Für eine Politik der Zärtlichkeit Ölgemälde Franz Braun

Für eine Politik der Zärtlichkeit

von

Danai Koltsida plädiert für einen Politikansatz der Menschlichkeit und der Gefühle

»Ruf mich an, wenn du ankommst.« Dies sind die Worte einer Mutter, kurz bevor wir die Haustür hinter uns schließen. Es ist die Botschaft der besten Freundin, wenn wir uns nach einer Nacht trennen. Seit jener schrecklichen Nacht des 28. Februar, als sich das katastrophale Zugunglück im griechischen Tembi ereignete, sind sie zu einem wichtigen Slogan geworden. Sie sind auf Straßen und Mauern zu lesen, wurden auf selbstgebastelte Plakate geschrieben, wurden zu Aufklebern an Schultaschen und auf Schulhöfen angebracht. Ein so einfacher und vertrauter Satz wurde zum mächtigsten Slogan, zum Motto eines der Höhepunkte der sozialen Mobilisierung der letzten Jahre in Griechenland, die sich dadurch auszeichnet, dass überwiegend junge Menschen daran teilnehmen.

Wie konnte ein Satz, der voller Sorge und Zärtlichkeit ist, aber keine Klage, keine Forderung, kein Versprechen, keine Analyse enthält, so prägnant und besser als jeder andere ausdrücken, was so viele Menschen, die die Straßen und Plätze füllen, fühlen? Und, was noch wichtiger ist, ist es eine Ausnahme? War es die Art des Ereignisses – der tragische Unfall in Tempi –, die dem öffentlichen Raum und dem politischen Diskurs so entscheidend Emotionen aufzwang?

Das »Zeitalter des Geschlagenwerdens«

Der öffentliche Diskurs ist voll von Verweisen aufeinander folgende Krisen, Polykrisen, Permakrisen: Der Begriff »Krise« wird in allen möglichen Kombinationen verwendet. Unbestreitbar ist, dass der Alltag der »einfachen Leute« immer komplexer und schwieriger wird, unabhängig davon, wie jede:r Einzelne, jede politische Perspektive oder Richtung die aktuelle Situation analysiert.

Wenn die neue Generation die »geschlagene Generation« ist, die sich von den wiederholten Schlägen nicht mehr erholen kann, dann ist unsere Zeit analog dazu für alle, ob jung oder alt, das Zeitalter konstanter Schwierigkeiten, das »Zeitalter des Geschlagenwerdens«. Jeden Tag werden wir geschlagen. Meistens im übertragenen Sinne, manchmal buchstäblich.

Wir leben in kleinen, unzureichenden und dennoch sehr teuren Wohnungen, in heruntergekommenen Vierteln, mit verfallender – und manchmal gefährlicher – Infrastruktur. Wir arbeiten zu viel, bekommen wenig Lohn, unsere Freizeit wird immer knapper, Unsicherheit ist die Norm. Was ist, wenn wir krank werden, wer kümmert sich um unsere alten Eltern, wer kümmert sich um unsere Kinder – falls wir uns entscheiden welche zu bekommen – während der endlosen Stunden, die wir arbeiten.

Das Geschlagenwerden, hinterlässt eine Spur. In unserem persönlichen Leben, in unserer geistigen und körperlichen Gesundheit und in jede:r:m einzelnen von uns, in unserem kollektiven sozialen Körper. Und das alles noch ohne auf das »große Ganze« einzugehen, ohne an Krieg, Klimakatastrophe, die nukleare Bedrohung zu denken – allesamt erschreckend präsent, auch wenn wir sie jeden Tag verdrängen. Ohne über die Qualität der Demokratie zu sprechen. Ohne sich die Mühe zu machen, über das noch kompliziertere und schwierigere Leben derjenigen zu sprechen, die wir gewöhnlich als »die andere Hälfte des Himmels« bezeichnen und die jeden Tag noch mehr Ungleichheit, Sexismus, geschlechtsspezifischer Gewalt und sexueller Ausbeutung erleben. Ohne über die »Anderen« zu sprechen, über das Leben von Migrant:innen, über Rassismus, ohne über Behinderung zu sprechen. Da steigt der Schwierigkeitsgrad exponentiell an. Und die Prügel werden immer wörtlicher. Immer körperlicher.

