Jean Ziegler in Wien. Eine Beobachtung von EVA BRENNER.
»Ich glaube, Satre hatte Recht: Um die Menschen zu lieben, muss man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.« Jean Ziegler
Dass wir mit dem Kapitalismus nicht in der besten aller Welten leben, hat Jean Ziegler, Schweizer Soziologe, Aktivist und Revolutionär, der zu den international schärfsten Globalisierungskritikern zählt, von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung war und derzeit Mitglied des UN-Menschenrechtsrates ist, immer wieder deutlich gemacht. Dieser Tage war Ziegler, der am 19. April seinen 85. Geburtstag feierte, in Wien, wo er u. a. sein neues Buch »Was ist so schlimm am Kapitalismus?« vorstellte, in dem er »Antworten auf die Fragen meiner Enkelin« gibt. In einer Wiener Vorlesung stellte er sich am 1. April den Fragen eines Publikums von über 1.400 Interessierten; tags darauf sprach der Star der unorthodoxen Linken im voll besetzten Kardinal-König Haus auf Einladung der SPÖ und nahm die Otto-Bauer-Plakette für Verdienste im Kampf gegen Rechtsradikalismus und Faschismus entgegen (verliehen vom Bund Sozialistischer Freiheitskämpfer).
In seinen scharf geschliffenen, politisch radikalen Ausführungen legte Ziegler dar, welchen unmenschlichen Preis wir alle tagtäglich für die »kannibalische Weltordnung« namens Kapitalismus zahlen, der in seinen Augen »radikal zerstört« werden müsse. Für Ziegler steht viel auf dem Spiel, stellt die Abschaffung des Kapitalismus doch eine unhintergehbare Utopie dar, an deren Verwirklichung bereits Millionen von Menschen in weltweit wachsenden Widerstandsfronten arbeiten. Mit dem zusehenden Erstarken der aktivistischen Zivilgesellschaft ziehe eine neue, kraftvolle Antwort auf die Geschichte der Ausbeutung herauf.
Ich kenne Jean Zieglers Bücher über das Skandalon des Kapitalismus: den künstlich produzierten Hunger in Ländern der Dritten Welt, den skandalösen Reichtum mächtiger Konzerne und Oligarchen, die »Herrscher dieser Welt«, und die notwendige Wut der globalen Zivilgesellschaft, die sich in kommenden, berechtigten »Aufständen« Luft verschaffen werde. Zieglers Analysen, Einsichten und Prämissen verdanke ich unentbehrliche Informationen über den prekären Zustand dieser krisengeschüttelten Welt. So hat sein eindringliches Pamphlet Der Aufstand des Gewissens – Die nicht-gehaltene Festspielrede 2011, das Ziegler für die Eröffnung der Salzburger Festspiele verfasste und ob seines provokanten Inhalts von der Festspielleitung zensuriert bzw. Ziegler umgehend wieder ausgeladen wurde, den Grundstein für eine politische Theaterperformance desselben Titels gelegt.1
Was ist so schlimm am Kapitalismus?
Die dramaturgische Volte des neuesten Ziegler-Buch besticht: Mit erstaunlicher Leichtigkeit gelingt es dem Bestsellerautor, den Spannungsbogen eines auf den ersten Blick naiv wirkenden Dialogs zwischen der Enkelin Zohra, die als Synonym für alle (noch) Uninformierten steht, und seinem avancierten Wissen über Wesen und Wirkungsweise des Kapitalismus aufrecht zu halten. In kurzen, prägnanten Antworten auf die sinnfälligen Fragen des Kindes bietet der kritische Denker ein verheerendes Fazit des kapitalistischen Systems, das heute die gesamte Weltbevölkerung ausreichend ernähren könnte, jedoch tagtäglich Mangel, Zerstörung und Ungleichheit hervorbringt. Ist es doch Tatsache, dass der Großteil der Weltbevölkerung weder über ausreichende Nahrung, Behausung, Bildung, Entwicklungs- und Zukunftschancen verfügt. Desgleiche fehlt es den meisten Menschen auch in der sogenannten entwickelten Welt an dem nötigen Wissen, das Voraussetzung wäre, um eine substantielle Veränderung des Systems herbei zu führen. Umso mehr verstörten Reaktionen mancher links/liberaler BerichterstatterInnen, wie beispielsweise eine Kolumne von Haus Rauscher im Standard, der den verdienstvollen Globalisierungskritiker als »längst politisch verrannt« bezeichnet und hinzufügt: »Schon seit ziemlich langer Zeit ist er in ein autoritär-linkes Sektierertum abgeglitten, wohin ihm aufgeklärte Linke und Liberale nicht folgen sollten.« Rauscher zitiert Zieglers Aussage, dass ein gesellschaftlicher Umsturz »ohne Gewalt ….nicht gehen« wird und nennt diese Ansicht »pseudorevolutionären Unsinn«.2
Ziegler bemüht für seine Streitschrift das performative Prinzip des Dialogs, um dieses grundlegende Wissen, das sich seit Karl Marx’ Zeiten in nachgerade unüberschaubarer Weise angesammelt und ausdifferenziert hat, unter die Leute zu bringen. So schafft es der charismatische Volksbildner, auch Menschen zu erreichen, die sicher keine »MarxistInnen« sind, keine werden wollen, die weder sehr politisch sind noch linke Parteien wählen. Indem er als Gesprächspartnerin ein Kind wählt und komplexe Zusammenhänge in so einfach verständliche wie elegante Worte zu kleiden versteht, baut er Berührungsängste ab und berührt die Neugier auch jener, die von linken Parteien und Bewegungen traditionell vernachlässigt, wenn nicht verachtet werden. Diese nämlich gilt es zu gewinnen, wenn es zu der anvisierten Systemveränderung kommen soll, um das Rad der Geschichte zugunsten der Mehrheit umzudrehen – noch bevor sich eine international hochgerüstete Rechte mit ihren konservativen PartnerInnen endgültig konsolidiert hat.
