Vorrang für die gute Geschichte FOTO CHRISTOPHER MAVRIC

Vorrang für die gute Geschichte

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Volksstimme-Redakteurin Helga Wolfgruber spricht mit Verlagsleiterin Hildegard Gärtner darüber, was es in der heutigen Zeit bedeutet, Sehnsüchte zu wecken und Geschichten für Kinder zu erzählen

Du bist seit 30 Jahren Leiterin des Kinder- und Jugendbuchverlages »Jungbrunnen«. Was hat dich motiviert, dein Arbeitsleben einer vergleichsweise weniger be- und geachteten Literatur­form zu widmen?

HILDEGARD GÄRTNER: Wenn man in der Gesellschaft etwas bewegen oder »Sehn­sucht erwecken« möchte, muss man – so finde ich – bei den Kindern ansetzen. Mir war es immer wichtig, dass man Kindern in Bezug auf Literatur das Gleiche zugesteht wie Erwachsenen: Dass wir ihnen Qualität und Innovatives in Text und Bild zur Verfü­gung stellen sowie eine Bandbreite an unterschiedlichen Genres, und dass nicht der erhobene Zeigefinger oder der pädago­gische Impetus Vorrang vor einer guten Geschichte haben. Viele Menschen stecken Kinderliteratur in die Schublade rein »edu­kativ«, dagegen habe ich mich mein ganzes Berufsleben lang gewehrt, weil ich das als respektlose Haltung Kindern gegenüber empfinde.

Ein weiterer Aspekt für mich war, dass ich gerade die Konzeption und Produktion von Bilderbüchern sehr spannend finde – das Zusammenfügen von Texten und Bil­dern zu einem stimmigen Buch ist eine Herausforderung.

Welche Bedeutung haben Lesen und Vor­lesen für die kindliche Entwicklung und für Lese- und Lebensgewohnheiten im Erwachsenenalter?

HILDEGARD GÄRTNER: Einer Studie zur Lesesozialisation von Kindern in der Fami­lie kann man entnehmen, dass jeder zweite befragte Elternteil in Deutschland meint, man könne den Zugang zum Lesen oder die Lesemotivation nicht verändern. Ein Drittel behauptet, Lesefreude sei angeboren. Die Forschungsergebnisse von Gerald Hüther, Hirnforscher, zeichnen einen anderen Befund: Vieles wird in unseren ersten Lebensjahren angelegt. Kognitionsfor­scher*innen haben herausgefunden, dass Kinderhirne weitaus formbarer sind als bis­her angenommen. Die Zahl der Nervenzell­kontakte ist bis zum sechsten Lebensjahr so groß wie nie wieder im späteren Leben. Davon bleiben all jene Verbindungen erhal­ten, die durch individuelle Erfahrungen intensiv genutzt werden, nicht benutzte verkümmern. Kinder sollten daher in ihren ersten Lebensjahren möglichst viele Erfah­rungsräume zur Verfügung haben, um auch unterschiedliche Wahrnehmungen machen zu können.

Alles, was mit Begeisterung erlernt wird, wird besser im Gehirn verankert als lustlos auswendig gelerntes Wissen. Das trifft auch auf das Lesen zu: Es sollte ein bewusst freu­diges Erlebnis sein, der Fantasie freien Raum geben und nicht als Pflicht vermittelt werden. Für Eltern und Menschen, die Kin­der begleiten, heißt das einerseits, den Kin­dern zu zeigen, welche Freude sie selbst am Lesen haben, andererseits sollten sie Vor­lese- und Lesesituationen schaffen, die in den Kindern Sehnsucht nach Wiederholung wecken. Es verwundert nicht, dass Men­schen, denen in der Kindheit vorgelesen wurde, signifikant häufiger eine enge Beziehung zum Lesen entwickeln als Perso­nen, denen selten oder nie vorgelesen wurde.

