Von EVA BRENNER
Heiner Müller (1929–1995) gilt als der nach Bertolt Brecht wichtigste deutsche Dramatiker und zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der DDR. Beachtung erlangte er außerdem als Lyriker, Essayist sowie als Regisseur, Dramaturg, Intendant, Präsident der Akademie der Künste der DDR und lebenslanger Dissident. Legendär, weil heftig kritisiert, bleibt sein Auftritt am 4. November 1989 bei der Demonstration am Berliner Alexanderplatz, wo er vor 500.000 Menschen einen ihm kurz davor ausgehändigten Aufruf zur Gründung freier Gewerkschaften verlas. Es ist ein Dokument seiner fundamentalen Oppositionshaltung gegenüber Vereinnahmung durch Erwartungshaltung und Ideologie.
Ich war seit meinen Anfängen als Theatermacherin von Müllers Werk fasziniert, das Fragment, Kommentar, Sprengung der Form, Elemente von automatic writing, Traum Sequenz, poetischer Text, Groß- neben Kleinschreibung, Überlappung und Filmschnitt, Zeitsprung und Figurendoppelung nicht nur zulässt, sondern einfordert.
Müllers Theaterbegriff ist kontrovers, er setzt radikale Maßstäbe an die Theaterpraxis, verschließt sich simplen Interpretationen und linearen Umsetzungen. Seine Verweigerung jeglicher Zugeständnisse an die Doktrin des sozialistischen Realismus verdankt Müller dem gründlichen Studium westlicher Avantgarde – von Dada über Surrealismus bis Fluxus.
Müller war politisch wie künstlerisch ein Grenzgänger, ein Wanderer zwischen den Welten. Unfreiwilliger Dissident zwischen Ost und West, fand sein Werk zuerst in Westdeutschland, bald danach in Frankreich, den USA und später weltweit höchste Anerkennung. Ja, um das »Müller-Theater« entwickelte sich unter afficionados ein regelrechter Kult, die sich u. a. in den zahllosen Gesprächen, Interviews, Talkshows, Filmen und Bildbänden ausdrückte.
Auf einem Foto aus seinem letzten Lebensjahr hält Müller eine selbst gekritzelte Tafel in die Kamera, worauf zu lesen steht: »Es gab immer zwei (2) Deutschland, eins oben, eins unten. Ich lebe in beiden. Heiner Müller, 66, ohne erlernten Beruf, Berlin, 12.6.95.« Die Welt, wie Müller sie kannte, ist Vergangenheit, die Hoffnungen auf eine sozialistische Alternative haben sich nicht erfüllt. Seine Stücke werden zwar bis heute gespielt, wenn auch weniger häufig und unter Verzicht auf die fundamentale marxistische Weltsicht und Dialektik, zu der seine lebenslange Loyalität zu jenem Staat zählte, den er bis zuletzt für das »bessere Deutschland« hielt. Müller verstarb 1995 politisch enttäuscht in Berlin, nachdem ihm sein Hauptthema abhandengekommen war: der Widerspruch zwischen Ost und West, politischer und ästhetischer Avantgarde, Masse und Individuum.
Sich von Brecht her tradierend, diesen kritisierend, um fremde, avantgardistische, auch außereuropäische Einflüsse aufzunehmen, hat sich Müller mit jedem neuen Text neu geöffnete, Wege jenseits des konventionellen (auch Brecht’schen) Dramas beschritten, die Einheit von Raum, Zeit und Form sprengend. Sein unabgeschlossenes Projekt versuchte nichts weniger als eine Synthese zwischen sozialistisch-emanzipatorischer (DDR) und dissident-westeuropäisch-amerikanisch orientierter kultureller Praxis, deren historische Zeit noch nicht gekommen ist. Er konstatierte: »Ich habe genau die Illusionen gehabt wie unsere Politiker über das Zeitmaß der (revolutionären) Entwicklungen … Ich habe auch geglaubt, das geht alles viel schneller. Dann merkt man, es dauert länger als man lebt, und dann stellt man sich drauf ein, und diese Enttäuschung führt dann zu einem Widerspruch, dem Widerspruch zwischen einer individuellen Lebensdauer und der Geschichte, der Zeit des Subjekts und der Zeit der Geschichte.«1
Während Bertolt Brecht 1956 im vollen Glauben an die Zukunft des Sozialismus starb, trifft das für Heiner Müller nicht mehr zu. Zu groß war seine Enttäuschung über Stagnation, Stillstand und Dekadenz in der DDR, die er (direkt) mit rebellischer Eindringlichkeit in Gesprächen und (indirekt) in seinem Werk thematisierte und stets kompromisslos, ohne Zugeständnisse an die Partei, der er niemals beitrat, äußerte. Das macht ihn bis heute zum politisch wohl interessantesten und wirkmächtigsten deutschsprachigen Dramatiker nach Brecht.
