Kollektivvertragsverhandlung als Ritual und Projektionsfläche

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Der 12-Stunden-Tag ist in vielen Bereichen schon Realität – Österreichische Gewerk­schaften scheinen dem nichts entgegen­setzen zu können. Aber warum ist das so? RAINER HACKAUF begibt sich für die Volksstimme auf Motivforschung.

Seit dem schwarz-blauen Regierungsan­tritt im Dezember 2017 folgt auf Gewerkschaften und Arbeiterkammer (AK) ein Angriff dem anderen. Ziel des schwarz­blauen Regierungsprojektes ist es, deren Einfluss zu Gunsten von FPÖ-Vertreter_ innen und vor allem Vertreter_ innen aus dem Umfeld der Industriellenvereinigung (IV) zurückzudrängen. Auf der Wunschliste der Unternehmer_innenverbände ganz oben steht jedoch die Schwächung flächen­deckender Kollektivverträge zu Gunsten von Verhandlungen auf betrieblicher Ebene. Doch warum kommen Gewerkschaf­ten und AK trotz dieser massiven Angriffe bisher nicht mehr in die Offensive?

Das österreichische Modell der Sozialpartnerschaft

Deutlich sichtbar wird, dass diese schlicht verlernt haben, auf Angriffe zu reagieren. Das seit 1945 in Österreich stark ausge­prägte System der Sozialpartnerschaft setzt auf starke Zurückhaltung bei der Austra­gung von Konflikten zwischen Gewerk­schaften und Arbeiterkammer auf der einen, Wirtschaftskammer (WKO) und IV als Unternehmer_innenverbände auf der anderen Seite. Dieses System wurde durch die Unternehmer_innenseite während der letzten fünfzehn Jahre Schritt für Schritt in Frage gestellt.

Enge Verzahnung mit der SPÖ

Trotz der schrittweisen Aufkündigung durch die Unternehmer_innen konnten sozialpartnerschaftliche Prozesse vermit­telt durch die Regierungsbeteiligung der SPÖ weiterhin erzwungen werden. Wichtig dabei war, dass der/die Sozialminister_in in den letzten Jahren traditionell durch eine_n rote_n Gewerkschafter_in gestellt wurde. Damit konnte der Einfluss in den Institutio­nen abgesichert werden. Kein Wunder also, dass es vor allem rote Gewerkschafter_ innen waren, die die Parteiführung nach den Wahlen dazu gedrängt haben, mit der FPÖ Koalitionsgespräche zu führen. Die Absicherung des Einflusses via Regierungs­beteiligung ist nun jedoch abgeschnitten. Alternative Strategien scheint es in der Führungsspitze von AK und ÖGB schlicht nicht zu geben.

Angespannte finanzielle Situation der Gewerkschaften

Die finanziellen Turbulenzen in Folge der BAWAG-Affäre vor über zehn Jahren wirken bis heute nach. So wurde ein Großteil des milliardenschweren Streikfonds des ÖGB durch die hauseigene Bank in der Karibik verspekuliert. Geheim gehalten wird, ob und in welcher Höhe mittlerweile wieder so ein Fonds existiert. Dies hat den ÖGB in Folge der Pleite zu einem massiven Spar­programm auf Kosten der eigenen Mitarbei­ter_innen gezwungen. Auch einzelne Teil­gewerkschaften stehen finanziell mit dem Rücken zur Wand. Sind doch Mitgliederzah­len in wesentlichen Branchen mittlerweile seit Jahrzehnten rückläufig. Zusätzlicher Effekt: Aufgrund dieser finanziellen Situa­tion, hat die ÖGB-Zentrale an Einfluss auf Teilgewerkschaften verloren.

Fehlende Konflikterfahrung auf Grund von Stellvertreter_innenpolitik

In weiten Bereichen gibt es kaum mehr Erfahrungen im Umgang mit Arbeitskämp­fen. Das ist freilich nicht in allen Branchen so. Ausnahmen stellen die gewerkschaftlich gut organisierten Bereiche der Bahn, Teile der Produktion und im meist wenig beach­teten Sozial- und Gesundheitsbereich in Oberösterreich dar. Jenseits davon gibt es aber auch unter den Kolleg_innen kaum mehr eine Vorstellung davon, was Gewerk­schaft als Bewegung sein kann. Stellvertre­ter_innenpolitik ist auf allen Ebenen das vorherrschende Modell. Dies wurde auch beim Streik im Sozialbereich vor knapp einem Jahr sichtbar. Hier haben sich die involvierten Teilgewerkschaften schlicht als unfähig erwiesen, die konfliktbereiten Kolleg_innen adäquat zu unterstützen. Daraus folgt auch: Der Angriff auf die gesetzlich verankerte »Selbstverwaltung« der Krankenkassen erzeugt so kaum einen Aufschrei. Die Co-Leitung der Kassen durch Gewerkschaftsfunktionär_innen oder Hauptamtliche wurde im Alltag schlicht nicht als »Selbstverwaltung« empfunden.

