HEIDE HAMMER im Gespräch mit SHERI AVRAHAM über das israelische politische System und »Mizrachi-Futurismus«, eine antirassistische und Trans-ethnizitäts-Position aus dem akademisch-künstlerischen Diskurs, die aber politisch wirksam werden will.
Am 9. April sind Parlamentswahlen in Israel. Worin liegen für Dich die deutlichsten Unterschiede in den politischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und Österreich?
SHERI AVRAHAM: Wenn ich in Österreich über die politische Situation in Israel spreche, muss ich immer weiter ausholen. Viele wähnen sich informiert, aber meist speist sich dieses Wissen aus kleinen Versatzstücken über die Shoah und der hiesigen Presseberichterstattung, das wird der Situation nicht gerecht. Die historische Linke – Havoda – war die dominante Partei von der Staatsgründung 1948 bis 1977. Ich möchte erwähnen, dass in diesen Jahren bestimmte Gemeinschaften systematisch diskriminiert und ausgebeutet wurden. Der erste, der viel über die Gleichberechtigung aller Staatsangehörigen gesprochen hat, war Menachem Begin. Er gründete 1977 eine neue Partei – den Likud. Diese Partei veränderte die gesellschaftspolitische Karte in Israel. Eine der wichtigsten Änderungen war eine neue sozialstaatliche Verteilungspolitik. Ich denke, dass das neue Format der neoliberalen populistischen Partei von Benjamin Netanyahu immer noch die Ressentiments der verschiedenen Minderheiten sammelt und dem Programm des Likud folgt, obwohl die derzeitige Partei weiterhin die weißen Privilegien für sich behält. Das historische Versprechen, Diskriminierungen entlang von Herkunftsregion und Hautfarbe zu beenden, wurde von der Koalition des Likud mit anderen – im israelischen Spektrum – rechtsgerichteten Parteien nicht eingelöst.
Ein Vergleich der letzten Wahlen in Europa mit den aktuellen israelischen Wahlen zeigt, dass es auch in Israel Radikalisierungstendenzen der Rechten und Rechtsextremen gibt. Einer der Hauptunterschiede in Israel besteht darin, dass auch die Opposition gegen diese extrem rechten Parteien ist und sich selbst in der Mitte der politischen Landschaft positioniert und nicht, wie in Europa rezipiert, links. Seit Oslo 1993 wurde das Wort »links« zu einem abwertenden Begriff und Yitzhak Rabin war der erste, der es als solches verwendete. 1992 beschuldigte er während der Vorwahlen der Havoda-Partei seinen Gegner und Parteimitglied Shimon Peres, ein »Linker« zu sein. Im Gegensatz zu Europa unterscheiden sich in Israel die linken und die rechten Partei vor allem in der Frage der Staatsbürgerschaftsidentität: Jüdisch-Demokratisch oder Demokratisch-Jüdisch (ich beziehe mich auf die aktuelle Wahl). Das politische Spektrum zeigt drei großen Parteien, das ist sehr ähnlich: Left – Havoda, Center – Kachol-Lavan, Right – Likud. Dennoch ist das Rätsel, wie die Linke mit den Intifada-Aufständen nach dem Osloer Abkommen assoziiert wird, die Rechte aber von der 2. Evakuierung (Sinai 1982 und Gazastreifen 2005) und dem Friedensvertrag mit Ägypten 1979 abgekoppelt ist, noch unbeantwortet. Ich hoffe, dass mir ein übertriebener Pessimismus vorgeworfen wird, wenn es im Mai 2019 einen neuen Ministerpräsidenten geben wird.
Du beschäftigst Dich seit geraumer Zeit mit »Mizrachi-Futurismus«. Kannst Du uns den Begriff und die Bedeutung der Auseinandersetzung damit erklären?