Studien belegen außerdem Auswirkun­gen des Lesens auf das Sozialverhalten: So legen z. B. Menschen mit einer Vorliebe für Belletristik ein deutlich positiveres Sozial­verhalten an den Tag, und Liebhaber*innen experimenteller Bücher zeigen größere Fähigkeit, Dinge aus verschiedenen Per­spektiven zu betrachten. Belletristik stärkt außerdem Fantasie, Vorstellungskraft und Abstraktionsvermögen.

Welche Kriterien machen für dich ein Kinder- oder Jugendbuch zu einem guten und gelungenen?

HILDEGARD GÄRTNER: Nachdem die Ter­mini »Kinderbuch« und »Jugendbuch« nur auf das Alter der Zielgruppe abzielen, müsste man die einzelnen Genres unabhän­gig voneinander betrachten. Ich greife daher als ein Beispiel das Bilderbuch heraus: Gelungen ist für mich ein Bilder­buch, wenn der Text ein Thema, das Kin­dern nahe und zugänglich ist, in einer sehr komprimierten Form und einer kinderadä­quaten literarischen Sprache aufgreift. Also mit einer geringen Zahl an Wörtern eine aussagekräftige Geschichte erzählt wird. Künstlerische Bilder dazu sollten eine eigene, ergänzende Geschichte erzählen und nicht nur das abbilden, was im Text ohnehin schon gesagt wird. Und ein guter Text kann neugierig machen auf mehr – mehr zu erfahren, mehr zu wissen, mehr Fremdes zu Bekanntem werden lassen. Er kann zu Fra­gen anregen und Sehnsucht erwecken, über das eigene Leben hinauszudenken.

Läuft das Medium Kinderbuch Gefahr, in den Schatten der Digitalisierung des Lesens zu geraten und wie reagiert der Verlag darauf?

HILDEGARD GÄRTNER: Ich sehe die Gefahr eher darin, dass Menschen nur begrenzte Zeit zur Verfügung steht und digitale Medien einen großen Anteil dieser Zeit einnehmen. Man muss also bewusst Zeiträume für andere mediale Formen wie z. B. das Lesen einplanen, das gilt aber für Kinder und für Erwachsene gleichermaßen. In welcher Form gelesen wird, ob digital oder analog, ist dabei sekundär. Nebenbei bemerkt, spielt das digitale Lesen von Büchern im Kinderbuch bisher wenig Rolle.

Die 70er Jahre haben an das Kinderbuch spezielle Anforderungen gestellt. Der päda­gogische Zeigefinger sollte ersetzt werden durch den Anspruch, politische (ideologi­sche) Inhalte auch schon im Bilderbuch zu vermitteln. Ist das Christine Nöstlinger mit ihren Texten nahe an der Lebenswelt der Kinder – vorwiegend der benachteiligten – gelungen?

HILDEGARD GÄRTNER: Ja, ich glaube, ihr ist es gelungen, eine politische Grundhaltung – ohne Kinder ideologisch indoktrinieren zu wollen – in ihren Texten auszudrücken. Sie ist immer nahe an der Lebenswelt der Kinder geblieben. Das fördert die Möglichkeit zur Identifikation mit Figuren des Buches. Bei die­ser Fragestellung wäre aber noch zu diskutie­ren, was genau als »politischer Inhalt« ver­standen wird. Es ist ja kaum eine Haltung unpolitisch.

Wie geht der Verlag mit der oftmals gestellten Forderung nach »political cor­rectness« um?

HILDEGARD GÄRTNER: In noch unveröf­fentlichten Texten hinterfragen wir im Lekto­rat Aussagen, die diskriminierend oder verlet­zend sein könnten und klären mit den Autor*innen, welche literarische Funktion eine Aussage im speziellen Fall hat. Falls keine, werden die Autor*innen gebeten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu ändern. Bei bereits veröffentlichten Texten überlassen wir Autor*innen die Entscheidung, ob sie bei einer Neuauflage Texte ändern wollen oder nicht. Bei verstorbenen Autor*innen passen wir nicht an die aktuell geforderten Normen der political correctness an, das wäre für mich ein unzulässiger Eingriff. Wir können aber in einer Fußnote erklären, dass es sich um ein historisches Buch han­delt und sich Bezeichnungen und Bilder seit der Erstveröffentlichung verändert haben. Oder wir entscheiden, dass ein Buch nicht mehr auf dem Markt sein kann, weil der Erklärungsbedarf zu groß wäre. Inte­ressant finde ich, dass der Ruf nach einem Eingreifen in Texte oder Bilder immer bei der Kinderliteratur laut wird. Das zeigt, wie sehr Kinderliteratur als »Erziehungsmittel« betrachtet wird.

