Michael Stocker bespricht das Buch „Chinas Sozialismus neu entdecken“
von Michael Brie.
Von der britischen ultrakonservativen Margaret Thatcher stammt das TINAPrinzip: »There Is No Alternative« zu Kapitalismus und Ausbeutung. Inzwischen wurde es noch ein bisschen ausgeschmückt mit »westlichen Werten« oder »regelbasierter Ordnung« und wird nun weltweit wie eine unhinterfragbare Monstranz vor sich hergetragen.
Was aber, wenn ein sich sozialistisch nennendes Land einen unglaublichen ökonomischen und sozialen Aufstieg hinlegt, geleitet von einer allein herrschenden kommunistischen Partei und dabei Spitzenzustimmungswerte in der Bevölkerung erfährt? Laut »Newsweek« lag in einer internationalen Meinungsumfrage 2022 bei der Frage, ob die Bevölkerung ihr Land als Demokratie sieht, China mit 83% voran, die USA lag bei 49%. Michael Brie dazu: »Vom Standpunkt der normativen Annahmen des westlichen Mainstreams mit seiner Gleichsetzung von Marktwirtschaft und liberaler Demokratie mit Freiheit und seines libertären linken Flügels sind diese Ergebnisse, so beeindruckend sie an sich sein mögen, auf grundsätzlich falsche Weise entstanden. So erscheint auch das erreichte Gute noch schlecht.« Michael Brie – Sozialwissenschafter und auch zeitweise Vortragender an einer chinesischen Universität – versucht »Chinas Sozialismus neu zu entdecken « in einem knappen Band mit einer Fülle an Themen. Durchgängig betont er darin, dass Sozialismus in China weniger als Zustand, sondern mehr als zielgerichteter Entwicklungsprozess verstanden und diskutiert wird – im Gegensatz zu westlich-kategorialer Inquisition: Sozialismus oder nicht?
Herausbildung der chinesischen Zivilisation
Um den westlichen Blick auf China zu schärfen, der vom »Orientalismus« getrübt sei, kritisiert Brie die gängige Auffassung von China als rückständigem, von der Welt abgeschottetem Land, das in Stagnation verharrte. Er erwähnt die erste industrielle Revolution »während der Sung-Dynastie (960–1279) auf den Gebieten der Eisen- und Stahlherstellung, des Transportwesens, der Papierherstellung und des Druckwesens, der Landwirtschaft und der Hochseenavigation sowie im Militärbereich (Schießpulver, Raketen)«. Ebenso die kommerzielle Warenwirtschaft und den chinesischen Beamtenstaat – Elemente eines modernen Staates.
Globale Verbindungen machten China im 16. und 17. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Zentren der Weltwirtschaft – zum Beispiel in der Textil-, Eisen- und Keramikindustrie. »Die beiden »Opiumkriege « 1840–1842 und 1858–1860 dienten nicht der »Öffnung« Chinas, sondern waren im Gegenteil vor allem durch das große Handelsdefizit des Westens mit China bedingt.« Zwischen 1719 und 1833 sollen über sechstausend Tonnen Silber nach China geflossen sein, um die chinesischen Waren, die der Westen bezog, vor allem Seide, Tee, Keramik, Gewürze, Lacke und feine Baumwolle zu bezahlen. Das Handelsdefizit des Westens gegenüber China wurde durch den illegalen Opiumschmuggel reduziert, den die chinesische Regierung zu stoppen versuchte. 1838 sollen es fast 2.000 Tonnen Opium gewesen sein, die vor allem britische »Handelsgesellschaften« nach China schmuggelten. Über ein ganzes Jahrhundert wurde China in eine »Opium-Falle« getrieben und die westlichen imperialistischen Mächte agierten im Verein mit ihren Handelsgesellschaften als Drogenkartelle.
Als Gegenbewegung entstand die Zukunftsvision einer Gesellschaft der großen Gleichheit und harmonischen Gemeinschaftlichkeit, die erst noch zu schaffen sei. Diese Vision brach sich in der großen Taiping-Revolution von 1850 bis 1864 Bahn – wieder aufgegriffen in der Schrift von K’ang You-wei (1858–1927) »Das Buch der Großen Gemeinschaft «. Dieses Buch prägte Generationen chinesischer Revolutionäre.