Die kindlichen Fragen kennt jede/r aus dem eigenen Leben, selten werden sie jedoch offen geäußert, sei es aus Scham, als ungebildet zu gelten, sei es in der irrigen Annahme, die Antworten bereits zu kennen. Sich dem Sprachduktus des Kindes anpassend, schafft er es mühelos, die verheerenden Raubzügen und die Folgen von Neo/Kolonialismus zu erklären, um letztendlich bei der fantastischen Geschichte der historischen Revolutionen mit ihrer Utopie einer besseren Zukunft zu landen. Der neuerliche Aufruf nach einem neuen Sozialismus als Alternative zur »kannibalischen Weltordnung« des Kapitalismus eröffnet für Ziegler ein populär wirksames Forum, um die gesellschaftspolitische Wirkungsweisen des Kapitalismus, die primitive Akkumulation, die Verdienste des Marxschen Kapitals sowie die Entstehung der systemisch produzierten Verwerfungen von Armut, Krieg und Hunger anschaulich zu machen. Bisweilen überfällt den/die Leser/in Wehmut, hätten sich doch viele von uns, die wir uns dieses Wissen in jahrzehntelanger außerschulischer Bildungsarbeit mühsam aneignen mussten, nach solchen Eltern, Großeltern, LehrmeisterInnen gesehnt!
Bleibt ein einziger Wermutstropfen: der Dialog mit der Enkelin wirkt streckenweise merkwürdig schematisch! Wie schön wäre es gewesen, hätte es sich der radikale Visionär und phänomenale Erzähler Ziegler gestattet, bisweilen das Kind aus der eigenen (Schweizer) Erlebniswelt von Schule, Familie, Freundeskreis sprechen zu lassen. Es hätte den hochkarätigen, ästhetischen Kontrapunkt zum Erzählwerk gesetzt und der ansonsten sachlichen Berichterstattung, für die das Kind die Stichworte liefert, ein pointiertes Schlaglicht auf unsere heutige zerrissene Wirklichkeit geworfen.
Aufgrund von Jean Zieglers Wien-Aufritt stellte kürzlich die FPÖ eine dringliche Anfrage im Österreichischen Parlament, um den anerkannten Soziologen, Autor und Pädagogen als »Terroristen« an den Pranger zu stellen. So hetzte die FPÖ-Politikerin Ursula Stenzel, die SPÖ wolle sich vom linksextremen Jean Ziegler nicht distanzieren: Laut Heute fragte die FPÖ-Stadträtin Ursula Stenzel die SPÖ-Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, wie es zu der Verleihung der Otto Bauer-Medaille an »den überzeugten Kommunisten Jean Ziegler gekommen sei.« Sie fragte, ob die Verleihung ausgerechnet dieser Medaille an einen »bekennenden Befürworter von Gewalt, der sich Che Guevara andienen wollte, Kaup-Haslers Wohlwollen fände«.3
Dem Intellektuellen und Globalisierungsgegner Ziegler gelingt es mühelos, größere Massen nicht nur Linker oder links-bewegter Menschen zu begeistern. »Die größten transnationalen Konzerne haben eine Weltdiktatur errichtet, deren einzige Strategie die Gewinnmaximierung ist«, sagt Ziegler und zitiert zwischendurch Immanuel Kant, Theodor W. Adorno, Jean-Paul Sartre und Che Guevara. Mit Letzterem verbindet ihn eine besondere Erinnerung, war er doch einst als junger Mann sein Chauffeur bei einem offiziellen Genf Besuch. Mit Worten Ches – »die stärksten Mauern fallen durch Risse« – unterstützt er die internationalen Widerstands-, StudentInnen-, Gelbwesten und Klimaprotestbewegungen. Seine Hoffnung auf die weltweite Zivilgesellschaft, in deren Händen in seinen Augen die Zukunft liegt, hat er nicht verloren: »Ich hoffe, dass ich auch noch das Ende des Kapitalismus erleben werde«, sagt er abschließend, ohne voraussagen zu können, was aus den Ruinen entstehe, wenn die Allmacht einstmals gebrochen sein wird.
1 s. www. experimentaltheater.com, Archiv FLEISCHEREI_mobil 2013
2 Siehe H. Rauscher, 5.4.2019, derstandard.at/ 2000100913985/Das-Problem-mit-Jean-Ziegler
3 www.ots.at/presseaussendung/OTS_20190409_OTS0193/fp-stenzel-spoe-will-sich-von-linksextremem-jean-ziegler-nicht-distanzieren
Jean Ziegler ist Soziologe, emeritierter Professor der Universität Genf und bis 1999 Nationalrat im Eidgenössischen Parlament. Von 20002–2008 war er UN-Sonderberater für das Recht auf Nahrung. Heute ist er Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats und Träger verschiedener Ehrendoktorate und Preise. Zahlreiche Buchpublikationen, zuletzt Warum wir weiter kämpfen müssen (2018).