Aber das ist doch nichts Neues. In der Nazizeit hat die Schweiz das Boot für voll erklärt. Überleben hing vom Glück ab. Und davon, ob man einen guten Schlepper fand. Später dann, zur Zeit des Kalten Krieges, war Asyl ein Instrument der Politik. Die Flüchtlinge, die damals aus dem Ostblock flohen, hatten keine stärkeren und keine schwächeren Gründe als die jetzigen. Es gibt nur einen einzigen Unterschied: Die Flüchtlinge damals waren weiß, christlich und antikommunistisch. Das hat sich seither geändert.
Europa und das Asylrecht
Der erste Tiefschlag gegen das Menschenrecht auf Asyl kam wieder aus der Schweiz, die nach dem Putsch in Chile (1973) die Visumspflicht verhängte. Tausende Geflüchtete saßen in Italien fest. Dagegen wandte sich die Freiplatzaktion für Chileflüchtlinge, Hunderte Schweizer Gemeinden erklärten sich bereit, je fünf ChilenInnen aufzunehmen.
Österreichs Bundeskanzler Bruno Kreisky sagte 1974 einer Schweizerdelegation, die ich koordinierte, zu, ein Kontingent an der Schweizer Grenze hängengebliebener ChilenInnen einreisen zu lassen; aber sie müssten über den Flughafen Schwechat kommen und er müsse den Termin wissen; nur dann könne er garantieren, dass sie nicht zurückgewiesen würden. Kreisky kannte seine Polizei!
Der Schweizer Bundesrat gab nach und ließ die Chileflüchtlinge herein. Deutschland hingegen wurde zum Vorreiter der Abschottungspolitik und schaffte nach dem Putsch in der Türkei (1980) das Asylrecht für Opfer des Militärregimes ab. Die Folterung eines Kurden im Fall seiner Abschiebung, so entschied ein deutsches Gericht, sei asylrechtlich nicht relevant, da sie »nicht auf einer verwerflichen Gesinnung des türkischen Staates« beruhe. Folter sei ein »allgemein kriminalpolitisches Phänomen«. 98 % der Asylanträge aus der Türkei Geflüchteter wurden 1983 in Deutschland abgelehnt.
Deutschland gehörte auch zu den Erfindern der »Drittlandklausel«, um Flüchtende fernzuhalten, und später der »Dublin-Verordnungen«. Flüchtende müssen im ersten Land, das sie betreten (laut »Dublin« im ersten Land der EU) Asyl beantragen, egal wie schrecklich die Zustände dort sind.
In der Genfer Flüchtlingskonvention steht davon, wohlgemerkt, kein Wort. Drittland und Dublin sind späte Zusätze, um Flüchtende vom Genuss ihres verbrieften Rechts auf Asyl auszuschließen.
Das Vorbild Österreich ...
In Österreich schafften der »rote« Polizeiminister Franz Löschnak und sein »furchtbarer Jurist« Manfred Matzka das Asylrecht nahezu ab (1991). Auch ihnen diente die Drittlandklausel als wichtigstes Instrument. Löschnak wurde aber 1995 gestürzt, ein später Sieg des »Lichtermeeres«; sein Nachfolger Caspar Einem bescherte uns ein weitaus besseres Gesetz, wodurch Österreichs Asyljudikatur für einige Jahre europaweit vorbildlich wurde.
Aus der Türkei Geflüchtete erhielten nun in Österreich Asyl, afghanische Frauen ebenso. Tschetschenische Flüchtlinge hatten in Österreich einige Jahre lang eine Anerkennungsrate von 100 Prozent (während sie in Deutschland, ebenso wie in der Slowakei, nahezu chancenlos waren). Und vor allem: Die Drittlandklausel wurde zu totem Unrecht gemacht. Denn der Unabhängige Bundesasylsenat (UBAS) – die durch Einems Gesetz eingerichtete Berufungsinstanz - entschied, dass Ungarn, die Slowakei und Tschechien keine sicheren Drittstaaten sind!
