Michael Graber fasst die Inputs und Diskussionsergebnisse einer prominent besetzten und kompetenten Podiumsdiskussion zusammen, die am 13. März März von der Zukunftswerkstatt Gesundheitspolitik in der FAKTory (ÖGB-Buchhandlung Wien) veranstaltet wurde. Wem also gehört die Sozialversicherung wirklich?
In Österreich sind über 99% der Bevölkerung krankenversichert und über 2,5 Millionen Menschen beziehen eine Pension aus der Pensionsversicherung. Trotzdem ist die Sozialversicherung im Bewusstsein der meisten Menschen ein mehr oder weniger unbekanntes Wesen, oder eine Art Amt, das man/frau punktuell in bestimmten Fällen kontaktiert muss. Da scheint die Frage, wem die Sozialversicherung gehört, weit weg oder überflüssig. Die Frage ist aber wichtig und leicht zu beantworten: Natürlich gehört sie über die Selbstverwaltung den Versicherten. Allerdings, so einfach wie es scheint, ist die Sache nicht.
Die abgeschaffte Selbstverwaltung
Die Beiträge zur Krankenversicherung setzen sich zu 3,87% aus Beiträgen der Arbeiter*innen und Angestellten und zu 3,78% aus Beiträgen der Arbeitgeber*innen zusammen, die der Pensionsversicherung zu 10,25% bzw. zu 12,55%. Daraus wird die Zusammensetzung der leitenden Gremien der Sozialversicherung abgeleitet. In der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), der ehemaligen Gebietskrankenkasse, die die Beiträge der Versicherten verwaltet, bedeutet das, dass die Versicherten und die Arbeitgeber*innen jeweils »paritätisch«, nämlich 1:1 vertreten sind.
Diese Parität ist erst 2018 durch die Reform der schwarz-blauen Regierung, mit der Zusammenlegung der Krankenkassen erfolgt – flankiert von der großspurigen Ankündigung des damaligen Kanzlers Kurz, diese Reform werde eine Patientenmilliarde freimachen. Das Gegenteil war der Fall, sie kostete hunderte Millionen Euro und hinter dem Propagandavorhang wurde eine machtpolitische Verschiebung durchgesetzt. Vorher war das Verhältnis zwischen Versicherten- und Arbeitgebervertreter*innen 2:1. Real bedeutet aber das heutige »paritätische« Verhältnis ein Übergewicht für die Unternehmer*innen, da meist parteipolitisch abgestimmt wird. Die Zusammensetzung der Versichertenvertreter*innen ergibt sich nämlich aus der jeweiligen Fraktionsstärke nach der letzten Arbeiterkammerwahl und da ist immer ein Schwarzer dabei, der meist mit den ÖVP-nahen Unternehmervertreter*innen mitstimmt, wie der Co-Direktor der ÖGK Andreas Huss berichtete. Im Dachverband der Sozialversicherungsträger ist das Übergewicht der Unternehmervertreter*innen noch größer.
Die versicherten Arbeiternehmer*innen haben also keine bestimmende Mehrheit in den Institutionen, die ihre Beiträge verwalten. Es handelt sich immerhin allein in der ÖGK um über 18 Mrd. Euro (2023).
Ein historisch fortwirkender Trick
Nun stellt sich die Frage, wieso die Unternehmervertreter*innen (in der Regel aus der Wirtschaftskammer) nicht nur eine so starke Stellung in der Krankenversicherung besitzen, sondern wieso sie überhaupt in die Krankenversicherung Eingang gefunden haben. Dazu griff Prof. Emmerich Talos in die Entstehungsgeschichte der Krankenversicherung zurück. Die ersten Versicherungsvereine der Arbeiter im 19. Jahrhundert existierten ausschließlich in Form der Selbstverwaltung. Erst als die Sozialversicherung Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts auf eine gesetzliche Grundlage gestellt wurde, meldete die Bourgeoisie ihr Interesse an, um eine gewisse Kontrolle über die kumulierten Versicherungsbeiträge zu erhalten. Die Unternehmer*innen waren aber nicht die Versicherten, also wie konnte sie in die Selbstverwaltung einbezogen werden?
Der Trick bestand darin, einen Teil der Beiträge der Versicherten durch die Unternehmer*innen einzahlen zu lassen und sie als »Dienstgeberbeiträge« zu deklarieren. Tatsächlich sind sowohl Dienstnehmer- als auch Dienstgeberbeiträge Lohnbestandteile. So sicherten sich Unternehmer Sitz und Stimme in der Selbstverwaltung, ohne tatsächlich aus ihren Einkommen in die Versicherung einzuzahlen.
Der Kampf um die »Lohnnebenkosten«
Die gemeinhin als »Dienstgeberabgaben« bezeichneten Lohnbestandteile werden als »Lohnnebenkosten« ausgegeben und einem ständigen Druck durch die Unternehmerverbände und ihrer publizistischen Helfer*innen ausgesetzt. Da man schwerlich direkte Lohnkürzungen durchsetzen kann, versuchen sie es indirekt über die sogenannten Lohnnebenkosten. Jede Verringerung der Dienstgeberabgaben zur Sozialversicherung wäre nichts anderes als Lohnkürzung. Dem dient auch das Gerede von der »zu hohen Belastung des Faktors Arbeit«, womit in erster Linie eben die Lohnnebenkosten, also die Dienstgeberabgaben zur Sozialversicherung gemeint sind.
Die Veranstaltung der Zukunftswerkstatt Gesundheitspolitik mündete in die Fragestellung, wie die Versicherten tatsächlich wieder in den Besitz der Sozialversicherung gelangen könnten. Dazu sind neue gesetzliche Maßnahmen notwendig, die den Einfluss der Versicherten stärken und den der Unternehmer*innen zurückdrängen. Da diese gesetzlichen Grundlagen aber der jeweiligen Regierungsmehrheit im Parlament ausgesetzt sind, wäre auch die verfassungsrechtliche Verankerung der Selbstverwaltung notwendig.
In der Diskussion wurde auch die Frage aufgeworfen, wie die Sozialversicherung und die Selbstverwaltung wieder näher ins Bewusstsein der Arbeiter*innen und Angestellten gerückt werden könnte. In Deutschland gibt es etwa alle sechs Jahre die Sozialwahlen für die einzelnen Versicherungsträger. In Österreich könnte eine solche Wahl der Versicherungsvertreter*innen zusammen mit der Arbeiterkammerwahl organisiert werden.