Als Paul McCartney mit »Снова в СССР« 1988 ein Album mit Rock ’n’ Roll-Klassikern exklusiv in der Sowjetunion veröffentlichte, befand sich das Land bereits in den ersten Zügen seiner tragischen Auflösung. Dem nach einem 1968 auf dem sogenannten »White Album« veröffentlichen Song benannten Album ging eine lange Geschichte von Verbot, Zensur und offizieller Erlaubnis von westlicher Musik voraus, welche in Russland lange Zeit als dekadent und Mittel des Propagandakriegs galt.
Ein Volkslied der Beatles
Während in westlichen Ländern Dutzende von Plattenfirmen existierten und um Interpreten buhlten, hatte in Russland einzig die staatliche »Melodiya« bestand. Sie kontrollierte Aufnahme, Produktion und Vertrieb der gesamten offiziellen russischen Musikszene. Da jene breit, mannigfaltig und innovativ war, veröffentlichten die britische EMI sowie die amerikanische Capitol seit 1966 regelmäßig russische Titel. Auch Melodiya bot mit der Reihe »МУЗЫКАЛЬНЫЙ КАЛЕЙДОСКОП« (Musikalisches Kaleidoskop) einen Einblick in die Musikszene anderer Staaten. Als im Jahr 1967 die Beatles mit »Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band« eines der komplexesten sowie einfluss- und erfolgreichsten Alben der Musikgeschichte veröffentlichten, hielt die Band auch ihren ersten offiziellen Einzug in die Plattenregale der Sowjetbürger. In die achte Ausgabe der Reihe des Kaleidoskops wurde der 1965 veröffentlichte Lennon-McCartney-Song »Girl« aufgenommen. Gelistet ist das Stück als vom »Beatles-Quartet« (Квартет Битлс) aufgenommenes Volkslied, dem übrigens ein 20-sekündiges Piano-Intro von Vadim Gamaliya vorangestellt wurde.
Röntgenmusik
Da mit solchen Veröffentlichungen die Verfügbarkeit westlicher Rockmusik in der Sowjetunion gering blieb und sämtliche Importversuche sogleich vom Zoll vernichtet wurden, suchte man andere Mittel und Wege, die beliebte Musik hören zu können. So wurden die Songs einerseits von Untergrund-Bands mehr oder minder qualitativ nachgespielt, andererseits versuchte über Diplomaten an Schallplatten aus dem Ausland zu kommen. Wer einen Kassettenrekorder hatte und nahe der Grenze wohnte, nahm überdies entsprechende Titel bei Radio Luxemburg auf. Da die Vinyl-Herstellung in fester Hand war, fanden Tüftler und Bastler andere spannende Wege um Platten zu verbreiten. Sie wurden mit Röntgenstrahlen auf entsprechenden Bildern verbreitet. Die Käufer mussten sie zu Hause lediglich in eine kreisrunde Form schneiden und mit einer Zigarette ein Loch in die Mitte brennen. Etwa 15 bis 20 Mal konnte man eine solche Röntgenschallplatte anhören, ehe sie unbrauchbar wurde. Trotz solch einer Einschränkung fand diese Art des Musikvertriebs viele Interessenten und bis heute gibt es nicht wenige Sammler dieser Kuriositäten.
Die wilden 70er
Noch bevor es nach »Girl« zur Publikation weiterer Beatles-Tracks kam, wurden mit »Man We Was Lonely« und »Give Ireland Back To The Irish« zwei Solonummern von Paul McCartney in der Ausgabe »10-1972« des Magazins »Horizont« (Кругозор) veröffentlicht. Interessant daran ist, dass es sich bei Horizont um ein regelmäßig erschienenes Magazin handelte, in welchem sich herausnehmbare sieben Zoll große Platten und weitere Informationen zu den Künstlern befanden. 1974 folgte eine große Welle von Veröffentlichungen. So wurden im Horizont mit »The Luck of the Irish« und »New York City« zum ersten Mal Songs von John Lennon publiziert und mit »My Sweet Lord«, »Awaiting on you all« sowie »Bangla Desh« folgte im Dezember 1974 auch George Harrison. Ringo Starr fand im Folgejahr mit dem von McCartney geschriebenen Lied »Six O’Clock« sowie mit »Oh My My« seinen Einzug im Horizont-Magazin. Unter dem Namen »Beatles – Vokal-Instrumental Ensemble« wurden in den kommenden Jahren vereinzelt sieben Zoll große Platten der Beatles mit jeweils vier bis fünf Tracks darauf veröffentlicht und mit Lennons »Imagine« sowie McCartneys »Band on the Run« wurden 1977 erstmals ganze Solo-Alben herausgegeben. Erst mit »A Hard Days Night« und dem »White Album« wurden 1986 und 1991 ganze Beatles-Alben verfügbar gemacht.
Nachspiel
Nach dem Ende der Sowjetunion entstand vor allem in Russland, jedoch auch in vielen anderen Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts, ein später Hype um die Beatles. In allen großen Städten gründeten sich gleich mehrere Beatles-Fanclubs und im Westen vertriebene illegale Pressungen mit unveröffentlichten Aufnahmen stammten nicht selten aus Russland. So erschienen 1993 durch »The Beatles On Air« die raren Aufnahmen für das BBC-Radio bereits ein Jahr vor der offiziellen Veröffentlichung von »Live at the BBC«. Mit einem Konzert am Roten Platz spielte mit McCartney 2003 erstmals ein Beatle auf russischem Boden.
Russisches Woodstock
Dass junge Russinnen und Russen lediglich nach westlicher Musik gierten und dafür gerne staatliche Repressionen in Kauf nahm, kann getrost als überkommener Allgemeinplatz gelten. Im Untergrund bildete sich als bewusste Gegenbewegung zu etablierten Musikern das Phänomen »Magnitizdat« heraus. Entsprechende Bands verbreiteten auf ihren Konzerten ihre selbst hergestellten und Platten und Kassetten. Obschon zumeist in minderer Qualität, fanden sie reißenden Absatz. Während Elton John und Bonny M. durch die Sowjetunion tourten, wurden im Baltikum als »Jugendfeste« titulierte Rock-Festivals veranstaltet und 1980 fand in Tiflis eine Art russisches Woodstock statt. Unter dem Titel »ROK« erschien 1988 ein von Regisseur Aleksej Učitel mit der Handkamera gedrehter Film über das wahre Leben der russischen Rockstars in den Kinos. Während die Stars im Westen davon gut leben konnten, musste ein gefeierter Musikheld in Sowjetunion trotzdem Kohleschaufeln, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.