Essay von HELGA WOLFGRUBER
„Erst die Arbeit, dann das Spiel« »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«, »Ohne Fleiß kein Preis« – Sprüche dieser Art haben das Aufwachsen meiner Generation begleitet und sollten die Einübung in ein arbeitsames, pflichterfüllendes Leben »erleichtern«. Das war ganz im Sinne von Kirche, Kapital und Wiederaufbau. Das Bibelgebot »Brot essen im Schweiße seines Angesichts« schien mir besonders absurd und förderte früh meinen Widerstand gegen normative, mir nicht sinnvoll erscheinende »Handlungsanleitungen«.
Die Frage nach der Bedeutung von Arbeit im Leben der Menschen hat mich aber mein ganzes SozialarbeiterInnenleben begleitet und mir eine weitere Absurdität vor Augen geführt:
Das Evangelium der Arbeit
Während sich immer mehr Menschen unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen »abarbeiten« (müssen) und sich in einen Zustand der Erschöpfung (Burn-out) katapultieren, leidet ein immer größer werdender Teil unter den Folgen der schambesetzten Stigmatisierung von Arbeitslosigkeit.
Als ich in den 80er-Jahren (!) als Gewerkschafterin auf die Notwendigkeit von Arbeitszeitumverteilung und Arbeitszeitverkürzung hinwies, wurde ich in der von Männern dominierten Welt der Gewerkschaft als Sozialromantikerin belächelt.
An der Ideologie der Vollbeschäftigung war nicht zu rütteln. Sie war Gewerkschaft und Politik als Daseinserfüllung heilig. Dieser begrenzte Arbeitsbegriff führte unter anderem zu einem beklagenswerten Mangel an Vorausschau auf sich lange schon abzuzeichnende Entwicklungen. Den Weg vom Nine-to-five-Job ins Prekariat oder in die Arbeitslosigkeit mussten viele Menschen daher alleine, ohne solidarische Begleitung gehen. Dass auf diesem Weg Mitglieder und WählerInnen verloren gingen oder nach »rechts abbogen«, wird von FunktionärInnen wenig selbstkritisch gesehen.
Diese ideologische Überhöhung der Arbeit, wie sie auch von den ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegungen des beginnenden 19. Jahrhunderts betrieben wurde, veranlasste schon damals den Sozialisten Paul Lafargue (Schwiegersohn von Karl Marx) zur prophetischen Feststellung: »Eine seltsame Tollheit beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation regiert. Diese Tollheit ist die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und Moralisten die Arbeit heiliggesprochen.«
Lafargues philosophische Frage, wie gutes Leben mit weniger Lohnarbeit aussehen könnte, mag vielleicht nicht ganz praxistauglich gewesen sein, er hat aber geahnt, wohin Politik und Wirtschaft führen können, wenn Gewinn- und nicht Sinnmaximierung unhinterfragtes Dogma bleibt.
Übrigens wurden Lafargues Schriften mit dem Vorwurf sie würden die Arbeitsmoral untergraben, in der Sowjetunion verboten und in der DDR nicht publiziert.
4 Stunden täglich sind genug
Auch der britische Philosoph Bertrand Russell hat schon in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts in seinem provokanten Essay: »Lob des Müßiggangs« darauf hingewiesen, dass durch die modernen Produktionsmethoden die Möglichkeit gegeben wäre, dass alle Menschen behaglich und sicher leben könnten. »Aber«, so schreibt er, »wir haben es statt dessen vorgezogen, dass sich manche überanstrengen und die anderen verhungern. Bisher sind wir immer noch so energiegeladen arbeitsam, wie zurzeit, da es noch keine Maschinen gab; das war sehr töricht von uns, aber sollten wir nicht auch irgendwann einmal gescheit werden?«
Russells Hoffnung hat sich bis jetzt leider nicht erfüllt.
Time is money
Und mit dem neoliberalen Versprechen auf Erfolg und individuelles Glück sind beinahe alle Lebensbereiche zu ruhelosen, mit Mühsal (so die etymologische Bedeutung des Wortes »Arbeit«) verbundenen Arbeitsstätten geworden. Beziehungsarbeit (wo bleibt da Lust), Körperarbeit (begleitet von Fitnesswahn), Haus-und Sorge-Arbeit (sag mir, wo die Männer sind) und Lohnarbeit (von der Fabrikshalle ins Wohnzimmer) werden mit hohem Perfektionsanspruch und unter großem Optimierungsdruck geleistet. »Zeit haben« für gesellschaftlich wichtige, bisher als nicht »profitabel genug« bewertete Tätigkeiten (z. B. Pflege) geht als Wert und wichtige Kraftquelle verloren. Mit der »Effizienzpeitsche« im Rücken wird Handeln (time is money) zur lästigen, weil überfordernden Pflicht.
