Betrachtungen zu Florentina Holzingers Tanztheaterprojekt Ophelia’s Got Talent von Eva Brenner
Die österreichische Choreografin Florentina Holzinger wurde kürzlich zur besten Regisseurin des Theaterjahres 2023 gekürt. Im Herbst gastierte sie im Wiener Volkstheater mit ihrer hochgelobten Tanztheaterproduktion Ophelia’s Got Talent. Während viele Theater über Publikumsschwund klagen, sind Holzingers Spektakel ausverkauft. Sie punkten mit extravaganten Choreografien, Nacktheit und waghalsigen Stunts. Bereits 2020 war Holzinger zum renommierten Berliner Theatertreffen eingeladen, derzeit arbeitet sie als Artist-in-Residence an der Volksbühne Berlin. Dort wirbelt sie gehörig Staub auf und verhilft dem Haus, dessen Anziehungskraft nach dem unfreiwilligen Abgang des erfolgreichen Langzeitintendanten und Ex-DDR-Meisters ästhetischer Subversion, Frank Castorf, rapide abnahm.
Holzinger, Jahrgang 1986, studierte Choreografie an der School for New Dance Development (SNDO) der Amsterdamse Hogeschool voor de Kunsten, seit 2011 tritt sie mit eigenen Produktionen auf, die von Soloprojekten bis zu Choreografien für größere Ensembles reichen, seit 2020 auch mit Experimenten im öffentlichen Raum. Diese sogenannten »Etüden« finden auf Seen, Parkdecks, Straßen und Plätzen statt, im Sommer 2023 exekutierte sie die Freiluft-Produktion Schrott-Etüde (Scrap-Etude): An Etude for Extinction am Parkplatz des berüchtigten Berliner Olympia-Stadions, eine Musikkomposition für multiple Perkussion, Autos und brennende Körper.
Choreografin der Stunde?
Worum geht es in Holzingers schocktherapeutischem Theater-Universum? Um zwanghaften Tabubruch oder einen tatsächlich neuen Blick auf den Körper der Frau, um substantielle Kritik am Kapitalismus, um Schönheit, Androgynität und sexuelle Passion oder um die simple Lust an der Provokation? Was fasziniert ein vorwiegend junges Publikum an einer Ästhetik der Grenzüberschreitung und Überwältigung, die sich den Feminismus als Label umhängt? Bei Holzinger finden sich alle Klischees der seit den späten 80er Jahren hegemonischen »Postdramatik« wieder: Verweigerung von Narration, Hybridität, Zitation aus Mythos, Philosophie und Kunstgeschichte, technisch hochgerüstete Multimedialität. Dazu zählen Rückgriffe auf Aktionismus, Installationskunst oder DaDa – kurzum ein wohlfeiles Amalgam. Die methodische Strategie der Postdramatik ist das Plagiat, die Täuschung aus Prinzip. Sie besteht aus Indienstnahme früherer, bereits erprobter ästhetischer Strategien, Stile und künstlerischer Errungenschaften in der Pose der Provokation. Die perfekte Mimikry behauptet das stets »Neue« und verfolgt zugleich das Ziel, alles beim Alten zu lassen: die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Sucht nach Repräsentation, die Kunst als Schaubühne, das Theater als Spiegel der Eitelkeiten. Die Nahtstellen der Mimikry sind nur für jene Insider sichtbar, die mit der Tradition der Avantgarden vertraut sind.
Theatre, Sex and Crime
Ophelia’s Got Talent gewann in der jährlichen Kritikerumfrage des deutschen Parademagazins Theater heute den Titel »Inszenierung des Jahres 2023«. Laut Eigenaussage der Regisseurin geht es dabei um eine »physische Studie zur Psychologie des Wassers im 21. Jahrhundert«, wobei das Theater sein Publikum vorab warnt, dass »die Show selbstverletzende Handlungen, Blut, Nadeln, Stroboskop-Licht, explizite Darstellung oder Beschreibung körperlicher oder sexualisierter Gewalt [beinhaltet]«. In der Tat gibt es viel Sensationelles zu sehen in Holzingers Show, die brillant oszilliert zwischen Unterhaltung, Trash und Hochkultur – das Spektrum reicht von gewagten Tanz-, Akrobatik-, Ballett- und Kampfsportnummern nackter Frauenkörper aller Größen und Altersgruppen, die physische Höchstleistungen vollführen, und Szenen von Sex, Gewalt und Tod vor großflächigen Videos, begleitet von eindringlicher Popmusik. Schwebende Frauen kopulieren in der oft zitierten Ophelia’s Got Talent-Skandalszene mit einem Helikopter, man peitscht sich gegenseitig aus, hängt sich an Angelhaken auf oder treibt sich Nägel unter die Haut; dazu fließen beträchtliche Mengen Theaterblut. Holzinger nennt sich stolz Feministin, die »an die absolute Gleichberechtigung in allen Bereichen« glaubt, konzediert jedoch, dass Männer auch aus voyeuristischen Gründen in ihre Shows kämen und sie schon mal Projektszenen auf Pornoseiten wiederfände, was sie schlicht erheitere.