Unterschiedliche Realitäten

Für viele unselbständig Erwerbstätige sind Maßnahmen wie der 12-Stunden-Tag schon längst Realität. Vor allem in den gut orga­nisierten Branchen wie bei der Bahn oder in der Produktion haben sich Gewerkschaf­ten flexiblere Arbeitszeiten im Zuge von Kollektivvertragsverhandlungen durch höhere Löhne auch schon längst »abkau­fen« lassen. In Krankenhäusern oder unter prekär Beschäftigten beispielsweise sind längere Arbeitszeiten aus anderen Gründen normal. Das sind zudem oftmals Branchen, in denen Gewerkschaften kaum positiv prä­sent sind. Der Organisationsgrad ist hier zumeist auch an den Kollektivverträgen ablesbar. Diese gelten zwar flächende­ckend, beginnen aber mitunter bei Ein­stiegsgehältern von weit unter 7 Euro pro Stunde. Hie wie da führt das zum Gefühl, dass Neuregelungen der Arbeitszeiten schlichte Legalisierung des Ist-Zustands sind. Damit einhergehende Verschlechte­rungen werden hingegen oft kaum wahrge­nommen.

Zwei Logiken der Organisierung

Hier treffen eigentlich unterschiedliche Organisierungslogiken aufeinander, wie am Beispiel der Gewerkschaft vida sichtbar wird. Als gut organisierte Eisenbahnerge­werkschaft macht es Sinn auf die jährlichen Kollektivvertragsverhandlungen zu setzen. Als schlecht organisierte Dienstleistungsge­werkschaft – die vida ist u. a. für den Bereich Reinigung, Gastro und Hotel zuständig – müsste es darum gehen, gemeinsam mit den Kolleg_innen vor Ort auf vermehrte Konfliktbereitschaft zu set­zen. Das um in Bereichen in denen meist Migrant_innen und Frauen arbeiten, Ver­trauen aufzubauen und mittelfristig Mit­glieder zu gewinnen. Zwei konträre Logi­ken, die innerhalb einer Gewerkschaft schwer zu handhaben sind.

Blick über den Tellerrand

Gewerkschaften anderswo standen in der Vergangenheit vor durchaus ähnlichen Herausforderungen. Vor dem Hintergrund massiver Mitgliederverluste – u. a. eine Folge des schrumpfenden Produktionssek­tors – mussten Gewerkschaften in den 1980er-Jahren in den USA neue Organisie­rungsmodelle erfinden. Dies um in den schlecht bezahlten aber boomenden Dienst­leistungsbranchen Fuß zu fassen, wo meist Frauen oder Migrant_innen mit oder ohne Aufenthaltsstatus arbeiten. Ken Loach greift diese Wende in seinem bekannten Film »Bread and Roses« auf. Aber auch in Nach­barländern wie der Schweiz oder Deutsch­land kam es vor mehr als zehn Jahren zu einem Umdenken. Statt auf Kontrolle des Zugangs zum Arbeitsmarkt, setzen Gewerk­schaften hier auf konsequente Organisie­rung durch erhöhte Konfliktbereitschaft.

Linke Rituale

So wie ritualisierte Kollektivvertragsver­handlungen von links mitunter zurecht kri­tisiert werden, werden uns die ebenfalls zum Ritual gewordenen Appelle von Links in Richtung Gewerkschaften nach »5 % mehr Lohnerhöhung statt 3 %« oder »Streik« auch nicht weiter bringen. Diese sind nämlich mindestens so strategielos wie das Agieren der Gewerkschaftsführung unter Schwarz-Blau.

Rainer Hackauf hat die gewerkschaftliche Anlaufstelle für undo­kumentiert Arbeitende (UNDOK) mitinitiiert.

Gelesen 8586 mal Letzte Änderung am Freitag, 19 April 2019 11:34
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