»Vollständig konnte China durch die westlichen Mächte nie unterworfen werden. Es blieb als eine sog. Halbkolonie Beutegemeinschaft der imperialistischen Großmächte Großbritannien, Frankreich, Russland, den Niederlanden, den USA, zu denen sich Deutschland und Japan dazu gesellten. «
In den Jahrzehnten nach dem Ende der Qing-Dynastie (nach 1911) unter den Bedingungen von Bürgerkrieg und dem Eroberungskrieg Japans formierte sich eine neue Gestalt des Kommunismus in den von der KPCh kontrollierten Gebieten Chinas, die sich von Beginn an vom sowjetischen Kommunismus unterschied. Für China gilt, dass es das Land ist, wo nach Losurdo »die Geschichte der kommunistischen und antikolonialen Bewegung in eins zusammenfallen.«
Heutzutage soll als Zielstellung der KPCh der alte Zustand zivilisatorischer Größe im Ergebnis des »großartigen Wiederauflebens der chinesischen Nation« (Xi Jinping 2017) wieder hergestellt werden – in weniger als 30 Jahren. Brie kommentiert: »Es ist dieses eine Ziel, das über alle Regierungssysteme hinweg die Eliten Chinas und große Teile seiner Bevölkerung seit über 150 Jahren bewegt. Wenn es in China eine Zivilreligion gibt, die tief im Herzen der Chinesinnen und Chinesen verankert ist, dann ist es das Narrativ der eigenen Geschichte und der Mission, sie auf moderne Weise fortzuführen,«
Reform und Öffnung
Von einem führenden Kopf der Reformgruppe nach Maos Tod, von Chen Yun stammt die bittere Aussage: »Dreißig Jahre nach unserem revolutionären Sieg gibt es immer noch Bettler. Wir müssen die Lebensbedingungen verbessern.« Gravierende Fehler hatten zur größten Hungerkatastrophe des 20. Jahrhunderts während des ›Großen Sprungs‹ geführt, Millionen Menschen wurden in der ›Kulturrevolution‹ verfolgt, das Land wurde immer wieder zurückgeworfen und geriet an den Rand eines neuen Bürgerkrieges.
Schonungslose Selbstkritik führte zur 1978 eingeleiteten Politik von »Reform und Öffnung« der neuen Führung unter Deng Xiaoping. Er meinte 1987: »Es handelt sich [...] um ein völlig neues Unterfangen, das weder von Marx noch von unseren Vorgängern je erwähnt wurde und auch von keinem anderen sozialistischen Land je in Angriff genommen wurde. Es gibt also keine Präzedenzfälle, von denen wir lernen könnten. Wir können nur aus der Praxis lernen, indem wir uns nach und nach vorantasten. Wir versuchen, China in ein modernes sozialistisches Land zu verwandeln.«
Über 600 Tsd. Funktionäre waren allein 1979 mit der Aufgabe befasst, das Unrecht aufzuarbeiten und konkrete Lösungen für die Betroffenen (eine zweistellige Millionenzahl) zu finden. Und es kam zur Wiedergeburt der Marktwirtschaft, gestützt auf die Selbsthilfe, die Kraft der Familien, auf jene Potenziale, die in den Dörfern, Gemeinden und Städten selbst vorhanden waren – was natürlich Unternehmertum und Einkommensunterschiede zur Folge hatte. Hier erwies sich die KPCh als »geradezu von atemberaubender Innovationskraft geprägt. Dies schließt zugleich aber auch ein, dass sich eine Reihe der Innovationen als Sackgassen erwiesen.«
Der »Chinesische Traum«
»Kurz nach seiner Wahl zum Generalsekretär des ZK der KPCh führte Xi Jinping bei einer Rede im November 2012 den Begriff vom »Chinesischen Traum« in die offizielle Sprache Chinas ein. Nach Jahrzehnten beispiellosen, teilweise auch rücksichtslosen Wachstums und des Aufstiegs zu einer globalen Großmacht war das Bedürfnis nach einem Narrativ entstanden, das die Entwicklung des Staates mit den Hoffnungen der Familien und der Einzelnen in China verband. Dem amerikanischen Traum vom Aufstieg des Einzelnen in einer Konkurrenz- und Verdrängungsgesellschaft wurde die chinesische Vision vom gemeinsamen Aufstieg aller gegenübergestellt.« Unter dem Motto: »Wenn es dem Land und der Nation gut geht, dann nur, weil es allen gut geht.« wurde das doppelte Ziel formuliert, bis 2021, zum 100. Jahrestag der Gründung der KPCh, die Errichtung einer »Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand« abzuschließen und bis zum 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik, 2049, den Aufstieg zu einer »harmonischen Gesellschaft mit umfassenden Entwicklungsmöglichkeiten für alle« zu erreichen.«
Sozialismus oder Staatskapitalismus?
