Beginnen wir mit der Frage, was ist Entfremdung? Entfremdung ist ein Prozess. Das handelnde und denkende Subjekt erzeugt ein Resultat, das ihm als fremd gegenübertritt. Dass es sich dabei um das Resultat des eigenen Tuns handelt, wird nicht erkannt.
Von KARL REITTER
Verständlicher wird diese etwas unanschauliche Erklärung, wenn wir bestimmte konkrete Formen der Entfremdung beachten. Für Marx ist die Religion ein ausgezeichnetes Beispiel, um den Prozess der Entfremdung zu erläutern. So wir nicht an göttliche Offenbarung glauben ist klar, dass die Religion den Vorstellungen und Gedanken der Menschen entspringt. Religiöse Glaubensinhalte werden jedoch – so wir religiös befangen sind – keineswegs als Produkte des menschlichen Geistes und der religiösen Zeremonien erkannt. Kein Religionsgründer sagt, »das habe ich mir ausgedacht«, sondern meint, es wäre die göttliche Eingebung gewesen, die ihm bestimmte Aussagen in den Mund gelegt hätten. Je nach Religion kann dieser Gott dem Menschen freundlich gesinnt sein, aber auch als strafende und verdammende Macht auftreten. Ob wir von Gott Schutz und Hilfe erwarten oder uns vor seinem Zorn fürchten, ist einerlei, in jedem Falle ist Religion eine Form der Entfremdung. Aufgehoben kann die religiöse Entfremdung nur dann werden, wenn wir erkennen, dass Religion unser ureigenes Produkt ist, wenn wir erkennen: Es ist Menschenwerk.
Die kapitalistische Ökonomie ist letztlich nicht zu beherrschen
Marx erkannte, dass die kapitalistische Ökonomie grundsätzlich dieselbe entfremdete Struktur besitzt, wie die Religion. »Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eignen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eignen Hand beherrscht.« (MEW 23; 649) Marx meint damit, dass die kapitalistische Ökonomie letztlich nicht zu beherrschen ist, dass immer wieder Krisen ausbrechen und wirtschaftlicher Niedergang stattfindet, obwohl dies niemand angestrebt und gewollt hat. Die Betonung liegt dabei auf letztlich. Kapital und Staat können durch ökonomische Entscheidungen und Maßnahmen sehr wohl wirtschaftliche Verhältnisse manipulieren und gestalten. Denken wir etwa an Zölle, Exportsubventionen und wirtschaftliche Sanktionen. Die ökonomische Schule nach John Maynard Keynes (1883–1946) meint, durch aktive staatliche Wirtschaftspolitik ausbrechende Krisen und Erwerbsarbeitslosigkeit mildern zu können. Bis zur Gegenwart ist der Keynesianismus das wirtschaftspolitische Credo der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Wir sollten auch die umgekehrten Strategien nicht vergessen: Politische Repräsentanten des Kapitals erkannten schon längst, dass Krisenphänomene auch sehr nützlich sein können, um ökonomisches und sozialpolitisches Interesse durchzusetzen. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter (1883–1950) hat diese Orientierung die »schöpferische Zerstörung« genannt. Ein Beispiel dafür ist die Strategie des US-Konzerns Uber. Weltweit soll die alteingesessene Taxibranche zerstört werden, um ihrem neoliberalen Geschäftsmodell den Weg zu ebnen. Konkurse im Taxigewerbe und die Entlassung fix angestellter FahrerInnen werden dabei bewusst in Kauf genommen. Aber diesen Strategien sind klare Grenzen gesetzt, den krisenlosen Kapitalismus hat es nie gegeben und kann es auch nicht geben. Zusammenfassend ist zu sagen: Die ökonomischen Kalküle und Strategien erfolgen grundsätzlich aus der Perspektive und im Interesse des Privateigentums. Solange das Privateigentum dominiert, sind der gesamtgesellschaftlichen Regelung der Ökonomie im Interesse aller sehr enge Grenzen gesetzt. Die ökonomische Realität wird zu einer fremden, uns beherrschenden Macht, die von der bürgerlichen Wirtschaftstheorie ebenso hilflos protokolliert wird wie es die Meteorologie beim Wetter tut. Es geschieht eben.
