28 Februar

Kapital, nicht Ideologie. Buchkritik von Michael Roberts

von

UNGLEICHHEIT VON VERMÖGEN UND EINKOMMEN

Nach dem Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert erscheint im März 2020 das zweite große Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty, Kapital und Ideo­logie in deutscher Übersetzung. Der englische Marxist und Ökonom MICHAEL ROBERTS, Betreiber des viel gelesenen Blogs*, hat darüber eine sehr kritische Buchbesprechung geschrieben:

Bereits 2014 veröffentlichte der französi­sche Ökonom Thomas Piketty das viel­beachtete Buch Das Kapital im 21. Jahrhun­dert. Indem der Titel des Marxschen Haupt­werks, Das Kapital, verwendet wurde, lag die Schlussfolgerung nahe, dass es sich um eine Aktualisierung der Marxschen Kritik für das 21. Jahrhundert handelte. Piketty argumentierte darin allerdings nur, dass die Ungleichheit von Einkommen und Ver­mögen in den großen kapitalistischen Volkswirtschaften Extreme erreicht habe, die seit dem späten 18. Jahrhundert nicht mehr zu verzeichnen waren, und wenn nichts unternommen werde, werde die Ungleichheit weiter zunehmen.

Das Buch hatte einen großen Einfluss, nicht nur auf ÖkonomInnen (vor allem in Amerika, weniger in Europa), sondern auch auf die breite Öffentlichkeit. Zwei Millionen Exemplare seiner monumentalen 800 Sei­ten Publikation wurden verkauft, die voll von theoretischen Argumenten, empiri­schen Daten und Anekdoten ist, um die zunehmende Ungleichverteilung des Reich­tums in modernen kapitalistischen Volks­wirtschaften zu erklären. Das Buch gewann schließlich die zweifelhafte Ehre, für das Jetzt, sechs Jahre später, hat Piketty ein neues Buch mit dem Titel Kapitalismus und Ideologie herausgebracht, das noch umfangreicher als sein erstes Buch ist: etwa 1200 Seiten; wie ein Kritiker sagte, länger als Krieg und Frieden. Während Pikettys erstes Buch Theorie und Beweise über die zunehmende Ungleichheit in modernen Ökonomien lieferte, versucht dieses Buch zu erklären, warum dies in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt möglich war. Davon ausgehend schlägt er einige die Ungleichheit mildernde Maßnah­men vor. Piketty erweiterte zudem seine Analyse auf die ganze Welt und präsentiert ein historisches Panorama, wie das Eigen­tum an Vermögenswerten in verschiedenen Gesellschaften, von China, Japan und Indien über die ursprünglich europäischen ameri­kanischen Kolonien bis hin zu feudalen und kapitalistischen Gesellschaften in Europa, behandelt und begründet wurde. meistverkaufte Buch, das niemand durch­gelesen hatte und übernahm damit die Nachfolge von Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit.

Produktionsmittel versus Vermögen

Obwohl beide Bücher den Begriff Kapital in ihren Titeln verwenden, folgen beide nicht den Ideen von Marx. Tatsächlich lehnt Piketty die Gesetze von Marx über Wert und Profit als nicht relevant für das Verständnis des modernen Kapitalismus ab. Für Piketty ist die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital (privates Eigen­tum an den Produktionsmitteln) nicht relevant, bedeutend sei hingegen das Eigentum am Vermögen. Dank Vermögen könnten die Reichen ihren Anteil am Gesamteinkommen in einer Wirtschaft erhöhen. Es sei also nicht die Überwin­dung der kapitalistischen Produktions­weise erforderlich, sondern die Umvertei­lung der großen Vermögen.

Für Piketty ist Ungleichheit eine politi­sche Entscheidung. Während Marx Ideolo­gien als ein Produkt von Klasseninteressen betrachtete, vertritt Piketty die idealisti­sche Ansicht, dass Geschichte durch den Kampf der Ideologien bestimmt sei. Die großen Volkswirtschaften haben die Ungleichheiten verschärft, weil die herr­schenden Eliten falsche ideologische Recht­fertigungen für Ungleichheiten geliefert haben. Jede ungleiche Gesellschaft, sagt er, schafft eine Ideologie, um Ungleichheit zu rechtfertigen. All diese Rechtfertigungen ergeben das, was er die »Heiligsprechung des Eigentums« nennt.