Sogar das Denken kann durch die immer kürzer werdende Laufstrecke zwischen den Gedanken an Kreativität und Phantasiekraft verlieren. Das wollte vielleicht auch Jürgen Habermas mit der Feststellung ausdrücken: »Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus.« An diesem Punkt von Ratlosigkeit und Perspektivlosigkeit scheint Politik schon lange angelangt zu sein. Aus Angst vor Macht- und Bedeutungsverlust hält sie künstlich an einer Arbeitsethik fest und predigt unhinterfragt Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung. Dabei verschläft sie Steuerung von Reichtumsproduktion, den Klimawandel und den längst fälligen Paradigmenwechsel unserer Arbeitsgesellschaft. Zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung wird in die Schaffung unsinniger und als unsinnig erlebte Bullshit-Jobs investiert, ohne den individuellen oder gesellschaftlichen Nutzen zu bedenken. Ob das eine wünschenswerte Freude an Arbeit fördert, ist zu bezweifeln.
Auf den Weg bringen
Ein emanzipatorisches Modell zukünftiger Arbeitsorganisation verdanken wir Frigga Haug, Soziologin und marxistisch-feministische Kämpferin für die Überwindung des Kapitalismus (als Fernziel).
Ihr Projekt Vier-in-einem findet vor allem durch Frauen große Unterstützung. Radikale Arbeitszeitverkürzung dient nicht NUR als Mittel zur Armutsbekämpfung, vielmehr sollen alte Arbeitsteilungen aufgehoben werden und zu einem neuen Zeitregime führen. Weniger Zeit für Erwerbsarbeit, Gleichverteilung der Reproduktionsarbeit auf alle Geschlechter, Zeit für politische Bildung/Aktivität und Zeit für individuelle Entwicklungsmöglichkeiten sind die vier gleichberechtigten Säulen des langfristigen Projekts.
Haug ist außerdem davon überzeugt, dass Selbstveränderung und Veränderung der Umstände in der politischen Praxis zusammenfallen müssen. Emanzipatorischer Effekt wäre anders nicht zu erzielen und ohne diesen ist eine »neue Welt« nicht vorstellbar.
Abschied vom »Exzess der Arbeit«
Es ist bekannt, dass alte Gewohnheiten schwer aufzugeben sind, dass Neues auszuprobieren von Ängsten begleitet sein kann.
Je länger wir aber im Modus der Starre und des Bewahrens verharren und gleichzeitig an einem »Exzess der Arbeit« (Byung Chul Han) festhalten, desto schwieriger wird es sein, uns von den verheerenden Folgen dieser »Zurichtungen« zu trennen oder gar zu erholen. Die wechselhafte Geschichte der Arbeits- und Produktionsverhältnisse hat unsere Einstellung zu Arbeit und Sein geprägt. In vielen Köpfen schwirrt daher noch die Verachtung manueller Arbeit in der Antike, wirkt noch das Fleiß – Gebot des Protestantismus oder geistert die Kant'sche Idee der Selbstverwirklichung durch Arbeit. Diese »Schlacken« der Geschichte begleiten die Bemühungen um ein Bedingungsloses Grundeinkommen mit Skepsis und Widerstand. Für und Wider sind aber auch bestimmt von irrationalen Ängsten. Angst vor dem Verlust strukturgebender Imperative. Angst vor Zeitgewinn: was fange ich damit an? Angst vor Autonomiezuwachs: Wofür will ich Verantwortung übernehmen? Vielleicht auch Angst vor Nichts-tun-wollen und in der Stille »Bekanntschaft mit sich selbst« zu machen…
Der alte Slogan der revolutionären Arbeiterschaft: »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will …« wirkt auf viele heute anachronistisch. Veränderung wird aber ohne an den »Rädern« zu drehen nicht erfolgreich sein. Und was geschieht dann, wenn die Räder einmal wirklich still stehen: Wird die Erleichterung über die Ruhe oder die Angst vor der Stille überwiegen? Vielleicht sollten wir uns zur Einübung in Muße und kreativer Stille diesem Vorhaben zuwenden: »Alle Smartphones stehen still, wenn dein starker Daumen will.«
Und: Müßiggang ist nicht aller Laster Anfang.