Armut macht unglaublich erpressbar ILLUSTRATION: JAMIE WOITYNEK
11 April

Armut macht unglaublich erpressbar

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Armut trotz Arbeit ergibt sich aus den verbreiteten Niedriglöhnen – mehr als jede fünfte Frau und mehr als jede fünfte im Ausland geborene Person sind davon betroffen – und aus den häufig unterbrochenen Beschäftigungen.

Von Jörg Flecker

In einem Interview für ein soziologisches Forschungsprojekt brachte eine befragte Person ihre prekäre Lebenslage so auf den Punkt: »Armut macht unglaublich erpressbar«. Sie hat damit den Mangel an Wahlmöglichkeiten angesprochen und die Notwendigkeit, niedrig bezahlte und ungesunde Arbeit hinnehmen zu müssen. Karl Marx hat diesen »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« als Mittel der Unterwerfung der entstehenden Arbeiterklasse unter die menschenverachtenden Bedingungen der kapitalistischen Lohnarbeit im 19. Jahrhundert beschrieben. Im 21. Jahrhundert erleben viele auch in der Mitte Europas diesen stummen Zwang nach wie vor – oder wieder.

Das hat mit der Ausbreitung von Niedriglohnbereichen und unsicherer Beschäftigung zu tun, die oft als Prekarisierung beschrieben worden ist. Erwerbsarbeit bedeutet auch in Vollzeit nämlich bei weitem nicht für alle, dass sie ihre Lebenskosten decken könnten und ihre Zukunft planbar wäre. Im Gegenteil: Armut trotz Arbeit und häufiger Jobverlust mit Perioden der Erwerbsarbeitslosigkeit sind für hundert-tausende Arbeitende in Österreich bittere Realität. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat diese Prekarität in einer seiner gesellschaftspolitischen Interventionen als Herrschaftsform bezeichnet. Damit hat er gemeint, dass die Unternehmen auf der einen Seite niedrige Bezahlung und Unsicherheit durchsetzen, die ihnen auf der anderen Seite die Arbeitenden gefügig machen. Das kann eine nicht bedachte Nebenfolge ungünstiger Arbeitsbedingungen sein. In einzelnen Bereichen des Arbeitsmarktes ist darin aber eine Strategie einzelner Unternehmen zu erkennen: Migrant*innen ohne viel Wahlmöglichkeit auf dem Arbeitsmarkt werden Teile des ohnehin niedrigen Lohnes vorenthalten, sie verlieren die Jobs, sobald man sie nicht mehr braucht, können sich aber auch nicht wehren, weil sie hoffen müssen, später wieder eingestellt zu werden. Es fehlt ihnen an Absicherung, Alternativen und Angespartem, um zu ihrem Recht zu kommen.

Armut trotz Arbeit ergibt sich aus den verbreiteten Niedriglöhnen – mehr als jede fünfte Frau und mehr als jede fünfte im Ausland geborene Person sind davon betroffen – und aus den häufig unterbrochenen Beschäftigungen. Die Kombination der beiden Aspekte führt zu Lebenslagen, die für die Betroffenen zum Verzweifeln sind. Verschärft kann die Situation dadurch werden, dass mangels regulärer Anstellung keine oder nicht ausreichende Ansprüche an die Sozialversicherungen entstanden sind. Dass Teile der Wirtschaft auf Armutslöhne und unsichere Beschäftigung setzen, passt so gar nicht in das Bild, das man sich von Österreich mit seiner hochentwickelten, international wettbewerbsfähigen Wirtschaft und seinem ausgebauten Sozialstaat macht. Aber es gibt diese Prekarität in mehreren Branchen, wie der Gastronomie, den Paketdienstleistungen, der Landwirtschaft oder am Bau. Die Konkurrenz zwischen den Betrieben – eher innerhalb Österreichs als aufgrund der Globalisierung – wird über den Preis und über die Löhne ausgetragen. Neben der Lohnhöhe ist die »flexible« Beschäftigung, also die auch kurzfristige Anpassung der Zahl der Beschäftigten und der Dauer einzelner Jobs an den Arbeitsanfall im Betrieb, dabei ein wichtiges Mittel. Sie wird über Leiharbeit, die in Österreich immer stärker zunimmt, oder kurzfristige Anstellungen erreicht. Aber auch mit Scheinselbständigkeit, wie sie in der Paket- oder Essenszustellung, in der sogenannten Gig-Economy und darüber hinaus bereits vorherrscht.

Sozialpartnerschaftliches Umfeld

Aber warum fällt es so wenig auf, wie sehr die Beschäftigungsbedingungen auseinanderklaffen? Wie konnten sich diese Zustände in einem sozialpartnerschaftlichen Umfeld etablieren? Und wie können sie sich halten, wenn doch in der Bevölkerung die Einstellung vorherrscht, dass die, die (erwerbs-)arbeiten, sich ein »normales« Leben leisten können sollen? Ein Grund ist offensichtlich: Die nach wie vor niedrigere Bezahlung von Frauen, wodurch in Frauenarbeitsbereichen oft Niedriglöhne vorherrschen. Ein weiterer Grund scheint mir die angesprochene Fragmentierung der Beschäftigung zu sein, also die Vervielfachung von Beschäftigungsformen – vom Normalarbeitsverhältnis über befristete Jobs und Leiharbeit bis zu Scheinselbständigkeit. Oft haben Personen, die in einem Betrieb zusammenarbeiten, nicht nur unterschiedliche Bedingungen und Rechte, sondern auch verschiedene Arbeitgeber*innen. Arbeitende gehören in unterschiedlichem Ausmaß »dazu«, wodurch es naheliegend erscheint, dass sie nicht die gleichen Ansprüche haben. Ein dritter, möglicherweise wichtigerer Grund liegt wohl darin, dass im Alltag symbolische Grenzen zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen und Arbeitenden nach Kriterien der geografischen Herkunft, der Sprache, der Religion, der Hautfarbe etc. gezogen werden. Man nimmt nicht nur Unterschiede wahr, sondern knüpft an relativ beliebige, hervorgehobene Merkmale auch Unterschiede im Wert, den man den Menschen zuspricht.

Bereits der Blick des Bürgertums auf die Arbeitenden war immer schon mit einer solchen Abwertung verbunden, indem angenommen und manchmal nur zu deutlich ausgesprochen wird, dass die harte Arbeit und das oft entbehrungsreiche Leben »diesen Leuten« ja weniger ausmacht, weil sie weniger Feingefühl hätten und einen anderen Lebensstil pflegten. Diese Missachtung wird nun durch die zusätzliche Grenzziehung gegenüber den Migrantinnen und Migranten verschärft. Dazu kommt die Haltung, die aus der Ideologie der individualisierten Leistungsgesellschaft abgeleitet ist: »Das wird für die schon passen, sonst würden sie es nicht tun.« Und dass sich viele Leute in prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen fügen, scheint dies noch zu bestätigen. Der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse bleibt ausgeblendet, der Herrschaftscharakter kommt dann gar nicht in den Sinn.

Jörg Flecker ist Professor für Soziologie an der Universität Wien und Mitbegründer von FORBA – Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt.

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