Kleine Geschichte der Revolutionstheorie(n) nach der Pariser Kommune
von Michael Graber
Marx und Engels waren seit dem Kommunistischen Manifest im Unterschied zu den Anarchist*innen der Überzeugung, dass das Proletariat, um den Kapitalismus überwinden zu können, die politische Macht erobern müsse. Strategie und Taktik des politischen Kampfes waren seither Bestandteil des wissenschaftlichen Sozialismus. Revolutionstheorien bildeten deshalb auch jeweils das Kernstück der Programmatik revolutionärer Parteien, insbesondere der kommunistischen. Eine gute Theorie stützt sich auf die möglichst umfassende Analyse aller Faktoren, die die Gesellschaft prägen und ihre Entwicklung bestimmen: Stellung und Strukturen der Klassen und deren Kräfteverhältnisse, Eigentumsverhältnisse, die Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft, Parteien und vorherrschende Ideologien, historische und kulturelle Besonderheiten, die internationale Entwicklung u. a.
Trotzdem gelten Brechts Worte:
Ja, mach nur einen Plan,
Sei nur ein grosses Licht!
Und mach dann noch ‚nen zweiten Plan,
Gehn tun sie beide nicht.
Revolutionen fanden und finden selten nach vorgefertigten Plänen statt und ergeben auch nicht immer das erwünschte Resultat. Kommunistische Parteien haben immer versucht, das Element der Spontaneität durch Organisation auszugleichen oder glaubten, es kontrollieren zu können.
Diese Skizze beschränkt sich auf die theoretischen Ansätze im Mainstream kommunistischer Parteien in Europa. Antikoloniale und antiimperialistische Befreiungsbewegungen bleiben hier außen vor.
Nach der Pariser Kommune präzisierten Marx und Engels ihre Auffassung, dass das Proletariat für seine Zwecke nicht einfach den vorgefundenen Staatsapparat übernehmen könne, sondern diesen zerschlagen und einen neuen Staat aufbauen müsse, wie das die Kommune u.a. durch die Auflösung des stehenden Heeres, die Abschaffung der Polizei und der bürgerlichen Justiz und durch die Schaffung eigener funktionsfähiger Organe, deren Mitglieder jederzeit abwählbar waren, demonstriert hatte.
Krieg und Revolution
Friedrich Engels kam gegen Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts durch die gesellschaftlichen Veränderungen, ausgelöst durch die Revolution von 1848, zu dem Schluss, dass sozialistische Revolutionen nicht mehr aus der »Überrumpelung« kleiner Gruppen entstehen, sondern nur durch das Tätigwerden der Massen. Er stellte als erster einen Zusammenhang zwischen den Kriegen der Großmächte und proletarischen Revolutionen her: Es ist »kein anderer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg … Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen … Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahren und über den ganzen Kontinent verbreitet … Hungersnot, Seuchen, allgemeine Verwilderung der Heere wie der Volksmassen ... Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit ... absolute Unmöglichkeit vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse ...« (MEW 21, S.350f.)
Als kaum dreißig Jahre später tatsächlich der Erste Weltkrieg entfesselt wurde, orientierte Lenin darauf, den Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln, um ihn zu beenden und dem Proletariat zum Sieg zu verhelfen. Auf der Basis seiner Analyse des imperialistischen Weltsystems sah er zum Unterschied von Marx und Engels der 1848er Jahre die Möglichkeit eines Sieges einer sozialistischen Revolution nicht in erster Linie in den entwickelten kapitalistischen Ländern, sondern in Russland als dem »schwächsten Kettenglied« des damaligen imperialistischen Weltsystems. Diesen allerdings als Auftakt eines weltrevolutionären Prozesses, der auch die entwickelten kapitalistischen Länder Europas, insbesondere auch Deutschland, erfassen sollte, ein Gedanke, den schon Marx und Engels äußerten.
Lenin setzte allerdings nicht ausschließlich auf den bewaffneten Aufstand. In bestimmten Momenten der revolutionären Entwicklung in Russland 1917 hielt er einen friedlichen Übergang zu sozialistischen Machtverhältnissen (»alle Macht den Sowjets«) für möglich. Und im Sommer 1917 erwog er die Möglichkeit einer »revolutionären Demokratie« als Übergangsform, die den »staatsmonopolistischen Kapitalismus« in den Dienst einer sozialistischen Entwicklung stellen könnte. Unter »staatsmonopolistischem Kapitalismus« war die enge Verbindung und Verflechtung von Staat und Konzernen, dem monopolistischen Kapital zu verstehen, die insbesondere durch die Kriegswirtschaft entstanden war.
Eine Wende: Antifaschistische Bündnisse
Nach der Stabilisierung des Kapitalismus in Europa und dem Aufkommen des Faschismus und dessen Sieg in mehreren europäischen Ländern war eine neue theoretische Konzeption erforderlich, die nicht von der Möglichkeit einer unmittelbaren revolutionären Umwälzung, sondern von der Verteidigung bzw. Erkämpfung der bürgerlichen Demokratie als entscheidender Etappe einer strategischen Neuorientierung ausging. Es entstand 1935 in der Kommunistischen Internationale das Konzept der Volksfront, die den weiteren Vormarsch des Faschismus in Europa stoppen sollte, was zunächst in Frankreich und Spanien gelang. Dies bedeutete eine wesentliche Umorientierung und Erweiterung der Bündnispolitik kommunistischer Parteien, weil sie alle antifaschistischen Kräfte aus allen Klassen und Schichten der Bevölkerung erreichen sollte. Aus dieser Konstellation entstand auch das Konzept der Errichtung antifaschistisch-demokratischer Ordnungen als Ergebnis der Niederschlagung des Faschismus und als Ausgangspunkt einer Öffnung eines Wegs zum Sozialismus, wie er zunächst auch in Osteuropa, gestützt auf die siegreiche Sowjetunion, gegangen, aber auch 1974 in Portugal nach dem Sturz des faschistisch-kolonialistischen Regimes von der dortigen KP versucht wurde.
