»Cuba könnte das Dreifache seiner jetzigen Bevölkerung wunderbar ernähren, es gibt keinen Grund dafür, dass seine Bewohner im Elend leben müssen. Die Märkte müssten von Produkten überquellen; die Speisekammern in den Häusern müssten voll sein; alle Arme könnten arbeiten und produzieren. Nein, das ist nicht unbegreiflich. Unbegreiflich ist, dass es Menschen gibt, die sich hungrig schlafen legen, solange es noch eine Handvoll unbebautes Land gibt; unbegreiflich ist, dass Kinder ohne ärztliche Hilfe sterben, dass dreißig Prozent unserer Landbevölkerung nicht ihren Namen schreiben können und neunundneunzig Prozent nichts von kubanischer Geschichte wissen; unbegreiflich ist, dass die meisten Familien auf dem Lande unter schlechteren Bedingungen leben als die Indianer, die Columbus traf, als er das schönste Land entdeckte, das Menschenaugen je gesehen haben.«
Diese Worte sprach Fidel Castro am 16. Oktober 1953 in seiner Verteidigungsrede vor dem Gericht in Santiago, als er wegen des von ihm organisierten Angriffs auf die Moncada-Kaserne angeklagt wurde. Darin forderte Castro unter anderem eine Landreform, ein Ende der Arbeitslosigkeit und freien Zugang zu Bildung und Gesundheit. Haben sich seine Erwartungen nach der erfolgreichen Revolution erfüllt?
Periodo Especial überwunden
Wir wollten es genau wissen und schlossen uns einer Exkursion an, die von Stefan Krenn, einem Kuba-Solidaritätsaktivisten seit den frühen 90er Jahren, organisiert wurde. Über den Verein »Buena Vista – Solidarität mit Kuba« sandte er bereits zahlreiche Container mit Hilfsgütern auf die Insel, gerade auch in der Zeit, als Kuba es am dringendsten brauchte – in der Periodo Especial. Damals brach die Wirtschaftsleistung des Landes als Folge des fast kompletten Ausfalls der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit den ehemaligen osteuropäischen sozialistischen Staaten um 80 Prozent ein.
Einer der Autoren beim Fleischer ums Eck.
Davon hat sich Kuba wieder erholt und aufgerappelt, die Versorgung der Bevölkerung hat sich stabilisiert, das Angebot ist gewachsen, neue Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu anderen lateinamerikanischen Ländern (insbesondere Venezuela) und China wurden aufgebaut. Die Staatsschulden gegenüber Russland aus der Zeit der Sowjetunion konnten drastisch reduziert werden. Es besteht die Hoffnung, dass sich nach Aufhebung des »Gemeinsamen Standpunkts« der EU gegen Kuba auch die Wirtschaftsbeziehungen mit Europa intensivieren. Trotz allem: Die US-Sanktionen sind – wie in den letzten 50 Jahren – weiter aufrecht und behindern die Entwicklung des Landes an allen Ecken und Enden. Der Verfall der Wohnhäuser in der Altstadt von Havanna hat katastrophale Ausmaße angenommen, im Kontrast zu von der UNESCO hervorragend sanierten historischen Plätzen.
Jedes Jahr bricht Stefan Krenn mit einer kleinen Reisegruppe nach Kuba auf und besucht die Einrichtungen – Schulen, Kindergärten, Gesundheitseinrichtungen, Betriebe und Kulturgruppen –, die in Zusammenarbeit mit der kubanischen Gewerkschaft seit vielen Jahren unterstützt werden. Es sind vor allem Projekte in der Provinz Holguín im Osten der Insel. Auf diese Weise konnten wir einen Einblick in den kubanischen Alltag gewinnen, den »normale« Touristen an den Stränden gewöhnlich nicht erhalten. Hier eine – natürlich – subjektive Auswahl.
