Anlässlich seines neuen Buches Die Schande Europas. Von Menschenrechten und Flüchtenden war Jean Ziegler zu Gast in der GEA Akademie Schrems.
Report von EVA BRENNER
Trotz Corona-Beschränkungen, Masken, online Übertragung und stark reduziertem Publikum geriet die inspirierte Diskussion zum aktuellen Thema Flucht, Asyl und den Bränden im griechischen Lager Moria am 3. Oktober in der GEA-Akademie zu einem eindrücklichen Abend. Gastgeber und GEA-Chef Heini Staudinger hatte Jean Ziegler, den bekannten Soziologen, Menschenrechtsaktivisten und Buchautor zum Gespräch mit Moderator Alexander Behr und Publikum geladen. Der stringent orchestrierte Event setzte mit John Lennons Friedenshymne Imagine gleich zu Beginn ein prägnantes Signal. Nach dem Auftakt mit leiser Gitarrenmusik von Wolfram Märzendorfer brillierte Jean Ziegler mit emphatischen Lageberichten aus Moria, einer kritischen Analyse zur neuen EU-Migrationspolitik, die more of the same verspricht, Kanongesängen, Publikums interaktionen und der Verlesung berührender Briefe des GEA-Fanclubs, die aufzeigten, wie viele Menschen in Österreich bereit wären, Flüchtlingskinder aus Moria aufzunehmen, wenn es denn gestattet wäre.
Das berüchtigte Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos war bereits vor den verheerenden Bränden im September Symbol einer verfehlten europäischen Flüchtlingspolitik, das Ziegler zur »Schande Europas« erklärt hat. Seine Kritik ist keineswegs abstrakt-intellektuell; im Mai 2019 besuchte er gemeinsam mit einer internationalen Delegation das Lager, um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen; daraus entstand sein aufrüttelndes, neues Buch, das Anlass für die Veranstaltung war. Angesicht der gedrückten Coronakrisenstimmung, die unseren Alltag beherrscht, gelang hier abseits großer Bühnen ein seltenes Kunststück: Kaum war die Ouvertüre verklungen, breitete sich in der Werkshalle eine Atmosphäre des Optimismus und der Hoffnung aus, die im eklatanten Gegensatz zu den drastisch geschilderten Missständen in den Hotspots steht.
»Heute leben Tausende Personen – vor allem Familien aus Afghanistan, Syrien und dem Iran – zusammengedrängt in den offiziellen Lagern. Während meiner Tätigkeit als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung besichtige ich die Rocinha, die größte Favela von Rio de Janeiro, die Slums der Smokery Montains von Manila und die stinkenden Shanty Towns von Dhaka in Bangladesch. Aber noch nie habe ich so schmutzige Behausungen, so verzweifelte Familien erlebt wie in den ›Olivenhainen‹ von Moria. … Um die Hügel von Moria türmt sich der Abfall. Ratten und Schlangen nisten in den Müllbergen. Mangels Wasser können die Gefangenen von Moria ihre Schlafsäcke nur alle zwei Monate waschen. Container und Baracken sind von Läusen befallen. Da es zu wenig Trinkwasser gibt, grassieren Nierenerkrankungen …« (Die Schande Europas, Seite 61 f.)
Ziegler, der europaweit Vorträge zum Thema hält, geht es um den aktiven Widerstand gegen Xenophobie und die Akzeptanz des wachsenden Alltagsrassismus, die sich in fast allen Schichten breit gemacht hat. So wie alle Menschen guten Willens, kämpft der 86-jährige gegen die weltweite politische Rechtswende und die andauernden Verletzungen der Menschen- und Asylrechte an den europäischen Außengrenzen. Hier verbreiten die EU-Agenturen für Flüchtlingsfragen FRONTEXT, EURO-POL und EASA, die für Schutz und Ordnung sorgen sollten, Angst und Schrecken, um künftige Flüchtende von den Küsten Europas fern zu halten. Die Demaskierung ihrer scheinheiligen, menschverachtenden Operationen, die Ziegler mit »KZs« vergleicht, bildet ein Kernstück der Streitschrift. Scharf weist er die Abschiebungen zurück als eine Bankrotterklärung für die einstigen Ideale eines demokratischen »Europa«.