Unter diesem Titel steht der Großteil der Kapitel des Buchs, die erläutern, wie Alternativen zum sowjetischen Wirtschaftssystem gesucht, ausprobiert, verworfen, gefunden wurden. Hilfreich, »dass Chinas Wirtschaftssystem niemals derart zentralisiert war wie das der Sowjetunion, sondern im hohen Maße dezentral auf der Ebene der Provinzen und unterhalb dieser organisiert wurde. [...] Diese Dezentralisierung ermöglicht es bis heute, Chinas Kommunen und Regionen als Labore für Experimente zu nutzen, bei denen neue Ansätze auf ökonomischem, politischem, sozialem oder kulturellem Gebiet entwickelt und umgesetzt werden. Ausgehend von den dabei gewonnenen Erfahrungen können dann Entscheidungen über ihre Ausdehnung und Verallgemeinerung oder aber auch über ihren Abbruch gefällt werden. China ist in dieser Hinsicht ein großer Raum des Erkundens und reflektierten Lernens. Das Erfolgskriterium ist immer doppelt definiert: Werden praktische Ergebnisse erreicht und stärkt dies die Hegemonie der KPCh?«
Das Herangehen an die Wirtschaftsreformen fasste Deng Xiaoping 1992 so zusammen: »Eine Planwirtschaft ist nicht gleichbedeutend mit Sozialismus, weil es auch im Kapitalismus Planung gibt; eine Marktwirtschaft ist nicht Kapitalismus, weil es auch im Sozialismus Märkte gibt. Sowohl die Planung als auch die Marktkräfte sind Mittel zur Steuerung der Wirtschaftstätigkeit. Das Wesen des Sozialismus besteht in der Befreiung und Entwicklung der Produktivkräfte, der Beseitigung von Ausbeutung und Polarisierung und der letztendlichen Erreichung von Wohlstand für alle.«
Brie schließt sich Michael Roberts an: »China ist nicht kapitalistisch. Der Kapitalismus wird von der Warenproduktion zur Erzielung von Profit bestimmt, die auf spontanen Marktbeziehungen beruht. Die Profitrate bestimmt die Investitionszyklen und führt zu periodischen Wirtschaftskrisen. Dies ist in China nicht der Fall. In China sind das öffentliche Eigentum an den Produktionsmitteln und die staatliche Planung nach wie vor vorherrschend, und die Machtbasis der Kommunistischen Partei ist im öffentlichen Eigentum verwurzelt.«
Natürlich wirft ein Mischsystem von öffentlich und privat aus sozialistischer Sicht viele Fragen auf: Wie weit darf die Privatwirtschaft in einem sozialistischen Land maximal wachsen, welche Größe sollten private Unternehmen erreichen dürfen? Welche Grenzen sollten der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen in Bereichen wie dem Bildungs- und Gesundheitswesen gesetzt werden? Zentral zur Steuerung der Wirtschaft ist vor allem das Finanzsystem. Brie hebt dabei mit Sebastian Heilmann folgende Instrumente hervor: »Zum einen wird das Finanzsystem von staatseigenen Banken dominiert, deren Führungspersonal im Rahmen des Kadersystems der Partei eingesetzt wird [...]. Dies ermöglicht es der Partei- und Staatsführung, gezielten Einfluss auf die Kreditvergabe der Banken auszuüben. Zum anderen sorgt der Staat ökologidurch eine administrative Festsetzung des Zinsniveaus dafür, dass insbesondere Staatsunternehmen günstige Kredite für ihre Investitionen erhalten. [...] Gleichzeitig hat die chinesische Regierung die Entwicklung der Kapitalmärkte gebremst, um zu verhindern, dass Ersparnisse aus dem Bankensektor abfließen. Selbst die Aktien- und Anleihemärkte Chinas befriedigen in erster Linie die Finanzierungsbedürfnisse staatlicher Institutionen und staatseigener Unternehmen. Abgerundet wird dieses System durch ein striktes Wechselkursmanagement sowie Kapitalverkehrskontrollen, die einen Abfluss von Ersparnissen ins Ausland verhindern sollen.«
Als ein wichtiges Resümee hält Brie fest: »Wer China verstehen will und seine Zukunft, muss deshalb die KPCh verstehen. Von ihr vor allem hängt es ab, ob China einen sozialistischen Weg geht oder nicht. Wie ein Damoklesschwert hängen über der KPCh einerseits die Erfahrung der Dynastien Chinas, die an Korruption und Zerfall staatlicher Macht zerbrachen, und andererseits die Wende größerer Teile der KPdSU hin zur Auflösung des leninistischen Systems.«
Die »ökologische Zivilisation«
Im Folgenden geht es um die innere Struktur der KPCh – mit 92 Mio. Parteimitgliedern, die in 4,1 Mio. Parteigruppen organisiert sind – ihre Beförderungspolitik, Altersgrenzen, Schutz vor Korrup tion. Und auch um die Beziehungen zur Zivilgesellschaft – 900.000 registrierte Organisationen – sie basieren allerdings »auf Duldung, nicht auf Rechten. «
Weitere Themen sind:
• das Konzept der »ökologischen Zivilisation«, ökologische Ziele sind mittlerweile Teil der Planvorgaben auf allen Ebenen;
• das größte Sozialversicherungssystem der Welt: »Die Zahl der Menschen, die durch eine medizinische Grundversicherung abgesichert sind, hat die Marke von 1,3 Milliarden überschritten, und die Zahl derer, die durch eine Altersgrundversicherung abgesichert sind, liegt jetzt bei über 1 Milliarde.«
• die Sicherung des Zugangs aller Chinesinnen und Chinesen zu sieben Grundgütern des Lebens: Zugang zu Kinderbetreuung, Bildung, Erwerbstätigkeit, medizinischen Dienstleistungen, Altenpflege, Wohnraum und Sozialhilfe.
