Emanzipation: die Unvollendete ILLUSTRATION: JAMIE WOITYNEK

Emanzipation: die Unvollendete

von

Nachdenken über Geschlechterverhältnisse, Selbstverständlichkeiten, Arbeitsteilung und die emotionale Last von Care-Arbeit.

Von Helga Wolfgruber

Beim Versuch, Welt und Zusammenleben besser zu verstehen, gesellschaftliche Phänomene zu erklären oder Diversitäten sichtbarer zu machen, haben sich in den letzten Jahren auch neue Begriffe in Sprache und Medienlandschaft eingenistet. Nicht immer zum besseren Text-Verständnis und oftmals durch moralisch überhöhte Anspruchshaltung an »die Anderen« eine Bestätigung dafür, was Sprache auch ist, schon immer war: Distinktionsmerkmal und Herrschaftsinstrument.

(K)ein neues Phänomen

Inmitten woker Anglizismen und getwitterter Kürzelsprache habe ich einen Begriff entdeckt, der mir ein Aha-Erlebnis beschert hat. Er bringt spezifische Lebenserfahrungen von Frauen oder »weiblich sozialisierten« Menschen auf den Punkt: Mental Load (mentale Belastung). In der Beschreibung des Phänomens fällt der Verweis auf ein geschichtlich Gewordenes durch Hervorhebung ökonomischer, patriarchaler Bedingungen auf. Das befriedigt den feministischen Teil meiner politischen Identität. Gleichzeitig bemerke ich, dass im linken Diskurs/in linker Politik eine Verschiebung der Protestenergie von der ökonomischen auf die Beziehungsebene stattfindet und der Individualisierung dieses gesellschaftlichen Konfliktes Vorschub leisten könnte. Eine Folge davon ist weiterhin eine stigmatisierende Pathologisierung bestimmter weiblicher Reaktionsweisen. Aus Xanthippen wurden Hexen, wurden Hysteriker*innen und heute haben mit Arbeit und Rolle überforderte Frauen zwar Verständnis für Mehrfachbelastungen zu erwarten aber keine feministischen Partner oder gar Chefs, die ihrerseits Verantwortung übernehmen. Wenn »alte Feministinnen« in Opferkonkurrenz mit der Queer Community treten, ist auch keine radikale Änderung der Verhältnisse zu erwarten.

 

Mental Load – die Last des Unbedankten

Ein langwährender Zustand, entstanden durch Arbeitsteilung der Geschlechter, verfestigt durch Rollenfixierungen, dienstbar gemacht für Kapitalinteressen und schändlich vergessen von marxistischen Theoretikern findet in dieser Bezeichnung Bedeutung und Öffentlichkeit. Es geht um die unterschätzten Folgen ungleich verteilter Lohn- und Reproduktionsarbeit.

Menschen, die unter diesen Verhältnissen leiden, werden sich in den traurig komischen Zeichnungen der Cartoonistin Emma wiedererkennen. Im Comic Mental Load zeigt sie auf, wann diese Pausenlosigkeit des vereinsamenden, unbedankten mentalen Arbeitens zu Beziehungskonflikten, zu Chaos im Kopf oder in die totale Erschöpfung und Krankheit führen kann – ähnlich dem Burn-Out-Syndrom. Aus Mental Load wird Mental Overload. Vor allem dann, wenn die Ausübung dieser Rolle von Widerständigkeit oder klassenspezifischen Erschwernissen (Armut oder Bildungsdefizite) begleitet ist. Die Pandemie hat die Folgen dieser ungleichen Lastverteilung noch deutlicher werden lassen.

Lost in Care?

Die Initiative »Equal Care Day« definiert den Begriff so: »Mental Load bezeichnet die Last der alltäglichen, unsichtbaren Verantwortung für das Organisieren von Haushalt und Familie im Privaten, das Koordinieren und Vermitteln in Teams im beruflichen Kontext sowie die Beziehungspflege und das Auffangen der Bedürfnisse und Befindlichkeiten aller Beteiligten in beiden Bereichen«. Dabei geht es nicht nur um die Verteilung einzelner Arbeiten, sondern um die Aufteilung von Verantwortung. Es sind nicht nur die konkreten To Do Listen, die Frauen in die »mentale Erschöpfung« treiben. Es ist vielmehr die niemals endende, unsichtbare, unbedankte, in der Selbstverständlichkeit verschwindende »mentale« Arbeit des Planens und Koordinierens. Das trifft in besonderer Weise für (meist heteronormative) Lebensgemeinschaften mit Kindern zu. Wenn eigene Bedürfnisse immer auf das Verlangen anderer abgestimmt werden müssen, der Tag in unzählige kleine fremdbestimmte Zeiteinheiten zersägt wird, begleiten nicht selten Überforderungs- und Entfremdungsgefühle den Weg durch die Sorgearbeit. Verloren geht auf diesem Weg auch befriedigendes Zusammenleben. Die erfahrene Familienanwältin Helene Klaar kennt die Gründe für die hohe Scheidungsrate: Frauen sind nicht mehr so abhängig und bereit, die von Partnern fehlende, verweigerte Übernahme von Verantwortung für die Organisation des familiären Alltags folgenlos hinzunehmen. Aber die Gefahr des Rückfalls in altbekannte Rollenmuster bleibt durch die Angst vor Verlusten (Liebe, Gebraucht-Werden, Angst vor Einsamkeit) eine konfliktanfällige Konstante.