SHERI AVRAHAM: Nun, der Ursprung des Wortes Mizrach(i_im) liegt im arabischen Mashriq. Es wurde verwendet, um den östlichen Teil des geopolitisch-kulturellen Raums Asiens im Gegensatz zum westlichen Maghreb zu beschreiben. Seit 1948 wurde der Begriff viel diskutiert und ständig neu formuliert. In diesem Begriffsuniversum spielen also Elemente wie »Orientalen«, »Sephardim«, »Arabische-Juden«, etc. eine gewichtige Rolle. Der Aspekt, der mich an diesem »Neu-Mizrachim«, am meisten beschäftigt, ist die Frage der kollektiven Identität einer minoritären oder subalternen Gruppe.
Mizrachi-Futurism bezieht sich auf den Afrofuturismus. Dieser gründet seine Kraft auf dem historischen Wissen – auf Mythologien und afrikanischen Symbolen. Diese miteinander verwobenen Elemente bieten neue Bilder für eine gleichberechtigte Gesellschaft. In Literatur, Musik und Filmen des Afrofuturismus sind Elemente von Science und Fiction, Techno-Kultur, historische Fiktion, Mythologie und Afrozentrik zu einem Kosmos verwoben, der eine positive alternative Zukunft bietet. Darüber hinaus wird der Afrofuturismus aber auch zu einer Quelle und einem Hinweis auf andere Minderheitengruppen, die für sich eine Zukunft ohne die Strukturen von Ausgrenzung und Diskriminierung darstellen wollen. Neben anderen zeitgenössischen futuristischen Künsten gibt es auch: Arab-Futurismus, Muslim-Futurismus, Roma-Futurismus, Techno-Orientalismus, etc.
Wie kommen diese Aspekte einer Kulturästhetik mit politischen Kämpfen zusammen?
SHERI AVRAHAM: Ich arbeite aus einer postkolonialen Sicht an einem neuen Identitätsdiskurs. Oder um mit Ruby Sircar zu sprechen, es geht – wie in ihrem gleichnamigen Buch Liquid Homelands ausgeführt, um die Suche nach einem imaginativen Raum, der durch Popkultur und Oral-History geschaffen wird. Liquid Homelands sind die Homelands von transnationalen, transethnischen und Migrationsgemeinschaften, die mit mehr als einem Raum, mit mehr als einer Geschichte verbunden sind. Es geht in Israel, obwohl ich Angehörige der zweiten resp. dritten Generation migrierter Familien bin, um die Frage der Nicht-Zugehörigkeit und zugleich um ein sich wie zu Hause fühlen, das aber sehr stark aus einer Verflechtung von Geschichten, Gerichten und musikalischen Einflüssen bestimmt wird.
In diesem Kontext des widerständigen und nach Gleichberechtigung strebenden, popkulturellen und gesellschaftspolitischen Kampfes gibt es eine vielstimmige Tradition, die in Formen der futuristischen Kunst oder generell dem Begriff des Afrofuturismus gefasst werden kann.
Welche Bedeutung hat heute die Dichotomie von Mizrachim und Ashkenazim? Welche Klassenzugehörigkeit und welche Ausschlüsse werden womit reproduziert?
SHERI AVRAHAM: Schon ein, zwei Generationen vor mir zeigten sich enttäuscht vom Konzept der Sabra, damit sind in Israel geborene Personen gemeint und stellten die etablierte Dichotomie von Ost- und Westjuden und -jüdinnen, also Mizrachim und Ashkenazim in Frage. Bereits 1971 organisierte sich eine Gruppe, um gegen Armut und ethnische Ungleichheit zu protestieren, die weit verbreitet und normalisiert waren. Mit Hilfe der Black Panther-Bewegung in den USA organisierten sie Proteste und Aktionen, die sich auf viele Teile des Staates ausbreiteten: »Nenn mich nicht Arbeiter, ich bin ein Panther.«1 Diese israelischen Black Panthers waren eine gesellschaftspolitisch revolutionäre Bewegung, die einen historischen Meilenstein in den sozial-ethnischen Kämpfen setzte. Sie sind auch Teil der parlamentarischen Arbeit mit der Chadasch Partei – Demokratische Front für Frieden und Gleichberechtigung.