• ein chinesisches Bürgerliches Gesetzbuch mit Persönlichkeits- und Eigentumsrechten und modernem Vertragsrecht, mit Informationsund Meinungsrecht und dem Schutz persönlicher Daten, Schutz der sozialen Rechte des Volkes, dem konkreten Recht auf Wohnen und Beschwerderechte, und schließlich eine ökologi sche Zivilisation mit konkreten, einklagbaren ökologischen Schutzrechten und der konkreten Pflicht zur ökologischen Nachhaltigkeit aller öffentlichen Maßnahmen.
• die Beseitigung der absoluten Armut: Die durchschnittlichen Stundenlöhne chinesischer Arbeiter und Arbeiterinnen haben sich beispielsweise zwischen 2006 und 2016 inflationsbereinigt verdreifacht, von 1,20 auf 3,60 USDollar (Mexiko: 2,10, Thailand: 2,20, Brasilien: 2,70, Indien: 0,70 US-Dollar). In derselben Zeit stagnierten oder fielen die realen Lohneinkommen im westlichen Kapitalismus. Kritisch merkt Brie an: »Diese Steigerung der Realeinkommen kann aber nicht über den sehr großen Niedriglohnsektor hinwegtäuschen, der die Mittelschichten und die unteren Gruppen spaltet. [...] Gleichzeitig gibt es fast 1.000 Dollarmilliardäre in China.«
Die Paradoxa des chinesischen politischen Systems
Als einige dieser Paradoxa nennt Brie zusammenfassend:
• Viele Freiheiten, aber keine Freiheit gegen den Staat;
• Viel demokratischer Einfluss, aber keine demokratische Entscheidung darüber, welche Partei regiert;
• Eine blühende Zivilgesellschaft, aber zu den Konditionen der herrschenden Partei;
• Ausbau des Rechtssystems, aber kein Rechtsstaat.
Allerdings: ein Nicht-Rechtsstaat ist keinesfalls zwangsläufig ein Unrechtsstaat. Die gängigen liberalen Theorien können die politische Wirklichkeit Chinas nicht erklären. Sie scheitern am Widerspruch zwischen einer hochdynamischen Wirtschaft und Gesellschaft und der Annahme eines rigide politischen Kommandosystems mit totalitären Zügen. Immer wieder wird behauptet, dass die Erfolge Chinas trotz der Führung durch die KPCh erreicht wurden, obwohl so vieles auf das Gegenteil hinweist.
