(Dis)harmonische Reflexionen von Klemens Herzog und Leonore Beranek
An einer verglasten Fassade eines Hochhauses in der Wiener Leopoldstadt prangt in großen gelben Lettern der Schriftzug »EVERYBODY SHOULD LIKE EVERYBODY«. Jeder soll jeden mögen. Tausende Menschen passieren jeden Tag diese Botschaft. Und dennoch leben wir in einer Gesellschaft voller Abneigung, Missgunst und Gewalt. Bemerkenswert, oder? Wo wir doch von klein auf zu hören bekommen: »seids lieb zueinander«. Die (groß-)elterliche Spielart eines Verses aus dem Johannes-Evangelium: »An eurer Liebe zueinander wird jeder erkennen, dass ihr meine Jünger seid.«
Das erinnert mich an jene Zeit, als ich noch gebetet habe. Das war so Mitte der Neunziger und ich ein Kind. Jeden Sonntag war ich mit in der Kirche. Wie das mit dem Beten geht, war mir also bekannt: Den lieben Gott anrufen. Dabei die Hände zusammen. Und ihn um etwas bitten. Eine andere Routine in meiner Familie war die Zeit im Bild. Die lief jeden Abend, Josef Broukal hat moderiert. Damals wie heute waren die Nachrichten nicht immer schön anzusehen. Vor allem für ein Kind. Wenn es besonders schlimm war, dann habe ich im Dunkeln, beim Einschlafen, gebetet. Für den Frieden, dass es keinen Krieg gibt, dass niemand hungern muss. Dass alle alle mögen. Und niemandem etwas zu Leide getan wird. Das habe ich mir wirklich gewünscht.
Jahre später erscheint vieles in einem anderen Licht. Und dennoch ist der kindlich anmutende Wunsch einer allumfassenden Harmonie und Friedfertigkeit, der sich in diesem »everybody should like everybody« widerspiegelt, immer noch verlockend. Zumindest als flüchtiger Gedanke, der die Fassungslosigkeit umkreist, wenn Raketen auf Spielplätzen einschlagen, beim Anblick von Bildern frischer Gräber auf den Soldatenfriedhöfen dies- und jenseits der Front, oder wenn ich vom so und so vielten Femizid in diesem Jahr lese.
»Everybody should like everybody«, für mich: ein markiger Spruch unbekannter Herkunft mit harmonischer Assoziation, an einer Hauswand, am Weg in den Kindergarten meiner Tochter. Für Kenner:innen der Popkultur ein Zitat von Andy Warhol. Mich führte erst eine Google-Suche zum Urheber. Diese spuckt zunächst eine schier endlose Aneinanderreihung inspirierender Bildchen und Abdrucke mit dem Zitat aus. Unter all dem Kram, den die Suchmaschine hervorbringt, befindet sich aber auch eine wahre Perle. Ein Artikel der amerikanischen Kulturwissenschaftlerin Jennifer Sichel. Sie beleuchtet die weitgehend unbekannte Geschichte hinter dem oft isoliert dargestellten Warhol-Zitat. Ihren Ursprung haben die Worte laut Sichel in einem Gespräch zwischen Warhol und dem Kunstkritiker Gene Swenson, das 1963 im Magazin Art News veröffentlicht wurde. Eine erst 2016 von Sichel gefundene Tonbandaufnahme offenbart jedoch erhebliche Unterschiede zwischen dem geführten und dem veröffentlichten, mutmaßlich von den Herausgebern zensierten, Interview.
So lag ein Hauptaugenmerk des über eineinhalb Stunden geführten Gesprächs auf der Beziehung der Pop-Art Bewegung zur Homosexualität. Im veröffentlichten Interview wurden alle Passagen, die das Thema Sex und Homosexualität ansprachen, gestrichen. So sollen laut Sichel auch die Worte »Well, I think everybody should like everybody« in einem gänzlich anderen Kontext als schlussendlich veröffentlicht gefallen sein. Und zwar wie folgt:
Warhol: Well, I think everybody should like everybody.
Swenson: You mean you should like both men and women?
Warhol: Yeah.
Swenson: Yeah? Sexually and in every other way?
Warhol: Yeah.
Swenson: And that’s what Pop art’s about?
Warhol: Yeah, it’s liking things.
Durch die ursprüngliche Zensur und wohl auch andere Einflüsse wandelte sich die queere Provokation in ein lebensfrohes Mantra zum Aufhängen an Klo-, Küchen- oder Wohnungstür. Wer sich mit Klein-Klein nicht zufrieden gibt, pflastert es weithin sichtbar an eine Hauswand. Oder widmet dem Zitat zwei Seiten in einem der besten Polit-Magazine dieses Landes. Das ist nämlich das Schöne an diesen Allerweltssprüchen: dass wir sie drehen und wenden und lustvoll über sie nachdenken und diskutieren können.
»Everybody should like everybody«, der erste Reflex: nein, ich will nicht alle mögen, ich will mich deutlich und laut abgrenzen können, Differenzen benennen und ja, auch bestimmte »everybodys« ablehnen dürfen. Ich war noch nie eine überzeugte Anhängerin davon, die Leute dort abzuholen, wo sie stehen und auf ihre Ängste einzugehen, wenn sie in einem rechten, diskriminierenden, rassistischen, antifeministischen Schwall, laut und leise, offen und verdeckt, daherkommen. Nun könnte eingewendet werden, wenn eben alle alle mögen, dann gibt es diese Abgrenzungsnotwendigkeiten nicht mehr, denn – wenn wirklich zu Ende gedacht – dann ist Diskriminierung, Rassismus, Antifeminismus und vieles mehr ja obsolet. Und das ist eine Botschaft, möglicherweise die eigentliche Aussage. Für die einen vielleicht eine Utopie, für die anderen ein nichterreichbares, mal mehr, mal weniger angestrebtes Ziel.
Die Liebe und Lust an der politischen Auseinandersetzung, die es braucht, um Dranzubleiben, entsteht wohl in erster Linie nicht aus dem Wunsch nach Harmonie. Widerspruch und Veränderung, Kampf und Gestaltung sind Begriffe, die für mich näher liegen. Und ein aus der Mode gekommener, manchmal leicht belächelter Ansatz: Solidarität. Kommt etwas abgeschmackt daher, irgendwie überlebt. Insbesondere in der Gewerkschaft scheint es eine Hülle ohne Inhalt, ein Anstreifen an linke »Gesinnung«, herausgeholt zum jährlichen Aufmarsch. Sie wieder mit Inhalt zu füllen, ist ein dringendes Bedürfnis, zumindest von mir. In einem kompetitiven Kapitalismus, der auf ein stetiges »Schneller, Weiter, Höher« für wenige ausgerichtet ist, mit den Vielen, die versuchen hinterherzukommen, muss diese Hülle wohl weitgehend leer bleiben. Aber hier ist die Differenz zu »everybody should like everybody«. Denn »mögen« ist keine politische Kategorie, sondern ein Gefühl. Solidarität hingegen ist ein Konzept, mit vielen verschiedenen Ausformungen, aber im Kern antikapitalistisch und grundlegend für eine Gesellschaft, in der ich leben will. Hoffentlich verkommt sie nicht gänzlich zur Utopie.