Die Rätebewegung in Österreich 1918/1919

von

Das Ende des ersten Weltkriegs brachte auch das Ende der Donaumonarchie mit sich. Ein auch oft in der Schule tradiertes simplifiziertes Geschichtsbild geht dabei von einer stringenten Entwicklung hin zur parla­mentarischen Demokratie aus. Dass es nicht so einfach ist und es auch eine Bewegung hin zur Rätedemokratie gab, schildert Autor ROBERT FOLTIN.

Wie die Veränderungen 1918/1919 bezeichnet werden, ist von der jewei­ligen Position abhängig. Konservative und deutschnationale Quellen betonen den Umsturz, den Zerfall der Monarchie. Sozial­demokrat_innen sehen in den Ereignissen eine Revolution, weil sich die staatliche Verfassung grundlegend änderte. Kommu­nist_innen erkennen höchstens so etwas wie eine Westentaschenrevolution.

In der Einbeziehung der Bevölkerung war die »österreichische Revolution« zumindest kurzfristig mehr als der Austausch von Eli­ten. In den Streiks, Hungerrevolten und schließlich im Zerfall der Armee entstan­den in den »Arbeiter- und Soldatenräten« Strukturen, die, obwohl von der Sozialde­mokratie benutzt, in denen sich das Poten­tial der Selbstorganisation der Massen zeig­ten. Der Kommunismus/Bolschewismus sprach zwar immer wieder von den Räten, stellte aber doch die Partei darüber.

Die österreichische Revolution begann mit den von Frauen getragenen Hungerun­ruhen im Winter 1916/1917, ab dem Früh­jahr 1917 durch große Streiks ergänzt. Die revolutionäre Phase fiel mit den russischen Revolutionen im März und im Oktober 1917 zusammen. In den Betrieben bildeten sich spontane Streikkomitees, eine ausgeprägte überbetriebliche Form bekamen sie erst im Jännerstreik von 14. bis 21. Jänner 1918.

Die Friedensverhandlungen mit den Bol­schewiki in Brest-Litowsk drohten gerade wegen der intransigenten Haltung der deutschen Militärs zu scheitern, als in Wie­ner Neustadt wegen der Verringerung der Lebensmittelrationen Streiks ausbrachen. Sie breiteten sich zuerst im Industrievier­tel, im Anschluss daran auf Wien aus. Ein paar Tage später standen 550.000 Arbei­ter_innen in der österreichischen und 200.000 in der ungarischen Reichshälfte im Ausstand. Sofort bildeten sich Streikkomi­tees, in Wien beförderte das die Sozialde­mokratie, indem sie ihre Vertrauensleute in den Betrieben dazu aufrief, sich an den »Arbeiterräten« zu beteiligen. Mit dem Argument der Vereinheitlichung wurden die vielfältigen Forderungen mit den Schwerpunkten Frieden und Brot auf vier beschränkt: 1) Der Frieden von Brest-Litowsk darf nicht an irgendwelchen terri­torialen Forderungen scheitern. 2) die Reorganisation des Verpflegungsdienstes. 3) gleiches und direktes Wahlrecht auf Gemeindeebene auch für Frauen. 4) Entmi­litarisierung der Betriebe. Der Wiener Arbeiterrat beschloss unter dem Einfluss der sozialdemokratischen Funktionär_ innen den Abbruch der Streiks, angeblich als siegreich, tatsächlich aber ohne kon­krete Ergebnisse. Den Regierenden waren von sozialdemokratischen Funktionär_ innen vage »Zusagen« in den Mund gelegt worden. Es dauerte schließlich bis zum 24. Jänner, bis sich das Ende der Streiks in allen Betrieben durchsetzen ließ.

Dass ein Ausstieg aus dem Krieg möglich gewesen wäre, zeigten der Januarstreik am Ende des Monats in Deutschland, besonders aber das Übergreifen der Revolten auf die Armee, am bekanntesten davon der Matro­senaufstand von Cattaro.

Waren die Arbeiterräte in den Streiks großteils selbstorganisiert entstanden, so wurden sie in den Tagen darauf institutio­nalisiert. Nur noch Mitglieder von Partei und Gewerkschaft, sowie Abonnent_innen der »Arbeiterzeitung« (AZ) galten als wähl­bar.