Solidarität durch Literatur

Unverzichtbar beim Ringen um ein neues Rollenverständnis waren in den 70er-Jahren feministische Autorinnen, die durch Preisgabe persönlicher Lebens- und Leidenszustände auf »Zurichtungen« des Patriarchats hinwiesen und für dessen radikale Abdankung plädierten. Ein Absatz in Virginia Woolfs Roman Ein Zimmer für sich allein lässt sich bereits als ahnendes Wissen um einen Aspekt von Mental Load lesen: »Ich erzählte Ihnen im Verlauf dieses Vortrags, daß Shakespeare eine Schwester hatte; aber suchen Sie nicht nach ihr (...). Sie lebt in Ihnen und in mir und in vielen anderen Frauen, die heute abend nicht hier sind, weil sie das Geschirr abwaschen und die Kinder ins Bett bringen.«

Wenn Woolf über die Schwierigkeit des Eingeschlossen-Seins schreibt, meint sie damit wohl auch das Eingeschnürt-Sein in das einengende Korsett der Mann/Frau Binarität.

Den radikalen Ausbruch aus einer zerstörerischen Realität hat Marlen Haushofer Jahre später in Die Wand beschrieben. Nachdem ihre erwachsenen Söhne das Zuhause verlassen haben, findet sich die Protagonistin in einem Waldstück wieder: eingeschlossen von einer unsichtbaren Wand, ausgeschlossen von der Menschenwelt. Aber sie findet sich damit ab und letztlich auch zurecht. In der Stille des Waldes schöpft sie Kraft für den überlebenswichtigen Umgang mit Tieren und Pflanzen. Dieser »stille Wald« heißt heute für gestresste oder erschöpfte Frauen: Meditation, fernöstliche Körpertechnik oder Flucht zu Mother’s Little Helper.

Auch im Essay Still just writing spiegelt sich der unruhige Familienalltag der US-amerikanische Autorin Anne Tyler in der Sehnsucht ihrer Protagonistin wieder: nachts allein in einem Zimmer lesen/ schreiben zu können und von niemandem unterbrochen zu werden.

»Rolle« vorwärts

Die Familienrechtsreform der 70er-Jahre hat dem Druck der damaligen Frauenbewegung nachgegeben und den Mann als Oberhaupt vom Familienthron gestoßen, ihn bestimmter Rechte über Kinder und Ehefrau beraubt, Scheidung auch gegen seinen Einspruch möglich gemacht u. a. m. Trotz rechtlicher Gleichstellung ist eine gerechtere Aufteilung der Für-Einander-Sorge-Arbeit nicht erfolgt. Studien und Statistiken bestätigen, dass sich nach wie vor zwischen 70 und 80 Prozent der Frauen für das Funktionieren des »Privaten« verantwortlich fühlen.

Für Frauen, die den Sprung ins Erwerbsleben geschafft haben, bedeutete das, noch eine Rolle mehr zu übernehmen. Sie sind »Knetmasse« für Mann und Wirtschaft geblieben. Die Entlastungsbereitschaft von Männern ließ auf sich warten und erstreckt sich bis heute auf Hilfsarbeiten unter Anleitung einer Verantwortlichen. »Wie kann ich dir helfen« oder »Hättest du etwas gesagt, ich hätte es schon getan«, sind oft gehörte Angebote.

Hinter so einem Angebot offenbart sich auch das Selbstverständnis eines (sozialistischen!) Funktionärs des Politbüros der DDR, kurz vor der Wende: »Ja, wir nehmen schon mal ein Geschirrtuch zur Hand«. Diese Aussage lässt nicht einmal jene verbale Aufgeschlossenheit erkennen, die der Soziologe Ulrich Beck im linken Diskurs als Widerspruch zu weitgehender Verhaltens-starre vieler Männer beschreibt. Wenn es konkret wird, scheint das Private doch nicht so politisch zu sein – in keiner gesellschaftlichen Ideologie.

