Selbstorganisation der Geflüchteten in Marokko und Emmanuel Mbolelas Buch.
VON ALEXANDER BEHR
»Emmanuel Mbolelas Buch ist deshalb so beeindruckend, weil es nicht nur ein Buch der mutigen, detailgenauen Brandmarkung ist, sondern auch ein Buch der unausrottbaren Hoffnung. Ein Buch des Widerstandes, des Aufstandes des Gewissens.« Jean Ziegler
Im Jahr 2014 erschien im Wiener Mandelbaum-Verlag die erste Auflage des Buches Mein Weg vom Kongo nach Europa – zwischen Widerstand, Flucht und Exil des Autors und Aktivisten Emmanuel Mbolela. Mehr als sechs Jahr sind seither vergangen – und die Zwischenbilanz ist beeindruckend: Das Buch wurde mehrmals nachgedruckt, Übersetzungen in verschiedenen Sprachen wurden veröffentlicht, der Autor hielt über 400 Lesungen in Österreich, Deutschland, der Schweiz, in Italien, Frankreich und Portugal. Das anhaltende Interesse an Mbolelas Buch ist äußerst begrüßenswert, gleichzeitig aber auch bitter notwendig; stehen doch die persönliche Fluchtgeschichte und politische Autobiographie des Autors paradigmatisch für abertausende Flüchtende und Migrant* innen, denen heute der Zutritt zur Europäischen Union verwehrt wird.
Vom Kampf gegen Kabila zur ARCOM
Emmanuel Mbolela wurde 1973 in Mbuji-Mayi, einer Stadt im Zentrum der Demokratischen Republik Kongo, geboren. Bereits als Schüler engagierte er sich politisch gegen den vom Westen unterstützten Langzeitdiktator Mobutu. Nachdem durch die Machtübernahme Laurent-Desiré Kabilas Ende der 1990er-Jahre die Hoffnungen auf Demokratisierung und Frieden schnell zunichte gemacht wurden, setzte Mbolela seine Aktivitäten in der Jugendsektion der Oppositionspartei UDPS (Union für Demokratie und sozialen Fortschritt) fort. Als Laurent-Desiré Kabila im Jahr 2001 ermordet wurde und sein Sohn Joseph ihm als Präsident nachfolgte, verschlimmerte sich die Lage im Land weiter. Der 17. April des Jahres 2002 gab dem Leben Emmanuel Mbolelas eine drastische Wende: Im Zuge einer Großdemonstration für Frieden und Demokratie in Mbuji-Mayi wurde Mbolela von den Schergen Joseph Kabilas festgenommen, inhaftiert und gefoltert. Zwei seiner engsten Mitstreiter starben an diesem Tag durch die Kugeln der Polizei. Mbolela musste Hals über Kopf fliehen und verließ das Land in Richtung Brazzaville. Aufgrund fehlender Aufnahmestrukturen für Flüchtende in den Ländern Subsahara-Afrikas schlug sich Mbolela bis nach Algerien und schließlich nach Marokko durch.
Doch auch dort erwies sich die Situation für subsaharische Flüchtende und Migrant* innen als unerträglich. Von gesundheitlicher Versorgung, dem Zugang zu Arbeitsmarkt und Bildung ausgeschlossen, wurden sie oftmals Opfer von brutalen und lebensbedrohlichen Abschiebungen ins Grenzgebiet zwischen Marokko und Algerien.
Aufgrund dieser Missstände beschloss Mbolela den politischen Kampf für Würde und Menschenrechte wieder aufzunehmen und gründete im Jahr 2005 gemeinsam mit anderen Flüchtenden die erste Organisation subsaharischer Migrantinnen und Migranten, die »Association des Refugi-é-s et Communautés Migrantes«, also die »Vereinigung der Geflüchteten und migrantischen Communities« (ARCOM).
Die Gruppe kann mittlerweile auf eine Vielzahl von Aktionen zurückblicken. Seien es Proteste gegen Abschiebungen in das marokkanisch-algerische Grenzgebiet, Widerstand gegen Polizeigewalt, gegen die Externalisierung des EU-Grenzregimes sowie gegen die Passivität des UNHCR oder Kampagnen für den Zugang zu Gesundheitsversorgung und für die Legalisierung von Papierlosen: Die Arbeit der ARCOM hat seit nunmehr 15 Jahren in unzähligen Fällen konkrete Hilfe geleistet und wohl oft auch Leben gerettet. Außerdem brachte die ARCOM, die auch Teil des transnationalen Netzwerks Afrique Europe Interact ist, die »Stimme der Stimmlosen«, also der Illegalisierten, mit Nachdruck in den öffentlichen Diskurs – sowohl in Marokko als auch in Europa.