Die Aufgabe von ÖkonomInnen sei es, diese falschen und legitimierenden Argu­mente zu widerlegen. Denken wir an die Milliardäre. Piketty sagt: »Schafft ihre Exis­Steuererträ­ tenz tatsächlich Güter, die allen zugute­kommen? Im Gegensatz zu dem, was oft behauptet wird, beruht umgekehrt ihr Reichtum auf Gemeingütern wie das öffent­liche Wissen, die Infrastruktur und den Forschungslabors.« Die Vorstellung, dass Milliardäre Arbeitsplätze schaffen und das Wachstum ankurbeln, ist falsch. Das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens betrug in den USA zwischen 1950 und 1990 2,2 Prozent pro Jahr. Als jedoch in den 90er und 2000er Jahren die Zahl der Milliardäre explodierte – von rund 100 im Jahr 1990 auf heute rund 600 – sank das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens auf 1,1 Prozent.

Vom Erben und den Steuern

Piketty sagt, dass der marktwirtschaftliche Kapitalismus à la Ronald Reagan reformiert werden muss. »Der Reaganismus begann jede Konzentration von Reichtum zu recht­fertigen, als wären die Milliardäre unsere Retter.« Und weiters: »Der Reaganismus hat seine Grenzen gezeigt: Das Wachstum wurde halbiert, die Ungleichheiten haben sich verdoppelt. Es ist an der Zeit, diese Phase der Heiligsprechung des Eigentums zu beenden.« Aber er scheut davor zurück, das vorzuschlagen, was die meisten Men­schen als »Sozialismus« bezeichnen, näm­lich die Enteignung von privatem Kapital. Stattdessen will er über den Kapitalismus »hinwegkommen«. Weit davon entfernt, Eigentum oder Kapital abzuschaffen, will er die Reichtumsverteilung auf die untere Hälfte der Bevölkerung ausweiten, die selbst in reichen Ländern nie viel besessen hat. Dazu bedürfe es einer Neudefinition des Privateigentums als »temporär« und begrenzt: Man kann es zu Lebzeiten in moderaten Mengen genießen, aber man kann es nicht an seine Erben weitergeben.

Wie soll das geschehen? Nun, Piketty for­dert eine abgestufte Vermögenssteuer von 5 Prozent bei Besitz von zwei Millionen Euro und bis zu 90 Prozent bei mehr als zwei Milliarden Euro Besitz. »Kapitaleigne­rInnen werden weiterhin Millionen oder Zehnmillionen besitzen«, sagt er. »Aber darüber hinaus müssen diejenigen, die Hunderte von Millionen oder Milliarden haben, mit den AktionärInnen und Mitar­beiterInnen teilen. Also nein, es wird keine Milliardäre mehr geben.«. Aus Steuererträ

gen könnte ein Land wie Deutschland jedem/jeder BürgerIn im Alter von 25 Jah­ren eine Geldsumme in Höhe von rund 120.000 Euro zur Verfügung stellen.

Piketty fordert auch »Bildungsgerech­tigkeit«, indem er im Wesentlichen den gleichen Betrag für die Bildung jedes Ein­zelnen vorschlägt. Und er plädiert auch für ein allgemeines Mitspracherecht der Lohnabhängigen bei der Führung ihrer Unternehmen, wie es in Deutschland und Schweden existiert. Die MitarbeiterInnen sollten 50% der Sitze in den Organen der Gesellschaft einnehmen, zugleich soll das Stimmrecht auch der größten Aktionär ­Innen auf 10 Prozent begrenzt werden. Für die deutschen LeserInnen stellt sich sofort die Frage, warum die VertreterIn­nen der Belegschaften in den Unterneh­mensleitungen bisher nichts getan haben, um die wachsende Ungleichheit zu stop­pen oder einzudämmen.