Lohnarbeit ist entfremdete Arbeit
Bei Lohnarbeit ist der Zusammenhang zwischen Entfremdung und Eigentum unmittelbar gegeben. In einer frühen Schrift formuliert Marx diesen Zusammenhang in einer sehr philosophischen Sprache. »Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber.« (MEW 40; 511) Marx meint damit folgendes: Das Arbeitsprodukt, die Ware, gehört nicht den Arbeitenden, sondern den KapitalistInnen. Durch Verkauf der Ware wird das Kapital geschaffen und vermehrt. Die von Marx angesprochene unabhängige Macht ist das Kapital, sei es in Form der Waren, die gekauft werden müssen, oder sei es in Form der Produktionsmittel, die sich im Besitz der KapitaleignerInnen und nicht im Besitz der werktätigen Massen befinden. Wäre das Arbeitsprodukt Gemeinbesitz der gesamten Gesellschaft, gäbe es kein Privateigentum an Produktionsmitteln, aber auch keine entfremdete Lohnarbeit. Es ist die entfremdete Arbeit, die den gesamtgesellschaftlich produzierten Reichtum als Privatbesitz produziert. Die entfremdete Arbeit ist die Ursache, das Kapital ist die Wirkung, nicht umgekehrt! Das können wir bei Marx klipp und klar lesen: »Arbeitslohn ist eine unmittelbare Folge der entfremdeten Arbeit, und die entfremdete Arbeit ist die unmittelbare Ursache des Privateigentums.« (MEW 40; 521) In seinem Hauptwerk, dem Kapital, formuliert Marx diesen Zusammenhang in ökonomischen Begriffen: »Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.« (MEW 23; 596) In diesem Zitat ist der Prozesscharakter der Entfremdung sehr klar ersichtlich. Der lebendige Arbeitsprozess erzeugt beständig sein feindliches Gegenüber, das Kapital. Je mehr Lohnarbeit geleistet wird, desto größer und mächtiger wird der ökonomische, soziale und politische Einfluss der herrschenden Klassen. Für Marx ist klar: Die entfremdete Arbeit, sprich die Lohnarbeit, ist der Kern der kapitalistischen Produktionsweise. Eine Überwindung des Kapitalismus muss mit der Überwindung der Lohnarbeit Hand und Hand gehen. Nicht eine bessere, gerechtere Verteilung ist der Schlüssel, auch eine weitgehende Verstaatlichung kann den Kapitalismus nicht aushebeln. Friedrich Engels scheibt zu diesem Thema: Je »mehr Produktivkräfte er [der Staat K. R.] in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier.« (MEW 20; 260)
Wir sehen also, dass es sich beim Thema entfremdete Arbeit keineswegs um eine hoch philosophische Angelegenheit mit wenig realer Bedeutung handelt, im Gegenteil. Ob ich Entfremdung erkenne und verstehe oder nicht, ist für das Verständnis sozialer und ökonomischer Konflikte sehr bedeutsam. Werfen wir einen Blick auf das Kontrastprogramm: Die übliche, sozialdemokratische, gewerkschaftliche Orientierung will von entfremdeter Arbeit nichts wissen. Nicht die Überwindung der Lohnarbeit wird als Ziel proklamiert, sondern Jobs, Jobs Jobs lautet die Devise. Da der Prozess der Entfremdung nicht beachtet wird, beruht auch der von ihnen laut proklamierte Kampf um die Verteilung des erzeugten Reichtums auf völlig falschen Voraussetzungen. Die entfremdete Arbeit lässt verstehen, warum das gesamte Kapital nichts anderes ist als akkumulierte, nicht bezahlte Arbeitszeit. Einfach gesagt, der Wert des Kapitals wurde zu 100 % von den Werktätigen selbst geschaffen. Woher auch immer das erste, ursprüngliche Kapital stammen mag, jedes zusätzliche, größere Kapital »enthält nicht ein einziges Wertatom, das nicht aus unbezahlter fremder Arbeit herstammt«. (MEW 23; 608) Wird der Prozess der entfremdeten Arbeit jedoch ignoriert, so muss es so aussehen, als ob der erzeugte Wert das Resultat des Zusammenspiels zweier an sich völlig unabhängiger Faktoren wäre; dem Kapital einerseits und der lebendigen Arbeit andererseits. Daher erscheint es auch gerecht, dass auch der/die KapitaleignerIn seinen Anteil am Kuchen bekommt. Zu diesen beiden scheinbar »unabhängigen« Faktoren Arbeit und Kapital kann sich noch der Grundbesitz gesellen und fertig ist die Dreifaltigkeit Arbeit, Boden, Kapital. Aber ebenso wie die Religion das Werk von Menschen ist, ist der gesellschaftliche Reichtum in Form des Privateigentums das Werk der entfremdeten Lohnarbeit.
(Die Texte von Marx und Engels werden hier nach den Marx-Engels-Werken, kurz MEW, zitiert. Diese sind leicht im Internet zu finden.)