Manifest für die Menschenwürde
Zieglers schmaler Band mit dem bedrohlich schwarzen Schutzumschlag ist präzise recherchiert, exzellent formuliert und könnte inhaltlich brisanter nicht sein – benennt er doch neben der Klimakrise das wohl wichtigste Problemfeld für die Zukunft unsere Gesellschaft: die Migrations- und Asylfrage. Fertiggestellt kurz vor der Corona-Krise und der mutwilligen Zerstörung von Moria – laut Ziegler das professionelle Werk rechter Banden, keinesfalls von schlecht ausgerüsteten Flüchtlingen – fasst er seine wiederholte Anklage in 18 knappen Kapiteln gegen die erstarkende Barbarei zusammen. Ausgeübt von den reichen Ländern Europas liefert dieses Vorgehen hunderttausende Geflüchtete aus dem Nahen Osten, den Ländern Afrikas und Asiens dem Krieg, Hunger und Klimawandel schutzlos aus. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge schätzt die Zahl der in den fünf Hotspots der Ägäis geparkten Menschen im November 2019 auf ca. 39.000; da die Ausstattung der Lager auf nur 6.400 ausgerichtet ist, sind sie heillos überfüllt. Für den Humanisten Ziegler hat Europa sein Gewissen verloren und das Bekenntnis zu den allgemeinen Menschenrechten und dem Recht auf Asyl über Bord geworfen.
Eindringlich legt Ziegler die Finger in die Wunden, weist den kürzlich präsentierten EU-Migrationspakt entschieden zurück, der keine echten Verbesserungen verspricht und »Patenschaften« der aufnahmeunwilligen Länder Osteuropas vorsieht, die sich mit der Finanzierung von Abschiebungen beteiligen sollen. Das neue Grenzregime erlaubt es den reichen Länder des Nordens, ihre »imperiale Lebensweise« auf dem Rücken der seit Jahrhunderten ausgebeuteten Länder des Südens aufrecht zu erhalten. Der Autor Ziegler legt Zeugnis ab, versetzt seine sozialkritischen Befunde mit journalistischer Genauigkeit, offener Betroffenheit, Poesie und Emphase. Im Kontrast zu vielen anderen Berichten zum Thema kommt der Autor ohne Alarmismus, Larmoyanz und Anekdoten aus. Sein Stil ist trocken, liest sich abwechselnd essayistisch, analytisch, politisch-aktivistisch-manifest.
Kara Tepe heißt das neue Lager auf Lesbos, das Moria ersetzen soll und wo sich derzeit knapp 8.000 Menschen von ca. 13.000 befinden. Es gibt weder fließendes Wasser noch WCs, und die behelfsmäßigen Zelte wurden seit Tagen von schweren Regenfällen getroffen und völlig überschwemmt. Es grassiert die Angst vor neuen Bränden, der endgültigen Verfestigung eines unhaltbaren Zustandes und auf ein weiteres untätiges Warten auf Asyl in der EU.
Gegen Ende bekräftigte der streitbare Aktivist seinen Aufruf an alle Menschen, denen die europäische Idee am Herzen liegt, selbstbewusst gegen diese »Schande Europas« aufzustehen und die Einhaltung der Menschrechte sowie der Genfer Flüchtlingskonvention einzufordern. Der Abend klingt mit Wortspenden aus dem Publikum sowie online, dem Sammeln von Spenden und Klängen von Lennons Imagine in angeregte informelle Gespräche aus.
»Überall auf dem Kontinent müssen wir für die strikte Einhaltung des universellen Menschenrechts auf Asyl kämpfen. Wir müssen die sofortige und endgültige Schließung aller Hotspots durchsetzen, wo immer sie sich befinden. Denn sie sind die Schande Europas.« (Seite 143)