Seit dem ersten Tag des russischen Angriffskrieges verläuft die Front nicht nur durch ukrainische Landschaften und Städte. Auf Twitter, Telegram und TikTok findet der Krieg mit anderen Mitteln seine Fortsetzung. Einen Überblick über die verworrenen Kampflinien durch die sozialen Medien liefert Klemens Herzog
Millionen Fotos und Videos aus der Ukraine finden derzeit weltweite Verbreitung. Jede und Jeder kann Beiträge in Echtzeit veröffentlichen und kommentieren. So erreicht die siebenjährige Amelia, die in einem Kiewer Luftschutzkeller die Titelmelodie des Disney-Kinderhits Frozen singt, das gleiche Millionenpublikum wie Arnold Schwarzenegger, der über Twitter zu einem Ende der Kampfhandlungen aufruft oder der Kater Stepan, der auf Instagram von seiner Flucht aus Charkiw berichtet. Staatlich kontrollierte Medien und unabhängige (Kriegs)berichterstatterInnen gibt es zwar nach wie vor, ihre Bilder reihen sich aber nahtlos ein in die selbst zusammengesetzten oder algorithmusgesteuerten Feeds der User Innen.
»Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit«, lautet ein geläufiges Zitat, das dem 1866 geborenen US-Politiker Hiram Johnson zugeschrieben wird. Diese Wahrheit ist für die Opfer eines Krieges mehr als konkret. Ein lebloser Körper ist ein lebloser Körper. Ein zerbombtes Haus ein zerbombtes Haus. Doch taucht man ein in die virtuellen Parallelwelten eines Krieges, so erscheint es dem Betrachter anders. Zum realen Schlachtfeld gesellt sich ein digitaler, deformierter Zwilling: Wer die Guten sind und wer die Bösen, wer die Opfer, wer die Täter, das entscheidet die Linse, durch die man blickt.
Die zunehmende Bedeutung der sozialen Medien lässt sich erahnen, wenn man beobachtet, wie erbittert um ihre Kontrolle gekämpft wird. So wurde in Russland kurz nach Beginn der Invasion der Zugang zu Facebook, Twitter und Instagram blockiert beziehungsweise erheblich erschwert. Laut der Kommunikationsbehörde Roskomnadsor
geschah dies als Reaktion auf die Sperre russischer Seiten auf diesen Plattformen. Der Aufbau einer parallelen Infrastruktur unter eigener Kontrolle wird dabei zügig vorangetrieben. So präsentierten russische Entwickler schon wenige Tage nach Sperre der Foto- und Videoplattform Instagram einen exakten Nachbau unter dem Namen Rossgram.
Mittendrin im Krieg
Viel wichtiger als Twitter und Facebook ist im Kriegsgebiet aber die App Telegram. Das besondere an Telegram ist, daß weder staatliche Zensur noch sonstige ungewollte Eingriffe wie Faktenchecks oder Löschungen zu befürchten sind. Schätzungsweise jeder vierte russische Einwohner verfügt über einen Telegram-Account. Mit diesem können nicht nur (verschlüsselte) persönliche Nachrichten ausgetauscht werden. Über sogenannte Channels ist es möglich, dass ein Account mit einer Vielzahl an AbonenntInnen kommuniziert. Dem ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelensky und seinen täglichen Ansprachen folgen etwa über 1,5 Millionen NutzerInnen, ebenso wie dem im Kriegsgebiet befindlichen tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow. Dort sieht man etwa Videos von bärtigen Männern, die mit breitem Grinsen Raketen durch ukrainische Dörfer jagen. Direkt vom Schlachtfeld berichten Channels wie »Операция Z« (dt. Operation Z) oder »WarGonzo« mit mehreren Hunderttausend FollowerInnen. Die Beiträge können dabei geliked, kommentiert oder gar mit Herzchen versehen werden. Der ganze Schrecken dieser Funktionen offenbart sich bei näherer Betrachtung: So bekommen Videos mit getöteten feindlichen Soldaten tosenden Beifall, jeder abgefeuerte Sprengkörper wird frenetisch bejubelt und Kriegsgefangene werden ins Gulag oder gleich in die Hölle gewünscht. Es sind Einblicke in menschliche Abgründe, die wohl auch ohne Social Media vorhanden wären, so aber auch tausend Kilometer weit entfernt wahrnehmbar werden.
Alarm per App
Neben dem Verbreiten militärischer Erfolge und Durchhalteparolen übernehmen soziale Medien für die Kriegsparteien immer mehr militärische Funktionen. So wird über den Telegram-Channel »Ukraine NOW« (1,2 Millionen AbonenntInnen) die Zivilbevölkerung unter anderem vor bevorstehenden Luftschlägen gewarnt. Ebenfalls auf Telegram setzt die ukrainische Armee einen Crowdsourcing-Bot namens »єВорог« (dt. hier ist der Feind) ein. Über diesen kann die lokale Bevölkerung anonym Standorte und Stellungen russischer Einheiten melden. Auch die Technologie des umstrittenen US-Unternehmens Clearview AI soll zum Einsatz kommen. Nach Angaben des ukrainischen Digitalministers Mikhail Fedorow soll die 10 Milliarden Fotos umfassende Gesichtsdatenbank des Unternehmens (darunter zwei Milliarden Fotos vom russischen Facebook-Pendant VKontakte) genutzt werden, um tote russische Soldaten zu identifizieren und ihre Angehörigen zu informieren.
Tränen und Traktoren
Nicht mit scharfer Munition schießen hingegen Twitter-Accounts wie die »Ukrainian Memes Forces«. Sogenannte Memes, in der Regel humoristische Bilder und Kurzvideos mit Anspielungen an Popkultur, Kinofilme und süße Tiere werden auch im Kontext des Krieges massenhaft verbreitet. Viral gingen etwa Motive ukrainischer Bauern, die mit ihren Traktoren russische Panzer abschlepp ten oder Putins Vorliebe für außergewöhnlich lange Tische. Diese heitere Kommentierung des Schreckens, manche sprechen von einer Memeifizierung des Krieges, ist prinzipiell nicht neu. So wurden Diktatoren und Kriegsfürsten immer schon subversiv durch den Kakao gezogen. Wie schnell sich aber ein Schmunzeln in Tränen verwandeln kann, zeigen die TikTok-Videos der jungen ukrainischen Fotografin »valerisssh«. Mit herzzerreißendem Sarkasmus schildert sie den Alltag in Luftschutzkellern und schließlich ihre Flucht über Polen nach Italien. In Sicherheit erfuhr sie Ende März, dass ihr 18-jähriger Bruder in der Ukraine umgekommen ist.
Bei aller Hoffnung auf ein baldiges Ende dieses Krieges, sollten wir uns also darüber im Klaren sein, dass die Wunden, die dieser Krieg aufreißt und die Narben, die er hinterlassen wird, noch lange spürbar sein werden. Sie werden nicht durch Likes und Shares verschwinden.