Sarah Speck hebt in ihrer Studie über linke, linksliberale Paarbeziehungen einen anderen Aspekt hervor: Sie attestiert den Paaren fehlende Wahrnehmung dieser Rollenungleichheit und permanente Selbstbelügung. Dieses Beziehungsmuster ist oft nur durch Verleugnung von Abhängigkeit oder Unterdrückung von Unzufriedenheit aufrecht zu erhalten, führt zu »dauergrollender Grundhaltung«, die nicht selten Wut und Hass in Rachegefühle verwandelt. Aus dem Geschlechterkrampf wird Geschlech-terkampf.

Los-Lösungen

Frauen mögen in Schrift und auch in bestimmten Positionen sichtbarer geworden sein, die Diversität sexueller Identitäten ist dabei ihren exotischen Charakter zu verlieren. Aber Tatsache bleibt, dass sich an den politischen, sozioökonomischen Verhältnissen nichts Grundlegendes geändert hat. Auch in der Hierarchisierung gesellschaftlicher Werte HERRscht Stillstand – wenn nicht sogar Rückschritt. Solange der Umbau gesellschaftlicher Strukturen an der Starre gewachsener, patriarchaler Systeme scheitert, wird auch das individuelle Zuhause eine ewige Baustelle bleiben, in der es sich Menschen kompromisshaft einrichten.

»Raus aus der Falle«

Mit dem gleichnamigen Buch der deutschen Autorin, Bloggerin und Kämpferin, Patrizia Cammarata findet der Begriff Mental Load Eingang in moderne Kommunikationskanäle und Wege für faire Verteilung von Sorgearbeit, Emotionen und Vermögen öffnen sich. Jüngere Menschen scheinen bereiter dazu zu sein. Es kostet aber auch sie Kraft und erfordert Mut, sich aus der Umklammerung von kulturell eingelernten, traditionellen Rollenmustern zu befreien und etwas Neues, Ungewisses zu wagen. Gegen den Main-Strich gebürstet zu leben, braucht Solidarität. Lassen wir uns von Rosa Luxemburg zu Bewegung (mental und leiblich) und zur Bewegung (feministischer, politischer Aktivität) ermutigen: sonst werden wir unsere Fesseln nicht spüren und für das Konservieren patriarchaler Strukturen mitverantwortlich sein. Nutzen wir unseren Ärger, bevor er, wie Audre Lorde befürchtet, unsere Visionen verzehrt.

Was muss sich ändern

Ohne Einsicht in eine radikale Lernbereitschaft und notwendige Einsicht in die Korrektur eingelernter, (gewaltbereiter) Identität konstruierender Umgangsweisen werden wir das »Diktat der zweigeteilten Konstrukte des westlichen Patriarchats« (Thürmer-Rohr) nicht abschaffen können. Verhältnisse ändern sich nicht ohne gleichzeitiger Verhaltensänderung. Das habe ich auf dem Weg durch meinen feministischen Alltag oft schmerzlich erfahren. Die Weitergabe von Rollenstereotypien und die damit verbundenen Gefühle werden früh verinnerlicht und erschweren späte Korrekturbemühungen. Daher sollten alle Erziehungs- und Bildungspläne von Rollenstereotypien befreit werden.

Die Entmythisierung der Mutterschaft würde Frauen vom Druck zu Perfektion und ständiger Verfügbarkeit befreien. Daher steht auch ein längst fälliger Paradigmenwechsel unserer Arbeitswelt an: Der Anbetung des Wettbewerbs und der selbstausbeutenden Wachstumsideologie muss als erster Schritt eine neue Zeitökonomie entgegengesetzt werden. Bedingungsloses Grundeinkommen und radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich schaffen erst die Voraussetzung für partner*innenschaftliche Teilung der Haus- und Sorgearbeiten. Die derzeit diskutierte Anhebung des Pensionsantrittsalters stünde lediglich im Interesse bestehender Konsum- und Marktlogik. Aber nicht im Interesse derer, die sich in sinnentleerten Bullshit-Jobs »verdinglichen« müssen und schon gar nicht zum Wohle jener ruhelosen Nomadinnen, die sich zwischen kraftraubenden Rollenvorgaben aufreiben oder sich davon emanzipieren müssen.

Erst wenn wir uns von der Heiligsprechung der (Lohn-)Arbeit verabschieden und wir uns ein »Recht auf Faulheit« nehmen, wie Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx empfiehlt, kommen wir der »Eroberung des Glücks«, von der Bertrand Russell schwärmt, einen Schritt näher.

Unter solch geänderten Lebensbedingungen wäre mir vor 50 Jahren eine Beschämungssituation erspart geblieben: auf die Frage einer Studentin, Mitstreiterin der Frauengruppe, was ich studiere oder arbeite, habe ich als junge, windelwaschende Mutter und kochende Hausfrau geantwortet: »… ich arbeite nicht.« Meine Antwort darauf würde heute anders lauten.

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Gelesen 2035 mal Letzte Änderung am Sonntag, 12 März 2023 14:51
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