Die Politik der Zärtlichkeit

Die Generation Z erlebt das alles intensiv und universell, die heutige Jugend hat nie etwas anderes gekannt, nichts von dem, was unsere frühere »Normalität« ausmachte.

Diese Generation ist nicht nur oder nur die »Krisengeneration«. Es ist die Generation, die »Ich glaube dir, meine Schwester« zu ihrem Motto machte, als die #MeToo-Bewegung aufkam. Es ist die Generation, die sich massenhaft impfen ließ, auch wenn die Impfstoffe damals in Frage gestellt wurden, aus Sorge und aufrichtiger Liebe zu den Menschen in ihrer Umgebung, den älteren Menschen. Es ist die Generation, die in den vergangenen Jahren an vorderster Front die Solidarität mit Migrant:innen organisiert hat. Es ist die Generation, die über alle Erscheinungsformen sozialer Ungerechtigkeit aufgebracht und betrübt ist, und gleichzeitig ist es die Generation, die die Aussicht auf eine offene Gesellschaft mit mehr Rechten für alle massiv unterstützt.

Eines der Merkmale der Politisierung dieser Generation ist gerade ihre persönliche Dimension. Das Politische und das Persönliche gehen ineinander über, verflechten sich und befruchten sich letztlich gegenseitig auf kreative Weise. Es ist das, was hier als »Politik der Zärtlichkeit« bezeichnet werden soll. Es ist die Antwort von »unten« auf die Schläge, die sie in jedem Aspekt ihres Lebens einstecken müssen. Es ist die Weigerung, so zu werden wie die da »oben«, die für die Schläge verantwortlich sind – seien es Politiker:innen, Chef:innen, ein sexistischer Nachbar, eine homophobe Kollegin oder ein missbrauchender Partner in ihrem Leben. Die Politik der Zärtlichkeit ist ihr praktisches Gegenstück.

Sie ist auf die Menschen und ihre Welt zugeschnitten, auf ihre Bedürfnisse und ihr Potenzial und auf alles, was sie auszeichnet, auch wenn es von der traditionellen Mainstream-Politik ausgeklammert wird.

Eine Ökonomie der menschlichen Bedürfnisse oder »Glück in der Wirtschaft«

Wenn die Pandemie etwas gebracht hat, dann ist es eine Überprüfung dessen, was für unser Leben, individuell und kollektiv, notwendig und wichtig ist. Die Debatte über die Ökonomie der Fürsorge – die formelle und informelle Ökonomie im Sinne von bezahlter oder unbezahlter Arbeit, die hauptsächlich von Frauen geleistet wird und sich auf die Bereiche Gesundheit, Kinderbetreuung, Sorge für ältere Menschen usw. bezieht. Sie wurde bis vor kurzem vor allem in der zeitgenössischen feministischen Bewegung geführt und ist nun zu einem zentralen Thema geworden. Auch die Bewertung der Berufe im Hinblick auf ihren gesellschaftlichen Nutzen und damit die symbolische und materielle Anerkennung, die sie verdienen, wurde – wenn auch nur vorübergehend – neu überdacht.

Dies ist eine Wirtschaftsdebatte, die sich von den »harten« makroökonomischen und fiskalischen Indikatoren entfernt, die den vorherrschenden Diskurs dominieren, die aber auch wirtschaftliche Argumente nicht außer Acht lässt, und die auf vielen Ebenen transformativ sein kann. Es ist ein wirtschaftlicher Ansatz, der dem »Zeitalter des Geschlagenwerdens« ein Ende setzen und die sozialen Wunden, die es aufgerissen hat, versorgen kann. Ein Ansatz, der die Marktkräfte oder den technischen Fortschritt den menschlichen Bedürfnissen unterordnen kann. Es ist schließlich eine Diskussion über die Wirtschaft, die den Parameter Glück einführt.

Emotionen in der Politik

Diese Herangehensweise an die Politik zeichnet sich durch eine persönliche Dimension aus, die Erkenntnis, dass in der Politik Platz für Emotionen ist.

