Da ist Frau Kramer in prekärer Beschäftigung, da ist Herr Gubitzer in einer schweren psychischen Krise, da ist Herr Spanter als Arbeitssuchender ohne Leistungsanspruch, da sind – vormals mit ihrem Ehemann mitversicherte – Frauen nach der Scheidung, da sind Hilfesuchende wie Frau Lamprecht, die ihren Sozialhilfeanspruch aus Scham nicht einlösen. Es ist ein Mix aus strukturellen Lücken, aus sozialen Benachteiligungen, aus fehlenden persönlichen Ressourcen und aus mangelndem Wissen. Frau Kramer hat zwar einen Job, davon leben kann sie eigentlich nicht. Das prekäre Einkommen ist so gering ist, dass sie entscheiden muss: Zahle ich die Krankenversicherung oder die Miete oder die Hefte zum Schulanfang für die Kinder? Als sie überraschend schwer erkrankte, überfielen sie die Behandlungskosten. Herr Gubitzer hat einen depressiven Schub. In solchen Phasen psychischer Krise versagen seine Fähigkeiten zur Selbstorganisation. Er versäumt den Termin am Arbeitsmarktservice und fällt nach einiger Zeit aus der Krankenversicherung. Viele sind in Gefahr, ihre Wohnungen zu verlieren, und nicht in der Lage, ihren Alltag zu bestreiten. Die psychosozialen Stützpunkte außerhalb der Spitäler in Gemeinden und Bezirken sind unzureichend, die Instrumente aktiver Arbeitsmarktpolitik für die Betroffenen nicht ausgereift. Jeder zweite Anspruchsberechtigte beantragt keine Mindestsicherung. Die Gründe sind: Scham, Schikanen am Sozialamt, Angst vor Armutsverfestigung. Wer als Mittelloser aber ohne Mindestsicherung lebt, lebt auch ohne Krankenversicherung. Frau Lamprecht darf nichts passieren, sie kann keine Krankenhausrechnung zahlen.
Nach offiziellen Daten des Hauptverbands der österreichischen Sozialversicherungsträger waren im Jahr 2014 8,53 Mio. Personen bzw. 99,9 % der Bevölkerung in die soziale Krankenversicherung einbezogen. Davon waren 6,45 Mio. Personen als Beitragsleistende und 1,97 Mio. Personen über ihre Angehörigeneigenschaft versichert. Geschätzte 0,2 Mio. Personen waren darüber hinaus durch die Krankenfürsorgeanstalten geschützt.
Obwohl der Krankenversicherungsschutz relativ umfassend ausgestaltet ist, fallen an den Rändern des Systems Personen in außergewöhnlichen Lebenslagen und Statusübergängen aus dem Schutzbereich der Versicherung. Es handelt sich dabei um eine fluktuierende Anzahl von Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen von der Krankenversicherung nicht (mehr) erfasst werden.
Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie geringes Einkommen haben. Zwei Drittel befanden sich zum ersten Mal in dieser Situation, immerhin ein Drittel war schon öfter davon betroffen.
Die Ambulanz AmberMed im Süden Wiens behandelt Menschen, die aus der Versicherung gefallen sind. Ist schon für versicherte PatientInnen die Krankheit eine Belastung, so ist der Heilungsprozess für PatientInnen von AmberMed aufgrund der Lebensumstände besonders schwierig. Neben der Krankheit kommen auch die Unsicherheit des Aufenthaltes, schlechte Wohn- und Lebensbedingungen und mangelnde Sprachkenntnisse bzw. das mangelnde Wissen um etwaige Ansprüche hinzu. Ruhe zur Erholung, entsprechende Ernährung und Wohnbedingungen findet man bei den PatientInnen von AmberMed so gut wie nie. Die Krankheiten sind vielfältig, es gibt aber einige Symptome, die immer wieder auftauchen: Kopfschmerzen, Probleme mit dem Rücken, der ganze Stützapparat des Körpers leidet. Häufig sind auch Schlafstörungen, Magen-Darm-Probleme, schlechte Zähne, aber auch Diabetes und Bluthochdruck. Wenn die ÄrztInnen eine besondere Diät als Therapie verschreiben, haben die PatientInnen kein Geld, die entsprechenden Lebensmittel zu kaufen. Ein Großteil der Menschen, die herkommen, lebt über lange Zeit knapp an oder über der Verwahrlosungsgrenze; sie leiden unter extrem hohen Überlebensstress. »Ich erlebe oft, dass sie wichtige Unterlagen versteckt bei sich tragen, und wenn wir ihnen Kopien davon geben und Klarsichtfolien, weil das Original schon fast zerfällt, stehen sie ratlos da; sie wissen nicht, wie sie das lagern sollten. Sie können bei dem Stress des Überlebens einfach keine geregelte Existenz aufbauen, in der man Dokumente aufbewahrt«, erzählt eine Ärztin von AmberMed.