Im Herbst zerbrach in wenigen Wochen die Monarchie, die unterschiedlichen Nationen gründeten sich, die Armee löste sich auf, zuerst im Hinterland, dann in der Etappe und schließlich auch an den Fron­ten. Österreich-Ungarn sah sich zu einem Friedensschluss gezwungen, der am 4. November 1918 in Kraft trat. Durch ein Missverständnis darüber, dass der Frieden um 24 Stunden früher eintreten sollte, gerieten noch 100.000 Soldaten in Gefan­genschaft.

Wenn herrschende Regime verschwinden und die Repression wirkungslos wird, orga­nisieren sich die Menschen in »demokrati­scheren« Strukturen als dem Parlamenta­rismus, in den Räten. In den Kasernen wur­den Soldatenräte gewählt.

Zugleich formierte sich in Wien wieder die Staatsmacht. Die noch vor dem Krieg nach dem Männerwahlrecht gewählten Reichstagsabgeordneten, Christlichsoziale, Deutschnationale und Sozialdemokraten, bildeten am 21. Oktober 1918 eine proviso­rische Nationalversammlung. Am 30. Okto­ber 1918 wurde ein »Staatsrat« als deutsch­österreichische Regierung eingesetzt, am 12. November 1918 die Republik Deutsch­österreich ausgerufen. Obwohl die Ressorts aufgeteilt waren, erhielt durch die revolu­tionäre Stimmung die Sozialdemokratie den entscheidenden Einfluss. Dass die Mas­sendemonstrationen am Tag der Republik­gründung von einer Schießerei der Roten Garde begleitet wurden, zeigt von der Unsi­cherheit der Lage.

Am Freitag, den 1. November wurde diese Rote Garde »zur Verteidigung des Proleta­riats« gegründet, als Antwort darauf rief die Sozialdemokratie mit Unterstützung der bürgerlichen Parteien dazu auf, sich zur »Volkswehr« als zukünftiger provisori­schen Armee des neuen Staates zu melden. Diese Volkswehr war eine wirklich proleta­rische Organisation, die oberste Entschei­dung lag bei den von der Mannschaft gewählten Soldatenräten, die Kommandan­ten hatten nur mehr eingeschränkte Auto­rität. Die Rote Garde wurde Teil der Volks­wehr, um sie unter Kontrolle zu bringen, aber auch als notwendiges Gegengewicht, sollten sich doch zu viele Reaktionäre frei­willig zu dieser neuen Armee melden. Die Rote Garde bestand bis in den August 1919 und war eher eine revolutionäre Drohung als eine echte Gefahr. Die Volkswehr funk­tionierte bei Unruhen beruhigend und aus­gleichend, der Polizei wurde nicht mehr vertraut, meistens führte allein ihre Anwe­senheit zur Eskalation.

In diesem revolutionären Herbst gründe­ten sich zwei Organisationen, die die Ver­hältnisse umwerfen wollten. Am 3. Novem­ber erklärte sich eine Gruppe von ungefähr 40 Personen zur KPDÖ (Kommunistische Partei Deutschösterreichs, später KPÖ), Ende November entstand die Föderation Revolutionärer Sozialisten »Internationale« (F.R.S.I.). Letztere hatte maßgeblichen Ein­fluss in der Roten Garde und der Volkswehr sowie unter den Arbeitslosen. Die Bedeu­tung der KP stieg erst nach dem Winter, viele Heimkehrer aus Russland hatten sich angeschlossen, zahlenmäßig bedeutend wurde sie (kurzfristig) nach der Ausrufung der ungarischen Räterepublik.

Die Parlamentswahlen am 16. Februar 1919 machten die Sozialdemokratie zur stärksten Partei. Der provisorische Staats­rat wurde als Regierung durch eine Koali­tion aus Sozialdemokratie und Christlichso­zialen abgelöst.

Die Arbeiterräte hatten durch ihre Insti­tutionalisierung bis Anfang 1919 kaum eine Bedeutung. Die Veränderung der Struktur des Proletariats nach dem Ende der Kriegs­industrie, die Umstellung auf Friedenspro­duktion, sowie das Hinausdrängen von Frauen aus den Fabriken, erforderte eine Neuwahl der Arbeiterräte. Im März wurde beschlossen, dass Mitglieder sozialistischer Parteien, nicht nur Sozialdemokrat_innen, wählbar sind. Diese Wahlen, an den sich allein in Wien 500.000 Arbeiter_innen beteiligten, waren der direktdemokratische Ausdruck eines Teils der Bevölkerung, des Proletariats. Vieles, beispielsweise wer überhaupt dazu gezählt werden sollte, wie etwa »proletarische Hausfrauen« oder Arbeitslose, blieb ungeklärt.