Natürlich sind Emotionen in der Politik auch heute nicht nur nicht abwesend, sondern sie sind ein zentrales Element der Politik. Wir wissen viel über die Beziehung zwischen Emotionen und politischem/elektoralem Verhalten: Angst, Wut, Traurigkeit, Hoffnung – fast jede menschliche Reaktion auf äußere Reize hat eine politische Komponente. Der politische Diskurs, die politische Kommunikation, die Kampagnen sind darauf ausgerichtet, Emotionen anzusprechen oder gar hervorzurufen.

Offiziell wird Politik jedoch – vor allem in ihrer institutionalisierten Form – als rationaler Entscheidungsprozess dargestellt, der frei von Emotionen ist. Das entsprechende Politiker:innen-Modell kann seine Gefühle beiseiteschieben und denkt »rational«. Gleichzeitig sind die Politiker:innen fast gezwungen, ihre »menschliche Seite« in den sozialen Medien und in vermeintlich »tiefgehenden« Interviews öffentlich zu zeigen.

Macht diese Entfernung der Emotionen aus der Politik, diese nicht letztlich unmenschlicher? Könnte es nicht sein, dass Emotionen – vor allem in Zeiten, in denen sich die politischen Dilemmata verdichten und gravierender werden – als moralischer Kompass fungieren könnten?

Die Verbannung von Gefühlen aus der Politik hat im Kern etwas zutiefst Elitäres. Nach der vorherrschenden Logik sind Gefühle etwas für die Massen, für das Volk, das – dumm wie es ist – von Emotionen getrieben wird. Emotionen werden als etwas, das das Subjekt manipulierbar macht, denunziert. Es sind die menschlichen Emotionen und letztlich der »einfache Mensch« selbst, gegen den oft der Vorwurf des Populismus erhoben wird.

Eine Politik für alle

Da Emotionen als eine vorwiegend »weibliche« Eigenschaft gelten, ist ihre Eliminierung aus der Politik eine weitere Möglichkeit, die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts aufrechtzuerhalten.

Wenn wir heute noch an den Dreiklang demokratischer Politik glauben – durch das Volk, mit dem Volk und für das Volk –, müssen wir die Politik aus den Händen ihrer Profis zurückholen, derjenigen mit »starken Mägen«, die in der Lage sind, die selbstverständliche und unvermeidliche Härte der politischen Arena auszuhalten, und sie den »normalen«, »alltäglichen« Menschen zurückgeben. Denen, die weinen, die niedergeschlagen sind, die Fehler gemacht haben, die bereuen, die es nicht mehr aushalten.

Wir müssen Platz für die Menschen schaffen. Es sind die Mädchen und Jungen, die »Ruf mich an, wenn du ankommst« oder »Ich glaube dir, meine Schwester« rufen. Es sind nicht nur die Männer, die mit dem Selbstbewusstsein ihrer erlernten sozialen Rolle ihren Platz im öffentlichen Leben behaupten. Es sind auch diejenigen, die keine »Hosen anhaben«, die mit ihren Zweifeln und Unsicherheiten in den öffentlichen Diskurs treten. Sie sind nicht nur die leuchtenden Vorbilder der Jungen, Schönen, Gesunden und Erfolgreichen. Es sind auch Menschen, die Probleme haben, die Pech haben, Menschen, die am Leben zerbrochen sind. Für sie müssen wir Raum schaffen.

Nachtrag

Während der tragischen Stunden, in denen die Eltern der im Zug Verunglückten vor dem Krankenhaus in Larissa darauf warteten, das Schicksal ihrer Kinder zu erfahren, schickte mir meine beste Freundin eine Nachricht: »Ich wünschte, ich könnte dorthin gehen und sie alle einzeln in die Arme nehmen.« Letztendlich kann die Politik der Zärtlichkeit genau das sein: Eine kollektive Umarmung, die sich kümmert, tröstet, schützt, heilt, aber auch einschließt, jedem einzelnen von uns Vertrauen und Raum gibt.

Danai Koltsida ist Juristin, Politikwissenschafterin, Direktorin des Nikos-Poulantzas-Instituts, der Stiftung von Syriza in Griechenland und Vizepräsidentin des europäischen Netzwerks und der Stiftung der Europäischen Linkspartei transform! europe.

Zuerst auf Griechisch in der Zeitschrift Epohi.gr erschienen. Dies ist eine gekürzte Version.

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