Wir kamen im Oktober an, kurz nachdem Hurrikan Matthew Haiti verwüstet, den Sudostzipfel Kubas gestreift und die Stadt Baracoa zu 80 Prozent zerstört hatte. Dass auf Kuba zum Unterschied von Haiti keine Todesopfer zu beklagen waren, stand nicht in den Medien. Der Grund für den für die Menschen in Kuba glimpflichen Ausgang ist der gut organisierten Zivilschutz, der imstande ist, in kurzer Zeit nach der Sturmwarnung Hunderttausende Menschen zu evakuieren und in Sicherheit zu bringen. Einer unserer ersten Besuche galt der offiziellen Freundschaftsgesellschaft Kubas ICAP in Holguín, der wir 4.000 Euro an Spenden für die Hurrikanopfer und zwei Notfallrucksäcke übergaben, die ein Arzt aus einem Wiener Krankenhaus zur Verfügung stellte.
Holguín ist mit über 200.000 Einwohnern die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und die drittgrößte Stadt Kubas. Das Stadtzentrum ist nach typisch spanischer Kolonialart rasterförmig angelegt und mit ein- und zweistöckigen Häusern dicht bebaut. Frisch renovierte Objekte stehen neben verfallenden. Es ist offensichtlich, dass sehr vielen das Geld zur Erhaltung der Bausubstanz fehlt, eines der großen Probleme, denn über 80 Prozent der Menschen wohnen im eigenen Häuschen oder ihrer Eigentumswohnung. Errichtet eine Familie ein Haus, wird es in der Regel zunächst ebenerdig gebaut. Werden die Kinder erwachsen, wird aufgestockt. So wächst die Stadt weniger in die Breite, sondern Stockwerk für Stockwerk in die Höhe. Eine der Reformen der letzten Jahre betrifft das Haus- und Wohnungseigentum. Dieses darf nun an Inländer in konvertibler Währung verkauft werden, die es für den Eigenbedarf erwerben können. Wie wir erfahren, besteht die eigentliche Schwierigkeit darin, an Kredite heranzukommen, die ziemlich teuer sind.
Transportmittel: alt und neu.
Zwei Währungen
Seit 1994 existiert neben dem nationalen Peso (moneda nacional, Peso cubano, kurz CUP) eine zweite Währung, der konvertible Peso (Peso convertible oder CUC), der 25 CUP entspricht. Die Gehälter werden in CUP ausgezahlt. Sie dienen vor allem zum Bezug staatlich subventionierter Waren und Dienstleistungen, während Importwaren und Immobilien vorwiegend in CUC (ein CUC entspricht etwa einem Euro) verrechnet werden. Über CUC verfügen auch diejenigen Familien, die Überweisungen aus dem Ausland, überwiegend den USA erhalten. Ausländische Touristen benötigen für Unterkunft, Taxis, Autovermietung und Gastronomie ausschließlich CUC.
Der CUC ermöglicht Kuba Deviseneinnahmen, ist aber ein dauernder Anlass für Ungleichheit. Nur Menschen, die im Bereich des Tourismus arbeiten, haben direkten Zugang zum CUC. Eine in den letzten Jahren verstärkt genützte Möglichkeit für Zusatzeinkommen ist die Vermietung von Privatquartieren (casas particulares), die in vielen Orten angeboten werden und günstiger als die staatlichen Hotels sind. Im Oktober 2013 kündigten offizielle Stellen Pläne zur Zusammenführung der beiden Währungen an, bisher sind allerdings immer noch beide in Kraft.
Kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung
Etwa 30% der Kubaner sind unter 30. Es ist klar, dass Bildung und Gesundheit eine entscheidende Rolle für die Zukunft Kubas haben. Schulen, Schulbücher und Schulmaterial sind gratis, sogar die Pflicht-Schuluniform ist stark subventioniert. Wir besuchten Kindergärten, darunter auch einen für seh- und hörbehinderte Kinder und einen für psychisch beeinträchtigte Kinder. Der Mangel an materieller Ausstattung wird teilweise durch verstärkte menschliche Zuwendung ausgeglichen. Für die 25 psychisch beeinträchtigten Kinder im Spezialkindergarten »Pelusi« stehen 26 (ausschließlich weibliche) Betreuungskräfte zur Verfügung. Eine der derzeitigen Betreuerinnen war selbst als Kind im Kindergarten. Es wird kein Kind zurückgelassen. Üblicherweise beträgt das Verhältnis Pädagoginnen zu Kinder 1 zu 5. Es gibt auch private Kindergärten, die natürlich kosten, die wir aber nicht kennenlernten. Wir besuchten auch Einrichtungen des Gesundheitswesens: die Kinderklinik in Holguín und die Poliklinik im Kreis Baguano. In den von uns besuchten Spitälern erreichen Ärzte Gehälter bis zu 1400 Pesos, die Durchschnittsgehälter liegen bei nur 300-400 Pesos immer noch sehr niedrig. Auf unsere Frage in der Poliklinik, wer vom medizinischen Personal bereits einen Auslandseinsatz absolviert hat, hob etwa ein Drittel der 20 Anwesenden die Hand.
Eine Besonderheit des kubanischen Gesundheitswesens sind die Familienärzte, die für eine bestimmte Anzahl von Familien in Stadt und Land zuständig sind. Die Kindersterblichkeit ist auf 4,2 Promille (zum Vergleich Haiti: 52,2 Promille) gesunken, die Lebenserwartung auf knapp 80 Jahre gestiegen, was kein anderes lateinamerikanisches Land erreicht und dem Niveau entwickelter Industrieländer entspricht, obwohl die US-Blockade gerade auch im Gesundheitswesen spürbar ist (manche Medikamente und medizinische Geräte fehlen).
Veraltete Produktionsanlagen
In der von uns besuchten Zuckerfabrik erfahren wir vom Direktor folgende Eckdaten: Aus dem regionalen Einzugsgebiet werden von 400 Beschäftigten im Schnitt etwa 30.000 Tonnen Zucker hergestellt, die an die verarbeitenden Betriebe (z. B. für die Rumproduktion) geliefert werden. Die Kapazitätsgrenze liegt aber bei 58.000 Tonnen, die – so hofft der Direktor – heuer fast erreicht werden wird. Das Zuckerrohr wird in den Monaten Dezember bis April angeliefert und verarbeitet. In den Monaten dazwischen wird repariert. Wir können uns davon überzeugen, dass die Maschinen dem technologischen Stand von vor Jahrzehnten entsprechen. Es sind ausschließlich mechanische Maschinen zu sehen, elektronisch ausgestattete Maschinen fehlen.
Die Arbeiter erhalten im Schnitt das ganze Jahr über um die 1000 Pesos im Monat, sind also deutlich besser bezahlt als sonst in Kuba. Der Produktionswert aus der durchschnittlichen Ernte beträgt 20 Mio. Pesos. Das entspricht etwa 800.000 Dollar. Es ist klar, dass auf Basis des bestehenden Wechselkurses der (geringe) Teil, der für Exporte bestimmt ist, die Devisen nicht aufbringen kann, um modernere Maschinen aus dem Ausland anzuschaffen.
Dieses Problem hat die von uns besuchte Tabakfabrik nicht, denn die Herstellung der berühmten Zigarren – wichtiges Exportprodukt – erfolgt im Manufakturbetrieb, d. h. fast ausschließlich händisch in arbeitsteiligen Schritten. Wir sehen dort fast nur junge Leute (manche mit Kopfhörern) an den Tischen, ein Zeichen dafür, dass die Arbeit zwar gut bezahlt, aber anstrengend und nicht lange durchzuhalten ist.