Neoliberale Zustände und ihre Überwindung

Piketty nennt seine Orientierung über den Kapitalismus hinaus einen »partizipatori­schen Sozialismus und Sozialföderalis­mus«. Aber sie trägt den Beigeschmack der Rückkehr zum so genannten goldenen Zeitalter von 1948-65, als die Ungleichheit viel geringer war, es Vollbeschäftigung gab und die ArbeiterInnen in der Lage waren, sich zu bilden und dadurch qualifi­ziertere und besser bezahlte Jobs beka­men. Das Problem sei ein Wechsel in der Ideologie der sozialdemokratischen Par­teien gewesen. Die sozialdemokratischen Parteien ließen ihre ursprünglichen Ziele der Gleichstellung fallen und entschieden sich stattdessen für die Leistungsgesell­schaft, um ein besseres Leben für die ArbeiterInnenklasse zu ermöglichen. Und zwar deshalb, weil sie sich allmählich von Parteien der weniger gebildeten und ärmeren Schichten zu denjenigen der gebildeten und wohlhabenderen Mittel- und Oberschicht gewandelt hatten. Diese Menschen, die GewinnerInnen der Sozial­demokratie, wählten weiterhin linke Par­teien, aber ihre Interessen und ihre Welt­anschauung waren nicht mehr die glei­chen wie die ihrer (weniger gebildeten) Eltern. Die Ideologie der sozialdemokrati­schen Parteien änderte sich als Ergebnis ihrer eigenen erfolgreichen Wirtschaftspo­litik. Soweit Pikettys Analyse.

Aber ist sie korrekt? Die Ideologie der Sozialdemokratie änderte sich nicht nur, weil sich die Klassenzusammensetzung die­ser Parteien von IndustriearbeiterInnen zu gebildeten Fachleuten änderte. Das kurze »goldene Zeitalter« der Sozialdemokratie ging nicht wegen eines Ideologiewechsels zu Ende, sondern weil die Rentabilität des Kapitals in den 1970er Jahren eingebrochen ist (wie es von Marx im Kapital beschrieben wird). Das bedeutete, dass pro-kapitalisti­sche PolitikerInnen keine Zugeständnisse mehr an die ArbeiterInnenklasse machen konnten; in der Tat wurden die Errungen­schaften des goldenen Zeitalters in der neo­liberalen Epoche umgekehrt. Die Ideologie änderte sich mit der Profitkrise des Kapi­tals, nicht umgekehrt. Und die sozialdemo­kratischen FührerInnen haben diesen Wan­del mitgetragen, weil sie es letztlich nicht für möglich halten, den Kapitalismus durch den Sozialismus zu ersetzen. Auch nach ihrer Ansicht gilt: »Es gibt keine Alterna­tive« – um Thatchers Phrase zu verwenden.

Piketty meint, dass die Besitz- und Leis­tungsideologie der neoliberalen Periode fragil wird. »Es wächst das Verständnis, dass die Reichen die so genannte Leistungs­gesellschaft dadurch dominieren, in dem sie ihre Kinder an den besten Universitäten studieren lassen, politische Parteien kaufen und ihr Geld vor der Besteuerung verste­cken.« Dies ermögliche mehr Spielraum für Ideen der Umverteilung. Aber er will nicht das Privateigentum und die Ausbeutung der Arbeitskräfte durch ein System des gemeinsamen Eigentums und der gemein­samen Kontrolle ersetzen. So gesehen kön­nen die großen multinationalen Unterneh­men weitermachen, die großen Pharma ­unternehmen können weitermachen, ebenso die Unternehmen für fossile Brenn­stoffe; der militärisch-industrielle Komplex wird weiter bestehen. Ebenso werden die wiederkehrenden Krisen der kapitalisti­schen Produktionsweise bestehen. Aber welche Chance besteht, dass die gegenwär­tige »Ideologie der Heiligsprechung des Eigentums« überwunden werden kann, ohne die kapitalistische Produktionsweise selbst zu übernehmen?

*) Michael Roberts Blog blogging from a marxist eco­nomist

https://the nextreces­sion.word­press.com

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