… war nicht von langer Dauer
Dann aber brachten die Gesetzesänderungen unter Innenminister Strasser und seiner Nachfolgerin Liese Prokop neue massive Verschärfungen, zumal unsere (bisher als unsichere Drittstaaten eingestuften) Nachbarländer sowie Polen seit 1. Mai 2004 EU-Mitglieder sind und so über Nacht zu angeblich sicheren Dublin-Staaten wurden, obwohl sich an den Missständen dort überhaupt nichts geändert hatte.
Die Opfer waren großteils schwer traumatisierte tschetschenische Folteropfer, die ab Inkrafttreten des Prokop-Gesetzes am 1. Jänner 2006 gnadenlos in Schubhaft genommen (und somit retraumatisiert und neuerlich psychisch gefoltert) wurden, wenn in Polen oder der Slowakei ihre Fingerabdrücke registriert worden waren. Die Menschenjagden des Jahres 2006 waren der bis dahin absolute Tiefpunkt der österreichischen Asylpolitik.
Wir NGOs (allen voran Asyl in Not) haben aber auch dagegen erfolgreich gekämpft; der Verwaltungsgerichtshof erklärte die Schubhaftverhängung am Beginn des Asylverfahrens, lediglich wegen eines Dublin-Treffers, für rechtswidrig (2007). Spätere Versuche der Innenministerin Fekter, dieses Unrecht wieder einzuführen, vereitelten wir durch große Demonstrationen (2009 und 2011).
Das Jahr 2015 brachte zwar zunächst einen neuen Höhepunkt des herrschenden Unrechts, nämlich die vom Innenministerium herbeigeführte Verwahrlosung des Aufnahmesystems; dann aber wieder einen gewaltigen Aufschwung der zivilgesellschaftlichen Solidarität.
Dass in Syrien Krieg herrscht, dass unzählige Menschen sowohl vor dem Assad-Regime als auch vor dem Islamischen Staat auf der Flucht sind, war der Weltöffentlichkeit bekannt, sodass dieses Wissen auch der österreichischen Regierung zugemutet werden konnte. Trotzdem tat die damalige Innenministerin Mikl-Leitner nichts, um Empfangstrukturen zu schaffen. Sie spielte, indem sie die Situation immer weiter eskalieren ließ, der Hetze der extremen Rechten in die Hände. Und das aus offenkundigem politischem Kalkül.
Die Zivilgesellschafft übernimmt
Die Missstände im Lager Traiskirchen stanken zum Himmel und rüttelten viele Menschen auf; desgleichen der qualvolle Erstickungstod von 71 Menschen in einem Kastenwagen in Parndorf, den Mikl-Leitner vergebens für eine Antischlepperkampagne auszunützen versuchte. Die Schreckensbilder vom brutalen Vorgehen der Orban-Polizei ebenso. Hunderte ÖsterreicherInnen fuhren mit ihren PKWs nach Ungarn, um Flüchtende über die Grenze nach Österreich zu schleusen (Aktion »Flüchtlingskonvoi – Schienenersatzverkehr«).
So erzwang die Zivilgesellschaft, im Bund mit den Flüchtenden selbst, die Öffnung der Grenzen. Der Staat hatte für einen Augenblick abgedankt; Hunderte freiwillige HelferInnen organisierten die Aufnahme und Verpflegung an den Bahnhöfen; die Menschen sahen, dass das Organisieren gesellschaftlicher Prozesse in Selbstverwaltung und ohne Staat viel besser funktioniert: unser kurzer September der Anarchie…
Am 3. Oktober 2015 demonstrierten 70.000 Menschen in Wien für offene Grenzen und für Mikl-Leitners Sturz. Ein paar Wochen lang waren die Rechten ziemlich stumm. Wir bestimmten den Diskurs. Aber schon damals begannen erste Gegenangriffe: Die Asylbehörde missbrauchte die Öffnung der Grenze als Falle, um gegen die zunächst Durchgewunkenen sogleich individuelle Dublin-Verfahren einzuleiten. Aber diese Versuche scheiterten an unseren Rechtsmitteln und an der Judikatur: Ungarn (das Flüchtlinge nach Serbien weiterschiebt) gilt seither als nicht sicherer Dublin-Staat.