Welche Funktion kann in einer so verän­derten Welt das Märchen heute noch haben?

HILDEGARD GÄRTNER: Märchen können Kinder mit Themen, Figuren, Handlungs­weisen und Problemlösungen in Kontakt bringen, sie können Bezüge herstellen zu inneren Konflikten, denen sich Kinder aus­gesetzt fühlen. In ihrer archetypischen Dar­stellung können Märcheninhalte dazu bei­tragen, die Gefühle von Kindern zu ordnen. Natürlich sind die Probleme, die in Mär­chen aufgegriffen werden, nicht die glei­chen, wie sie Kinder heute haben. Kinder können aber trotzdem anhand von Mär­chen Charaktereigenschaften und Problem­lösestrategien verstehen und einordnen lernen.

Aber Märchen haben die Tendenz, die Welt polarisierend in schwarz/weiß, gut/böse darzustellen. Fördert das nicht das Entstehen von Stereotypen, gerade bei Kindern?

HILDEGARD GÄRTNER: Ja, aber ich glaube, dass diese Stereotype hilfreich sind, um vor­erst einmal Ordnung in die kindliche Gedan­kenwelt zu bringen. Natürlich muss als nächster Schritt eine Differenzierung statt­finden, damit sich Stereotype nicht verfesti­gen. Hilfreich dabei wäre, Märchen als Einla­dung zur Interaktion und Diskussion mit Kindern zu sehen.

Erinnerst du dich an ein Lieblingsbuch deiner Kindheit?

HILDEGARD GÄRTNER: Ja, ich habe »Titi im Urwald« von Mira Lobe und Susi Weigel geliebt. Die Darstellung des Lebens von Schwarzen in Afrika würde heute als poli­tisch völlig inkorrekt eingestuft werden. Mich hat zwar damals das Exotische auch fasziniert, viel mehr noch die Geschichte. In der übernimmt ein Mädchen die Führung einer Gruppe von einem Buben. Das passt dem gar nicht und er läuft in den Urwald, wo er feststellt, dass er allein ziemlich verloren ist. Am Ende wird er gefunden und zurückge­bracht. Ab da ist er kooperativ und fügt sich in die Gruppe ein, aus der er sich selbst aus­geschlossen hat. Für mich ist das einer der ersten feministischen Texte für Kinder.

Ein anderes Buch von Lobe/Weigel »Das kleine Ich bin ich« hat den Weg in fast alle Kinderzimmer geschafft. Vielleicht kau­fen und schenken es Erwachsene so gerne, weil im Text jene Sehnsucht Lobes spür­bar ist, die Lesende auf Entdeckungsreise, sowohl ins Innere als auch ins Äußere, zu schicken? Oder weil Mira Lobe, die übri­gens bis 1956 Mitglied der Kommunisti­schen Partei war, in ihren vielen Texten unermüdlich die Frage stellt: Was ist Humanität, was bedeutet Solidarität und wie ist das mit der Identität?

HILDEGARD GÄRTNER: »Das kleine Ich bin ich« findet seine Identität durch die Interak­tion mit anderen. Es vergleicht sich und stellt fest, dass es mit vielen etwas gemein­sam hat, trotzdem aber nicht ganz gleich ist. Das führt zu der Erkenntnis der eigenen Ein­zigartigkeit und der jedes Wesens. Damit zielt Lobe aber nicht auf einen übersteiger­ten Individualismus ab – am Ende sagen alle Tiere zum Ich bin ich: »Du bist du«. Selbster­kenntnis ist also auch gebunden an die Aner­kennung durch Andere.

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Gelesen 3127 mal Letzte Änderung am Sonntag, 12 Dezember 2021 10:44
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