»Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.« (Art. 1 BV-G) Der 2. Satz der geltenden Bundesverfassung geht auf Hans Kelsen zurück, der damit den Staat explizit mit dem Recht und nicht mit der traditionellen Gewaltterminologie identifiziert (Theo Öllinger). Die praktische Umsetzung der sozialen Rechte garantierten in den ersten Jahren wesentlich die Soldatenräte, bis die Vertretungsorgane der ArbeiterInnen gesetzlich verankert und soziale Errungenschaften bis in die Gegenwart unangetastet blieben.
FRIEDL GARSCHA zum 100. Gründungstag der Republik
Fast eine Revolution
Als 12. November 1918 proklamierten die Präsidenten der Provisorischen Nationalversammlung vor dem Parlamentsgebäude die Republik. Die deutschsprachigen Abgeordneten des »Reichsrats« (des Parlaments der österreichischen Reichshälfte der Monarchie) hatten sich zuvor, am 21. Oktober, als Provisorische Nationalversammlung konstituiert, um einen neuen Staat – »Deutsch-Österreich« – zu schaffen, nachdem absehbar wurde, dass mit der bevorstehenden Niederlage im Krieg auch die Habsburger-Monarchie auseinanderbrechen werde. Parallel dazu hatte die kaiserliche Regierung weiter bestanden, die den Waffenstillstand vom 3. November schloss. Am 11. November verzichtete Kaiser Karl zwar auf die Regierungsgeschäfte, trat aber nicht zurück, um die Fiktion des Fortbestands der Monarchie aufrechtzuerhalten – er hat 1921 zweimal von Ungarn aus versucht, sich wieder an die Macht zu putschen.
Der österreichische Staatsrechtler Hans Kelsen hat mehrfach darauf hingewiesen, dass der neue Staat nicht in Form einer Übertragung der Macht durch den alten Staat entstand, sondern einen »Bruch der Rechtskontinuität« darstellte. Der Führer der Sozialdemokratie, Otto Bauer, nannte seine Analyse der Gründungsjahre der Republik »Die österreichische Revolution«. Die Reichsratsabgeordneten mit Karl Renner an der Spitze, die die Republik ausriefen, waren jedoch keine Revolutionäre. Sie schufen zwar neue, republikanische Instanzen, doch die Verwaltung der Republik baute auf dem kaiserlichen Beamtenapparat auf.
1932 veröffentlichte der Berliner Schriftsteller Theodor Plievier, am Ende des Ersten Weltkriegs führender Teilnehmer des Kieler Matrosenaufstandes, im kommunistischen Malik-Verlag sein Buch »Der Kaiser ging, die Generäle blieben«. Der Titel des Romans verwies auf das Dilemma der revolutionären Umwälzung in Deutschland 1918/19: Die militärische Macht war in den Händen der Reaktion geblieben. In Österreich hingegen war die k.u.k. Armee zerfallen, die aus ihr entstandene »Volkswehr« knüpfte an revolutionären Traditionen an. Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis das aus ihr hervorgegangene Bundesheer zu einem verlässlichen Instrument der bürgerlichen Staatsmacht wurde. Der Wiener Universitätsprofessor Adam Wandruszka spöttelte in den 1970er Jahren in seinen Vorlesungen, für Österreich müsse man Pliviers Buchtitel abwandeln: »Der Hof ging, die Hofräte blieben.«
Die Rätebewegung
Doch parallel zum kaiserlichen Beamtenapparat und den Institutionen bürgerlich-parlamentarischer Mitbestimmung waren seit 1918 neue Formen der Vertretung von Arbeiterinteressen entstanden, die sich an den russischen Sowjets orientierten und, auf lokaler Ebene, Ansätze entwickelten, zu Organen einer proletarischer Gegenmacht zu werden. Im Gegensatz zu Otto Bauers Einschätzung, es habe 1918–1920 ein »Gleichgewicht der Klassenkräfte« bestanden, war es den von der Sozialdemokratie beherrschten Arbeiterräten allerdings nie gelungen, tatsächlich die bürgerliche Macht im Staat in Frage zu stellen; eine Ausnahme bildete das Militär – die Soldatenräte garantierten während der revolutionären Periode in den ersten Jahren der Republik, dass das die Armee nicht, wie in Deutschland, gegen die Arbeiterschaft eingesetzt werden konnte.
Was die Arbeiterräte leisteten, fasste Hans Hautmann in seinem 1987 erschienenen Standardwerk zu diesem Thema so zusammen: »... die nach gehorteten Lebensmitteln fahndenden, die Schleichhandelsbestände an die Notleidenden verteilenden, freien Wohnraum zur Anzeige bringenden, hungernde Kinder tatkräftig unterstützenden, Waffen- und Munitionslieferungen an konterrevolutionäre Staaten hintanhaltenden, jeden Auskunftssuchenden und Bittstellenden in sozialen Angelegenheiten kostenlos beratenden Räteorgane der österreichischen Revolution [waren] eine wahrlich einmalige Erscheinung in der Geschichte unseres Landes, die sich in die beste Tradition dessen einreiht, was man gesunde Initiative erwachter und selbstbewußter Arbeitermassen nennen kann« (Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924, Seite 680)
Demokratie und Sozialreform
Am Beginn der neugegründeten Republik standen Änderungen in der Sphäre des Rechts, die Hoffnungen auf einen tatsächlichen revolutionären Neubeginn weckten.
Die als Provisorische Nationalversammlung tagenden Männer beschlossen am 12. November als eines ihrer ersten Gesetze ein neues Wahlrecht, mit dem sie der bis dahin von der demokratischen Mitbestimmung ausgeschlossenen weiblichen Hälfte der Bevölkerung das aktive und passive Wahlrecht zuerkannten. Den Hintergrund hierfür bildete die Erfahrung der massenhaften Einbeziehung der Frauen in die industrielle Produktion während des Krieges und die Tatsache, dass die es waren, die angesichts des Versagens der Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung durch die k.u.k.-Behörden das Überleben der Menschen gesichert hatten.
Die Abschaffung der Todesstrafe im April 1919 fand 1920 auch Eingang in die neue Verfassung. Hintergrund war die Abscheu, welche die exzessive Anwendung der Todesstrafe, selbst gegen Minderjährige, durch die k.u.k. Militärjustiz in Galizien und Serbien erzeugt hatte.
Die sozialen Errungenschaften der Jahre 1918 bis 1920 umfassten die Einführung des Achtstundentages und des bezahlten Urlaubs, die Ausweitung der Arbeitslosenversicherung, das Betriebsrätegesetz, die Einführung von Kollektivverträgen, die Errichtung der Arbeiterkammern und andere mehr. Hervorzuheben ist, dass dieses gewaltige Reformwerk – das in den darauffolgenden Jahren im »Roten Wien« seine Fortsetzung fand – in einer Zeit beschlossen und umgesetzt wurde, in welcher die staatlichen Finanzen durch den Krieg zerrüttet war, die Mehrheit der Bevölkerung Hunger litt und die Spanische Grippe Zehntausende Menschenleben forderte. Die Vorstellung, dass der Sozialstaat »zu teuer« sei, blieb Zeiten vorbehalten, in denen der gesellschaft liche Reichtum sich vertausendfacht hatte.