Zeit der Hetze, Zeit der Gesetze
Zu Jahresbeginn 2016 setzte eine massive Hetzkampagne ein, die den islamistischen Terror ebenso ausnützte wie die Ereignisse in Köln und ähnliche in Österreich verübte Verbrechen; es war bewundernswert, wie die ärgsten rechten Frauenhasser sich auf einmal als Beschützer »unserer« Frauen gegen die »Fremden« aufspielten.
Aber die Solidarität blieb ungebrochen. Hunderte im Vorjahr entstandene kleine Initiativen setzen ihre Arbeit fort. Am 19. März 2016 marschierten etwa 10.000 Menschen in Wien für eine menschliche Asylpolitik und für den Rücktritt der Polizeiministerin.
Mikl-Leitner, durch unser Dauerfeuer zermürbt, warf das Handtuch. Ihr Nachfolger Sobotka ist um keinen Deut besser. Trotzdem war ihr Sturz unser Sieg. Mikl-Leitner war nicht die erste und wird nicht die letzte sein; eine Kerbe mehr in meinem Kugelschreiber ...
Mittlerweile wurde die Gesetzesverschärfung vom Parlament abgesegnet. Sie ermöglicht es der Regierung, einen Notstand zu proklamieren, wenn angeblich Gefahr für die Sicherheit besteht, und sodann per Verordnung die verfahrensfreie Zurückweisung schutzsuchender Menschen an der Grenze durchzuführen.
Im Asylverfahren gilt die Dublin-Verordnung: Flüchtende müssen im ersten EU-Land, das sie betreten, den Asylantrag stellen. Wenn sie weiterflüchten, schiebt man sie zurück. Aber dazu musste bisher ein Verfahren durchgeführt und ein Bescheid erlassen werden, gegen den wir eine Beschwerde einbringen konnten, und wie erwähnt, hatten unsere Rechtsmittel öfters Erfolg. So werden Griechenland und Ungarn eben nicht mehr als sichere Dublin-Staaten angesehen.
Genau das hat den Herrschenden nicht gepasst. Daher die Gesetzesänderung. Sie wirft uns rechtlich weit zurück. Denn sie schneidet die Geflüchteten vom Zugang zum Recht ab: Wenn sie schon am Grenzzaun hängen bleiben, den uns Mikl-Leitner hinterlassen hat, dann ist klar, über welches EU-Land sie kommen; und dorthin schiebt man sie sofort zurück. Bis zu uns NGOs kommen sie gar nicht mehr durch; daher wird es schwer sein, für sie Beschwerden einzubringen. Abschiebung – unter Ausschluss des Rechtswegs und der Öffentlichkeit.
Wir werden aber trotzdem, da bin ich sicher, in einigen Fällen Vollmachten erhalten und Rechtsmittel ergreifen; ich bin auch überzeugt davon, dass wir diese verfassungswidrigen Abschiebungen in letzter Instanz zu Fall bringen können, aber bis dahin können Jahre vergehen und es werden viele Menschen unter die Räder kommen.
Trübe Aussichten
Mittlerweile hat die Europäische Kommission einen Entwurf zur Verschärfung des Dublin-Systems ausgearbeitet (»Dublin IV«) , um die letzten Schlupflöcher zu schließen. So sollen die Überstellungsfristen abgeschafft werden: Dann wird es nicht mehr möglich sein, Dublin-Entscheidungen dadurch zu Fall zu bringen, dass wir die Abschiebung sechs Monate lang verhindern (wodurch bisher die Zuständigkeit auf Österreich überging). Nun, dann wird es eben noch mehr »Illegale« geben, für die faktisch kein EU-Staat zuständig ist.
Der Kampf gegen das Unrecht ist sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene zu führen. Die Weltgeschichte hat viele Festungen und Mauern entstehen und stürzen gesehen. Auch die Festung Europa wird fallen, wenn ihre Zeit gekommen ist.
Michael Genner ist Obmann von Asyl in Not