»Ausgehend von modernisierungstheoretischen Annahmen war immer wieder vorhergesagt worden, dass China spätestens in den 2020er-Jahren zur liberalen Demokratie übergehen würde. Bisher zumindest ist dies nicht erkennbar. Gleichzeitig vollziehen sich in bisher liberalen politischen Systemen Übergänge zum Illiberalismus, die bislang nur als Pathologien verstanden werden und nicht als immanente Folgen des Liberalismus selbst. Offensichtlich bedarf es eines neuen sozialwissenschaftlichen Paradigmas, das beiden Entwicklungen gerecht wird.«
Wenn es China nicht gelungen wäre, funktionale Äquivalente von Partizipation zu entwickeln, »die es dem Land erlauben, den Herausforderungen komplexer moderner Gesellschaften in Zeiten der Globalisierung zu begegnen, [...] dann wären die bisherigen Erfolge in keiner Weise verständlich. Es ist dringend angebracht, gegenüber China mehr von jenem Pragmatismus walten zu lassen, den man an Deng Xiaoping zu Recht lobt: Hauptsache ist, die Katze fängt Mäuse. Repressionen stecken zweifelsohne in China die äußeren Ränder jenes Rahmen ab, außerhalb dessen Sprechen und Handeln durch den Staat unterdrückt wird. Dies ist ein deutlich anderer Rahmen als in liberalen Demokratien. Zugleich bedeutet dies im Umkehrschluss, dass innerhalb dieses Rahmens ein beträchtlicher Bewegungsraum existiert, den man dringend zur Kenntnis nehmen muss.«
Gegen Ende des Buchs gibt es ein sehr kritisches Kapitel über die chinesische Minderheitenpolitik in Xinjiang, das schließt mit: Weder »ist mit dieser Politik objektiv der Tatbestand von Völkermord erfüllt, noch liegt eine entsprechende Absicht vor.«
Bedauerlicherweise tauchen die Stichworte Tian'anmen- Platz, Hongkong und Taiwan nicht auf. Nachdenklich fällt das Resümee von Brie aus:
»Der chinesische Aufstieg ist gefährdet. Das politische System einer kommunistischen Einparteienherrschaft hat Schwächen, die es prinzipiell nicht überwinden kann. Die größte Schwäche ist die, dass die Regierenden sich faktisch selbst ernennen. [...] Dies begrenzt einerseits die Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger und öffnet andererseits unter bestimmten Bedingungen einen sehr großen Raum für Willkür an der Spitze, da es keine unabhängigen Gegengewalten geben kann. Stalin, Mao, aber auch Gorbatschow sind warnende Beispiele für Chinas politische Elite.«
Aber: Die KPCh »muss den Legitimitätsglauben aktiver staatstragender Minderheiten und die Loyalität der Bevölkerung anders absichern als durch eine Prozedur freier Wahlen. Dies verlangt, die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger sogar noch intensiver einzuholen als in vielen liberal-demokratischen Ländern.«
Die Legitimation beruht »vor allem auf der Konsultation, der Befragung, den intensiven Rückkopplungsschleifen bei wichtigen Vorhaben entsprechend der »Massenlinie«. Zugleich kommt der Legitimation durch Leistung der Behörden, durch Vorhaben, die auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger und auf nationale Interessen gerichtet sind, besondere Bedeutung zu.«
Gegen die Logik der totalen Konfrontation
Chinas geopolitische Lage ist einzigartig. Es hat mehr Nachbarn als jedes andere Land der Erde: Auf dem Lande hat China Grenzen mit 14 Staaten, zur See mit acht Ländern. »Die Blockade seiner Seewege stellt die größte sicherheitspolitische Gefahr für China dar. Die der Küste Chinas vorgelagerten Inselketten verfügen über große US-Militärstützpunkte – beginnend bei Japan und Südkorea und weit in den Süden und Osten. [...] Die Gründung der Militärallianz AUKUS durch die USA, Großbritannien und Australien im September 2021 wird von China als direkte Bedrohung g sehen. In der gleichen Zeit verkündet auch die NATO, ihre eigenen Ziele mit denen der USA und ihrer Verbündeten im Pazifik zu koordinieren.«
Aber regionale Sicherheit entsteht nicht durch Ausweitung von Militärbündnissen, sondern durch eine gemeinsame nachhaltige Sicherheitsarchitektur. Doch leider: »Der Blick der USA und der Europäischen Union auf China und die gesamte nichtwestliche Welt ist derart dogmatisch liberal verengt, dass er jedes Maß verloren hat. [...] Werden die Differenzen als Teil einer Konfrontation von Feinden gesehen, erscheint jeder Erfolg der einen Seite als Niederlage der anderen.«
So bleibt zum Schluss dieses interessanten zum Nachdenken anregende Buchs der Hinweis auf die Ringparabel von Lessing: »Jeder mag davon überzeugt sein, dem richtigen Gott, der richtigen Idee, dem richtigen Modell zu folgen. Beweisen lässt sich dies nur durch die eigene Praxis.«
PROF. DR. MICHAEL BRIE ist Sozialwissenschaftler, war Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg- Stiftung. Chinas Sozialismus neu entdecken. Ein hellblaues Bändchen jenseits der Froschperspektive auf ein spannendes Experiment. VSA: Verlag Hamburg2023
Gratis PDF-Download hier: https://www.rosalux.de/publikation/id/50696/chinas-sozialismus-neu-entdecken