Im Frühjahr 1919 schien die Revolution in greifbare Nähe zu rücken: am 21. März 1919 wurde in Ungarn eine Räterepublik ausge­rufen, am 6. April 1919 in Bayern. Die Eisenbahner_innen streikten und erkämpf­ten Lohnerhöhungen. Einige Betriebe wur­den »wild sozialisiert«, es wurde versucht, sie in Selbstverwaltung weiter zu führen. Fast täglich demonstrierten Heimkehrer, Invalide und Arbeitslose für bessere Lebensbedingungen, sowie in Solidarität mit Ungarn für eine Räterepublik. Am 17. April 1919, dem Gründonnerstag, bela­gerten Demonstrant_innen das Parlament und zündeten es an, fünf Wachmänner und eine Passantin wurden getötet, erst am Abend konnte die Volkswehr den Frieden wieder herstellen. Es war zwar eine Min­derheit, die demonstrierte, aber es bestand die Gefahr, dass sich die Revolten ausbrei­teten. Das Proletariat fühlte zwar sozialde­mokratisch, wünschte sich aber auch eine Revolution.

Eine große Anzahl von Reformen besänf­tigte die Revoltierenden: Arbeitslosenun­terstützung, Acht-Stunden-Tag, das Ende der Vorrechte des Adels und die Enteig­nung der Habsburger (Invalide und Kinder wurden in Schönbrunn untergebracht), die Beschlagnahme von Wohnungen und eini­ges mehr.

Ein angeblicher Revolutionsversuch durch die KP, in der sich inzwischen die F.R.S.I. aufgelöst hatte, scheiterte am 15. Juni 1919. Für diesen Tag wurde zu einer bewaffneten Demonstration gegen die von der Entente verlangte Reduzierung der Volkswehr aufgerufen. Der Abbau wurde verschoben. Obwohl eine Versammlung am Vorabend eine Erklärung beschließen wollte, dass die Kundgebung nur ein friedli­ches Zeichen wäre, wurden alle anwesen­den 122 Kommunist_innen verhaftet. Einige Tausend demonstrierten am nächs­ten Tag gegen die Verhaftungen, die Stadt­wache eröffnete in der Hörlgasse das Feuer, zwanzig Demonstrant_innen starben sofort oder erlagen in den nächsten Tagen ihren Verletzungen.

Auch wenn die Möglichkeit zu einer Aus­rufung einer Räterepublik vorbei war, die bairische und die ungarische Räterepublik wurden zerschlagen, hatten die Arbeiter­räte in Zusammenarbeit mit der Volkswehr im Sommer 1919 die größte Bedeutung. Wohnen und Ernährung bestimmten ihre Aktivitäten: Beschlagnahme von Großwoh­nungen für Wohnungslose, Verhinderung von Delogierungen, Bekämpfung des Schleichhandels, die Verteilung von Lebensmitteln und einiges mehr.

Danach schwand die Bedeutung der Räte. Für die Sozialdemokratie war die Selbstor­ganisation der Arbeiter_innen immer nur eine Ergänzung zum Parlamentarismus. Das staatliche Regime funktionierte wieder, in den Fabriken übernahmen die Betriebsräte die Funktion der Arbeiterräte (eine konsti­tutionelle statt einer absoluten Monarchie, aber keine Demokratie), die Aktivitäten im Reproduktionssektor übernahmen wieder staatliche Organe. Der revolutionäre Pro­zess war vorbei, die »Arbeiterräte« lösten sich schließlich sang- und klanglos auf.

LITERATUR:

Hautmann, Hans (1987): Geschichte der Rätebewe­gung in Österreich 1918–1924. Wien/Frankfurt/ Zürich: Europaverlag (das wichtigste und genaueste Buch über die Rätebewegung in Österreich).

Peter Haumer (2018): Geschichte der F.R.S.I. Die Föderation Revolutionärer Sozialisten »Internatio­nale« und die österreichische Revolution 1918/1919. Wien: mandelbaum kritik & utopie (aus der Per­spektive einer »autonomen« Arbeiter_innenbewe­gung, der F.R.S.I.).

Gelesen 6746 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 08 Mai 2019 16:46
Bitte anmelden, um einen Kommentar zu posten

Kontakt

Volksstimme

Drechslergasse 42, 1140 Wien

redaktion@volksstimme.at

Abo-Service: abo@volksstimme.at

Impressum

Medieninhaber und Herausgeber:

Verein zur Förderung der Gesellschaftskritik
ZVR-Zahl: 490852425
Drechslergasse 42
1140 Wien

ISSN Nummer: 2707-1367