Meine Generation beschäftigt sich mit der Suche nach der Beantwortung der Frage: »Wie fühlt man sich als Problem?«, wie W.E.B. Du Bois es definiert hat. Wir erkennen die fluide Farblinie (Colour-Line) und die Ausgrenzung auf Grundlage der Ethnizität. Und davon ausgehend beschäftigen wir uns auch mit anderen Einflüssen, forschen zu anderen Begriffen und Geschichten. Die Shoah spielte sich nicht nur in Europa ab, Jüdinnen und Juden wurden im gesamten Maghreb diskriminiert, interniert und viele kämpften gegen Vichy-France in der Freien Französischen Armee. Wir beschäftigen uns auch mit jüdischen Gemeinschaften in Indien, dem Jemen oder dem Irak, mit den Herkunftszusammenhängen unserer Familien.
Angehörige dieser Trans-ethnizität-Generation sind voller Wut und haben das Ziel, das zu reparieren, was in den Generationen ihrer Vorfahren gebrochen wurde. Indem sie den Kanon der Geschichtsschreibung aus jeder möglichen Perspektive herausfordern, schaffen sie neue Bildungsprogramme an Schulen und Universitäten, in der Kunst, Literatur, im Kino und in den Massenmedien.
Wie zeigt sich nun der Einfluss einer Black Radical Tradition auf die Mizrachi Gemeinschaften? Gibt es dabei auch feministische Aspekte?
SHERI AVRAHAM: Dieser Einfluss ist in der gesamten Geschichte der Mizrachi Gemeinschaften zu finden. Wir können Prozesse der Übersetzung und Anpassung der Afrikanischen Diaspora Praxis, Theorie und Kultur in den israelischen Raum finden. Diese Übersetzungsprozesse sehen wir auch in der Etablierung der Bewegung der israelischen Black Panthers in den 70er Jahren, die sich von den Black Panthers Formen des Widerstands und ein neues Verständnis von Politischen Gemeinsamkeiten angeeignet hat. Auch die Mizrachi feministischen Bewegungen fanden ein Vokabular, um ihre Forderungen zu formulieren, indem sie sich auf die schwarzen feministischen Denker_innen und Aktivist_innen aus den USA bezogen. Frauen wie bell hooks haben nicht nur das Denken im Aktivismus verändert, sondern vielmehr hat die Analyse des Rassismus in der Populärkultur die Massenmedien in Israel grundlegend verändert.
In welchem Verhältnis steht auch deine jüdische Identität zu einem Entwurf von Trans-ethnizität? Die Frage der Staatsbürger_innenschaft und der damit verbundenen Rechte erstreckt sich alltagspraktisch weit über die Teilnahme an Wahlen.
SHERI AVRAHAM: Ich halte es in dieser Auseinandersetzung mit Meir Amor, er schreibt in einem sehr lesenswerten Sammelband2 zum Konzept der Staatsbürger_ innenschaft: »Ein politischer Standpunkt ist einer, der sich in der Frage der jüdischen Privilegien positioniert und behauptet, dass integrative und gemeinsame Staatsbürgerschaft nicht aus festen Monologen kultureller Identität hervorgeht. Die Staatsbürgerschaft kann durch transkulturelle Aktivitäten wachsen…«
»Mizrachim« ist dabei der Begriff, der den gemeinsamen Nenner bildet. Er umfasst eine Erfahrung des Kampfes gegen strukturellen Rassismus und alltägliche Diskriminierung, eine Erfahrung der globalen Diaspora- und Migrationsgemeinschaften. Diese Definition ist fließend und positiv, eine Erklärung von Strategien, Aktionen und Zielen. Sie kann Solidarität im Raum der Differenz schaffen, eine Grundlage für effektives politisches Handeln.
Sheri Avraham wurde 1979 in Beit Dagan geboren und lebt seit 2006 in Wien. Sie ist Künstlerin, Theatermacherin und Kuratorin, derzeit auch Vorsitzende der IG BILDENDE KUNST.
1 Said, Shalom (1971): Don’t call me a worker, I am a panther. In: about the black panther, (V1605), page 6.
2 G. Abutbul, L. Grinberg and P. Muzafi-Haler (editors). Mizrahi Voices: Toward a New Discourse on Israeli Society and Culture. Tel-Aviv: Masada. 2005 (Hebrew)