In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts tauchte in der kommunistischen Bewegung wieder der Begriff des staatsmonopolistischen Kapitalismus auf, den Lenin 1917 kurzzeitig verwendete. Ausgangspunkt dafür war die große Rolle, die der Staat in den kapitalistischen Ländern Europas in der Nachkriegszeit und weit danach in der Wirtschaft spielte. Große Teile der Grundstoff- und verarbeitenden Industrie waren verstaatlicht, ebenso große Bereiche der Banken und des Finanzkapitals. Unter dem Einfluss des »realsozialistischen« Machtbereichs wurde keynesianische Wirtschaftspolitik, gestützt auf korporatistische, sozialpartnerschaftliche und fordistische Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft mit bedeutenden sozialen Zugeständnissen und Reformen betrieben. Französische marxistische Theoretiker*innen ordneten dem Staat die Funktion der Entwertung überschüssigen Kapitals zu, um die Akkumulation des Monopolkapitals zu stabilisieren und zu beschleunigen.
Revolutionäre Demokratie unter neuen Vorzeichen
Als Strategie ergab sich daraus die Orientierung auf eine »antimonopolistische Demokratie« auf nationalstaatlicher Basis. Durch die Isolierung und Entmachtung des Monopolkapitals und die wirtschaftlich und sozial sinnvolle Nutzung staatlicher Funktionen durch ein Bündnis aller antimonopolistischen Klassen und Schichten sollte die Möglichkeit zu einer sozialistischen Entwicklung eröffnet werden. Diesem Konzept wurde spätestens durch den Übergang zum privatkapitalistischen, neoliberalen, finanzgetriebenen Kapitalismus einerseits und andererseits dem Wegfall der osteuropäischen sozialistischen Länder mit der Sowjetunion als Machtfaktor, auf die sich das Konzept unausgesprochen gestützt hatte, der Boden entzogen. Und damit auch den Konzepten des Eurokommunismus.
Erst in den 70er Jahren wurde in den kommunistischen Parteien außerhalb Italiens begonnen, Gramsci zu rezipieren. Antonio Gramsci war Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, ihr Vorsitzender und herausragender Theoretiker. Er entwickelte im faschistischen Gefängnis eine differenziertere Sicht auf Staat und Gesellschaft, als es bis dahin im Kanon der kommunistischen Bewegungen der Fall war. Seine wichtigste Schlussfolgerung war, dass im Unterschied zur Oktoberrevolution, die aus einem »Bewegungskrieg« hervorging und unmittelbar den bürgerlichen Staat beseitigte, in Europa ein »Stellungskrieg« notwendig sei, der auf lange Sicht die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft derart verändert, dass eine revolutionäre Perspektive möglich wird.
Gramsci: Kampf um Hegemonie
Im Unterschied zur Struktur des Staates im Russland der Oktoberrevolution stütze sich der Staat in den entwickelten kapitalistischen Ländern nicht nur auf die politischen Machtorgane, Regierung, Verwaltung, Polizei und Justiz, sondern auf eine breit gefächerte Zivilgesellschaft, die dem Staat vorgelagert ist und die bürgerliche Gesellschaft umfasst. Die herrschende Klasse zu isolieren und zu entmachten sei letztlich nur möglich, wenn es gelänge, deren politische, ideologische und kulturelle Hegemonie in der Zivilgesellschaft zu überwinden. Dazu sind auch Stützpunkte von Gegenmacht erforderlich. Die Realitätsbezogenheit dieses Ansatzes erwies sich unter umgekehrten Vorzeichen in Osteuropa, wo die regierenden kommunistischen Parteien lange vor ihrem Machtverlust diese Hegemonie in der Gesellschaft verspielt hatten, (wenn sie diese überhaupt jemals besaßen) und im Wesentlichen auf den Staatsapparat reduziert bzw. mit ihm verschmolzen waren.
Das Scheitern der 1968er Bewegung, die in Frankreich Staat und Gesellschaft erschütterte, aber auch das übrige Europa beeinflusste, war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es keine politische und gesellschaftliche Kraft gab, die über ein theoretisch fundiertes, strategisches Konzept verfügte, das das Hinüberwachsen der massenhaften Revolte in eine revolutionäre Bewegung ermöglichte, auch wenn deren Erfolgschance aufgrund der herrschenden Kräfteverhältnisse in Europa gering war.
Zweifellos müssen heutige Überlegungen zur Überwindung des Kapitalismus die Differenziertheit der Arbeiterklasse, die Vielfalt sozialer Bewegungen, die Überwindung des Patriarchats, ökologische Nachhaltigkeit, die fortgeschrittene europäische Integration, die Dominanz des Finanzkapitals und andere neuere Faktoren in der Entwicklung des Kapitalismus einbeziehen.
Die KPÖ orientiert sich heute als strategisches Etappenziel auf eine »Solidarische Gesellschaft«. Der Weg dorthin, wie ihn die KPÖ für ihren kommenden Parteitag formuliert, ist ein langer und gehört mit allen damit verbundenen Widersprüchen, aber auch Erfahrungen zum Anspruch ihrer über 100-jährigen Geschichte. Es gilt, sich auf mögliche dramatische Entwicklungen in Europa einzustellen und vorzubereiten.