Mythos marktkonform
Die literarisch-mythische Figur Ophelia entstammt der Shakespearschen Tragödie Hamlet, Ursprünge lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen; je nach Epochen finden sich unzählige Variationen des Mythos. Die Geliebte des dänischen Prinzen geht unweigerlich ihrem tragischen Ende im Wasser entgegen – ein oft zitiertes romantisches Motiv.
In Literatur, Film und Kunst gilt sie als Ikone weiblicher Unschuld, von Liebe, Verletzlichkeit und Verlust. Auch im Tanztheater-Drama Ophelia’s Got Talent steht das Element Wasser als Referenz für Weiblichkeit und Anpassung sowie als Synonym für die »Domestizierung der weiblichen Subjektivität«. Folgerichtig thront auf der Bühne ein großes Wasserbecken, in das die nackten Frauen als Wiedergängerinnen der mythischen Leda, Melusine und Undine tauchen, springen, planschen und das »Ophelia-Sein« trainieren. Weit entfernt sind Bezüge zur Klimakatastrophe, vorgeführt werden theatrale Rituale der Verwandlung, die nicht näher bestimmte neue Lebensformen hervorzaubern wollen.
Holzingers Tanzstil wird als neue Ästhetik der Grausamkeit gelobt, eine mit klassisch-avantgardistischen Elementen gepaarte radikale Körperkunst und neues Theatergenre. Die Bourgeoisie schmückt sich gerne mit Gesten des Aufstands, sofern er transponiert in die Sphäre der Kunst und damit ungefährlich gemacht worden ist. Dazu eignen sich mythologische Motive – myth sells! Holzingers martialische Feier von Frauenpower fügt sich geschmeidig in die Profile hochkultureller PR-Strategen, die identitäre Rebellionen und Trans/Gender-Diskurse propagieren. Die Vermarktungsmaschine rebellischer Avantgarden, die sich vormals aus Kunst/ politischen Impulsen herleiteten, hat die real-feministischen Anliegen verkehrt. Es ist ein Anspruch, wofür hier alle Voraussetzungen fehlen: Einbettung in eine konkrete Bewegung, historisch-kritische Aus-einandersetzung mit Ursprung und Praxis patriarchaler Gewalt und Artikulation von Alternativen, d. h. die Frage nach der möglichen Überwindung des Patriarchats in Gesellschaft und Kunst.
Tabubruch und Macht
Unsere Zeit ist von neuen Kriegen, von Hass, Gewalt, Rassismus und Sexismus durchzogen, in der auch in Medien und Kunst kalkulierte Provokationen mit unverhüllter Zurschaustellung von Gewalt grassieren. Spektakel wie Ophelia’s Got Talent haben allerdings kaum etwas mit Antonin Artauds »Theater der Grausamkeit« gemein, das vor hundert Jahren die transformatorische Auslieferung menschlicher Körper an die reinigende Kraft einer Kunst der Befreiung einforderte. Dieser kathartische Anspruch erscheint hier pervertiert, wenn bewusst mit Szenen von Gefahr und Gewalt gespielt und (männlicher) Voyeurismus zumindest nicht verunmöglicht wird. Es war schon immer ein Irrtum (bürgerlich-)avantgardistischer Kunst, zu behaupten, dass die Darstellung von Gewalt in eine Kritik von Gewalt münde. Und so ist die spekulative Präsentation weiblicher Nacktheit und Sex auf offener Bühne weder Markstein weiblicher Emanzipation noch Ankunft eines neuen Kunstgenres.
Es wird noch einiger Diskussionen bedürfen, um Kunstprojekte wie Ophelia’s Got Talent kritisch einzuordnen, um die Nebelkerzen hinter dem neumodischen Phänomen der zu Ende gehenden Postpost-Dramatik zu enttarnen. Eine historisch-kunstpolitische Verortung müsste meiner Meinung nach in Holzingers Ophelia-Projekt ein technisch hochgerüstetes, professionell exekutiertes, politisch höchst spekulatives Spektakel einer Spät-Post/ Moderne erkennen, das anstatt legitime Kritik am Kapitalismus mit seinen Praktiken von Ausbeutung und patriarchaler Gewalt zu üben, diesem als künstlerisch opportune Rückendeckung seines tödlichen Kriegszuges zur Hand geht. Es wird jetzt und in absehbarer Zeit in der Kunst darum gehen, Themen des Friedens und Frieden-Machens aufzugreifen und sich von dystopischen Gewaltfantasien fernzuhalten.