Die Folgen der Blockade
In den 1990er-Jahren wurde vielen Fabriken, Spitälern, Schulen und Einrichtungen der Verwaltung ungenutztes Land zugeteilt, um Nahrungsmittel für die betriebseigenen Küchen zu produzieren oder um sie zu reduzierten Preisen an die Beschäftigten abzugeben. Diese Zusatzproduktion verbesserte die Versorgung der Bevölkerung. Ein Beispiel dafür haben wir besucht: Auf der Finca der Gewerkschaft, die für die Angestellten der Gewerkschaft produziert und für die »Buena Vista« eine Bewässerungsanlage installiert hat, wird mit zwei Büffeln gepflügt.Wir sehen zwar auch Traktoren während unserer Rundfahrt, aber primitive Anbaumethoden dominieren nach wie vor die Landwirtschaft. Das Zuckerrohr laugt die Böden sehr stark aus, sodass sich die Flächen nach etwa zehn Jahren erholen müssen. Es mangelt an Düngemitteln.
Auf der Finca
Nahe dem Hotel Salton bei File, das an einem paradiesischen Platz in der Sierra Maestra liegt, sprechen wir mit einer Familie, die Kaffeeanbau betreibt. Trotz der abgelegenen Gegend studiert die Tochter des Hauses, die gleichzeitig auch die Funktion einer Sekretärin der Kaffeegenossenschaft ausübt, in Santiago. Ein Blick in die Küche zeigt eine offene Feuerstelle zum Kochen gleich neben einem Induktionsherd. Auch das ist Kuba.
Carlos Marx und Frederico Engels wurden sichtlich gelesen.
Die Bibliothek einer polytechnischen Schule in der Provinz enthält viele abgegriffene, meist Jahrzehnte alte Bücher, ein offensichtliches Zeichen, das sie gelesen werden, aber wir bemerken auch in der Aula eine offenbar vor kurzem per Hand mit Kreide beschriebene Tafel: »191 : 0« (siehe Bild). Es ist das Ergebnis der an diesem Tag erfolgten jährlichen Abstimmung über die Verurteilung der US-Blockade in der UNO-Vollversammlung. Erstmals haben sich die USA und Israel, statt dagegen zu stimmen der Stimme enthalten, eine diplomatische Geste der abtretenden Obama-Administration ohne unmittelbare Folgen. Was ein US-Präsident Trump in dieser Hinsicht bedeutet, lässt sich noch nicht absehen. Raúl Castro hat dem neuen Präsidenten gratuliert, aber gleichzeitig Militärmanöver angekündigt.
Das Ergebnis der UN-Abstimmung.
Armut ja, Elend nein
Zurück in Holguín besuchen wir den großen Markt, der aus einem privaten und einem staatlichen Teil besteht. Das hat den ökonomischen Effekt, dass die Preise bei den staatlichen Ständen das Preisniveau bestimmen. Allerdings kostet Fleisch auch im staatlichen Laden an die 25 Pesos das Kilo, was für Einkommen, die ausschließlich aus nationalen Pesos bestehen, sehr teuer ist. Das Angebot ist in beiden Teilen vielfältig und von guter Qualität. Es wird auch mehr Gemüse als früher angeboten, was darauf schließen lässt, dass sich die Ernährungsgewohnheiten doch langsam ändern, und das früher verachtete »Grünzeug« öfter Beachtung findet. Uns fällt auf, dass ausgerechnet Knoblauch nur von privaten Händlern in großen Gebinden angeboten wird.
In Kuba gibt es etwas Ähnliches wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, das über die »Libreta« bezogen wird. Über dieses Heft kann jeder Haushalt bestimmte Mengen an Grundnahrungsmitteln und Haushaltswaren zu stark subventionierten Preisen beziehen, unabhängig ob er oder sie arbeitet und unabhängig von der Höhe des Einkommens. Diese Lebensmittel werden in dafür bestimmten Läden abgegeben. Es gibt, sagt Stefan, der das Land seit 25 Jahren kennt, noch weit verbreitete Armut, aber es gibt nicht zuletzt dank der Libreta kein Elend.