Tödlich wie eine Axt
Steige ich im ärmsten 15. Wiener Gemeindebezirk in die U-Bahn und im noblen 1. Bezirk am Stephansplatz wieder aus, dann liegen dazwischen vier Minuten Fahrzeit – aber auch vier Jahre an Lebenserwartung der jeweiligen Wohnbevölkerung.
Was macht den Unterschied zwischen City und Fünfhaus? Vier Faktoren: Es sind die Unterschiede erstens in den gesundheitlichen Belastungen, zweitens in den Bewältigungsressourcen und Erholungsmöglichkeiten, drittens in der gesundheitlichen Versorgung und viertens im Gesundheitshandeln. Das eine bedingt das andere. Stress durch finanziellen Druck und schlechte Wohnverhältnisse gehen Hand in Hand mit einem geschwächten Krisenmanagement und hängt unmittelbar mit mangelnder Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und einem ungesunden Lebensstil zusammen.
Ich stehe an einem reißenden Fluss. Da höre ich den Hilferuf eines Ertrinkenden. Ich springe ins Wasser, lege meinen Arm um ihn, ziehe ihn ans Ufer und mache Nasen-Mund Beatmung. Und dann, gerade als er wieder von selbst zu atmen beginnt, höre ich einen neuen Hilferuf. Also wieder rein in den Fluss, festhalten, herausziehen, beatmen – und noch ein Hilferuf. Und so geht es weiter ohne Ende in Sicht! Ich bin so beschäftigt, Menschen aus dem Wasser zu ziehen und zu beatmen, dass ich keine Zeit habe, herauszufinden, wer zum Teufel alle diese Leute ins Wasser wirft! Mit dieser Geschichte des Mediziners Irving Zola entwickelte sich der Ruf: »Moving upstreams!« Bewege dich stromaufwärts, wo die Krankheiten entstehen! Schau flussaufwärts zur Quelle, wo die Ursachen liegen.
Man kann einen Menschen mit einer feuchten Wohnung genauso töten wie mit einer Axt. Wer die Situation von MindestsicherungsbezieherInnen weiter verschlechtert, Arbeitslose statt Arbeitslosigkeit bekämpft, die Chancen im Bildungssystem blockiert oder prekäre Niedriglohnjobs fördert, der verschlechtert die Gesundheitssituation im Land. Ernährung, Bewegung, Schlaf – die so genannten Lebensstilfaktoren – gehören zu einem von vier Bereichen, um Ungleichheiten zwischen Arm und Reich zu reduzieren. Wenn aber Vorschläge zur Gesundheitsförderung kommen, dann immer einzig beim Lebensstil. Da sollte man eine Regel einführen: Für jeden Vorschlag, den jemand beim Verhalten macht, muss er einen zur Reduzierung schlechter Wohnungen machen, einen zum Abbau von Barrieren im Gesundheitssystem und einen zur Stärkung der persönlichen Ressourcen. Gesundheitsförderndes Verhalten ist am besten in gesundheitsfördernden Verhältnissen erreichbar. Stromaufwärts zur Quelle.
In einer aktuellen Studie der Armutskonferenz melden sich Betroffene zum dritten Faktor zu Wort: den Barrieren im Gesundheitssystem. Thematisiert wurde der mangelnde Zugang zu Gesundheitsleistungen, die Unterschiede Stadt-Land, Nicht-Leistbarkeit, Unverständlichkeit von Diagnosen und Befunden, Schwierigkeiten bei Gutachten, Beschämung und Ängste. Leiste ich mir den Selbstbehalt für neue Stiftzähne oder zahle ich die Miete für meine kleine Wohnung? Es sind Fragen wie diese, mit denen die Linzerin Sonja Taubinger öfter konfrontiert ist. Im Zweifelsfall entscheidet sie gegen ihre Gesundheit. Aus leicht nachvollziehbarem Motiv: »Was helfen mir die schönsten Zähne, wenn ich damit zurück auf die Straße muss?« Sonja Taubinger verkauft in Linz die Straßenzeitung Kupfermuckn. Sie weiß nur zu gut, wie schlimm es ist, obdach- und schutzlos zu sein.
Martin Schenk ist Sozialexperte, Psychologe und Mitinitiator der Armutskonferenz.