel waren die Verhältnisse bei Fox­conn und France Télécom außergewöhnlich. Mobbing und psychischer Terror sind in diesem Ausmaß keineswegs alltäglich. Aber trotzdem ist festzuhalten, dass das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit unabdingbar ein Herrschaftsverhältnis ist, das wohl verschiedenste Formen annehmen kann, aber stets ein Herr­schaftsverhältnis bleibt. Der Bogen spannt sich von oftmals sehr paternalistischen Verhältnissen in kleinen und kleinsten Betrieben über recht ausgewogene Arbeitsbedingungen bis eben zu massiver Arbeitshetze und brutalem Mobbing. Statt der Peitsche kann auch das Zuckerbrot dominieren. Aber die Verhältnisse kön­nen jederzeit umschlagen. Ein/e neue/r ChefIn, ein neues Management, neue Vor­gaben oder gar der geplante Börsengang – sofort kann ein anderer Wind wehen.

Zumindest von der Linken ist zu erhof­fen, dass sie klipp und klar, dass sie ohne Wenn und Aber die Verhältnisse der Lohnarbeit als Herrschaftsverhältnisse erkennt. Fehlen präzise Formulierungen, so mag uns Marx aushelfen: »Nun muss auch der Lohnarbeiter wie der Sklave einen Herrn haben, um ihn arbeiten zu machen und ihn zu regieren.« (MEW 25, 399) »Der Ausgangspunkt der Entwick­lung, die sowohl den Lohnarbeiter wie den Kapitalisten erzeugt, war die Knecht­schaft des Arbeiters. Der Fortgang bestand in einem Formwechsel dieser Knechtung, in der Verwandlung der feu­dalen in kapitalistische Exploitation.« (MEW 23; 743) »Die Bewegung des Geset­zes der Nachfrage und Zufuhr von Arbeit auf dieser Basis vollendet die Despotie des Kapitals.« (MEW 23; 669) »Jedes individu­elle Kapital ist eine größere oder kleinere Konzentration von Produktionsmitteln mit entsprechendem Kommando über eine größere oder kleinere Arbeiterar­mee.« (MEW 23; 653)2

Soziales Herrschaftsverhältnis oder automatisches Subjekt Kapital?

Im Zusammenhang mit den Ereignissen bei France Télécom drängt sich die Kritik an der Rede vom »automatischen Subjekt Kapital« auf, die sich in manchen linken Kreisen einiger Beliebtheit erfreut. Die Pointe dieser Rede besteht darin, das Herrschaftsverhältnis zu leugnen und vollständig durch den anonymen Zwang zur Profitmaximierung zu ersetzen. Zwei­fellos existieren objektive ökonomische Gesetze und kein/e KapitaleignerIn kann sich dem grundsätzlich entziehen. Aber zugleich üben die BesitzerInnen von Kapi­tal oder ihre StellvertreterInnen unmit­telbare soziale Herrschaft aus; einige Marxsche Formulierungen wurden soeben zitiert. Kein anonymer Zwang zur Profit­maximierung nötigte das Management bei France Télécom, exakt so zu agieren, wie sie agierten. Hätten die ProtagonistInnen des »automatischen Subjekts Kapital« ihren Marx genau gelesen, wüssten sie, dass die Produktion von Mehrwert und Profit unmittelbar mit der Länge und Intensität des Arbeitstages verbunden ist, über die kein ökonomisches Gesetz, sondern allein der Klassenkampf entscheidet. Die Mana­ger bei France Télécom haben weder das Kapitalverhältnis noch den Drang zur Profitmaximierung erfunden. Aber sie haben das der Lohnarbeit inhärente Herr­schaftsverhältnis in brutaler, zynischer und extremer Weise umgesetzt. Dafür tra­gen sie sehr wohl persönliche Schuld, die ihnen auch anzukreiden ist.

1 France-Telecom-Die-Angestellten-wissen-lassen-dass-sie-Nullen-sind

2 MEW ist die Abkürzung für Marx-Engels-Werke, Band 23 ist der erste, Band 25 der dritte Band des Kapital.

 

Gelesen 6705 mal Letzte Änderung am Donnerstag, 13 Juni 2019 13:29
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