Akte der Überschreitung
Müller meinte, die Aufgabe der Literatur sei, »die Wirklichkeit, so wie sie ist, unmöglich zu machen« und verglich sein Schreiben mit Akten der Überschwemmung, des Schocks, um »den Leuten so viel aufzupacken, daß sie nicht wissen, was sie zuerst wegtragen sollen«. Über vier Jahrzehnte hinweg gelang es ihm, sich künstlerisch stets neu zu erfinden. Das reicht von frühen, sozialistisch-optimistischen Produktionsstücken über die DDR-Übergangsgesellschaft im Brecht’schen Duktus bis zu den apokalyptischen, mit Träumen, autobiografischen Texten versehenen Montagen der 1970er und 1980er Jahre, die naturgemäß dem Verdikt des »sozialistischen Realismus« seines Heimatlandes widersprachen und desto begeistertere Aufnahme im Westen fanden. Müller verweigerte Ideologie im Zusammenhang mit Kunst und blieb dennoch immer überzeugter Marxist, der die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seismografisch verzeichnete und dramatisch punktgenau sezierte. Ihm war es weniger um Antworten als Fragen zu tun, sein Theater umkreist die Themen Geburt und Tod, die zyklische Wiederkehr von Gewalt und Terror, die verpasste Chance des Sozialismus, die bis zur Selbstvernichtung menschlichen Lebens führen könnte. Das macht den klassischen Zuschnitt seiner Texte aus, hält sie frisch und lebendig.
Geboren in Sachsen in kleinen Verhältnissen, entschied er sich 1951 – nach der Flucht der Eltern in den Westen – in der DDR zu bleiben. Ihr ist er zeitlebens treu geblieben, obwohl er Jahrzehnte Publikations-und Aufführungsverbot erdulden musste. Erst 1986 von Erich Honecker persönlich mit dem Nationalpreis Erster Klasse der DDR ausgezeichnet, erfuhr er kurz darauf von seiner vollständige Rehabilitierung durch die Wiederaufnahme in den Deutschen Schriftstellerverband. Diese sah er selbst als Zeichen des nahenden Untergangs des Staates, in dem zu leben ihm so wichtig, weil Voraussetzung für sein Schreiben, war: »Die DDR ist mir wichtig, weil alle Trennlinien der Welt durch dieses Land gehen. Das ist der wirkliche Zustand der Welt, und der wird ganz konkret in der Berliner Mauer.«2 In den Folgejahren wurde sein Theater sowohl im Westen wie auch – mit zeitlicher Verspätung – im Osten rezipiert, Müller zum Sprachrohr der linken Intelligenz, der sich regelmäßig in Medien und Publikationen zu Wort meldete.
»Einsame Texte, die auf Geschichte warten«
So bezeichnete Müller seine zuerst im Westen rezipierten zivilisationskritischen Stücke. Da man sich angesichts der realen Verhältnisse in der Welt vom Brecht’schen »Lehrstück« zu verabschieden habe, lokalisiert Müller das revolutionäre Moment der Kunst in der Form – in einem Interview, erklärte Müller 1987: »Wir müssen uns klar werden, was im Zusammenhang mit Kunst politisch ist. Das sind doch nicht einfach die Inhalte. Vielleicht hat das Godard am besten formuliert. Er sagte, die Aufgabe bestehe nicht darin, politische Filme zu machen, sondern Filme politisch zu machen. Also geht es um die Behandlung des Stoffes, um die Form, nicht um den Inhalt.«3
Für diese Erkenntnis spricht sein prophetisches Neun-Seiten-Stückfragment Hamletmaschine (1977), das in einer wüsten Collage disparate Szenen, Monologe, Chöre und Traumbilder in einer Generalabrechnung mit dem real existierenden Sozialismus zusammenpresst, ein monumentales Eingeständnis des Scheiterns linker Intellektueller mit Referenz auf Shakespeare, Lenin, Rosa Luxemburg, E. E. Cummings, Poe, Andy Warhol u. a.: »Ich war Hamlet, ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa. … ZWEITER CLOWN IM KOMMUNISTISCHEN FRÜHLING / SOMETHING IS ROTTEN IN THIS AGE OF HOPE … Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. … Mein Drama findet nicht mehr statt.«
Das Werk öffnet den Blick für das Ir rationale, Dunkle, Nicht-Beherrschbare der Geschichte, der Müller’sche nähert sich dem cineastischen Schnitt an, dekonstruiert die Erzählung und verweigert eindeutige Botschaften. Das Werk verunmöglicht den verklärten Blick auf die Geschichte, den linearen Fortschrittsbegriff; kein Wunder also, dass die Hüter des sozialistischen Realismus darauf – und seinen zunehmenden Pessimismus in späten Stücken – mit dem Vorwurf der »Formalismen« reagierten. Dies wiederum bot Angriffsfläche im Westen, das Werk des überzeugten Marxisten aus dem deutschen Osten als sozialismus-kritisch zu lesen. Ein hermeneutischer Kurzschluss durch Einvernahme in den postdramatischen Mainstream, dem es auch heute noch entgegenzutreten gilt, denn ohne fundamentale marxistischer Dialektik, die sein Werk grundiert, ist es nicht zu enträtseln.
1 Gesammelte Irrtümer, 1986, S. 168
2 Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer 1, S. 135
3 Ich weiß nicht, was Avantgarde ist. Gespräch mit Eva Brenner, Gesammelte Irrtümer 2, 1990, S. 97