Im Jahr 2008 gelang es Emmanuel Mbolela, mit einem Resettlement-Programm des UNHCR das Land zu verlassen und legal nach Europa zu reisen. Er lebt heute in Frankreich, koordiniert und unterstützt aber die Arbeit der AROCM von Europa aus und reist regelmäßig nach Rabat.
Im Jahr 2014 gründete die ARCOM mit Spendengeldern, die im Zuge der Lesereisen mit Mbolelas Buch gesammelt werden konnten, in Rabat ein Frauenhaus für subsaharische Migrantinnen. Zum ersten Mal in der Geschichte Marokkos gibt es seither selbstverwaltete Räume, an dem von Gewalt Betroffene migrantische Frauen in Sicherheit sind. Das Frauenhaus der ARCOM umfasst vier angemietete Wohnungen, die meisten von ihnen liegen im Stadtteil Hay Nada. Rund 50 Frauen leben aktuell in den Strukturen des Frauenhauses, der Großteil von ihnen kommt aus der Elfenbeinküste, aus Guinea, der RD Kongo, aus Mali oder Benin – viele von ihnen haben kleine Kinder. Ihre Fluchtgründe sind divers: Frauen aus der RD Kongo oder aus der Elfenbeinküste fliehen vor den Auswirkungen der dortigen Kriege; zahlreiche Frauen berichten von patriarchaler Gewalt, insbesondere von Zwangsverheiratungen und Genitalverstümmelungen. Viele sprechen davon, dass ihre Gewalterfahrungen keineswegs mit der Flucht zu Ende waren – auch in Marokko sind sie sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Besonders schlimm sind die Übergriffe im marokkanisch-algerischen Grenzgebiet. Die Gewalt geht meist von Grenzpolizisten und Militärs aus, teils aber auch von mitreisenden Migranten.
Herausforderungen für die Zukunft
Für die sozialen Bewegungen und Strukturen, die die Arbeit der ARCOM diesseits und jenseits des Mittelmeers unterstützen, dürften sich in der kommenden Zeit mehrere Aufgaben stellen: Erstens steht für die ARCOM die Überlegung im Raum, ein soziales Zentrum für Migrant*innen zu gründen – eventuell mit einem Restaurantbetrieb, und wenn möglich in räumlicher Nähe der vier Wohnungen des Frauenhauses. Dafür wird es notwendig sein, finanzielle Unterstützung in Europa zu organisieren.
Zweitens sollte das Buch des ARCOM-Gründers Emmanuel Mbolela weitere Verbreitung finden. Das Buch ist ein wichtiges Werkzeug im Aufbau von politischer Solidarität und kommt unter anderem in unzähligen Schulen zum Einsatz. Des weiteren dient es als zentrales Mittel für das Einwerben von Spenden für das Frauenhaus in Rabat. Nachdem das Buch in deutscher Sprache erschienen war, folgten in den Jahren darauf eine französische und italienische Version. Im Frühjahr 2021 erscheint bei Farrar, Straus & Giroux in New York die englischsprachige Ausgabe.
Last but not least sollte in der gemeinsamen politischen Arbeit weiterhin die Ausplünderung der Ressourcen in den Herkunftsländern der Geflüchteten thematisiert werden. Nicht umsonst hat sich das Netzwerk Afrique Europe Interact auf die Fahnen geschrieben, nicht nur für das Recht zu gehen zu kämpfen, sondern auch für das Recht zu bleiben; also für das Recht, unter würdigen und guten Bedingungen dort leben zu können, wo man aufgewachsen ist.
Emmanuel Mbolela wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass die neokoloniale Ausbeutung der Länder Afrikas fortbesteht. Während Coltan, Kupfer und Kobalt aus dem Kongo, Gold aus Mali, Kakao aus der Elfenbeinküste oder Erdöl aus Nigeria zu Spottpreisen exportiert oder gar geraubt werden, wird Flüchtenden und Migrant* innen die Reisefreiheit verwehrt. Europa behauptet, so Mbolela, dass es nicht möglich sei, das Elend der ganzen Welt aufzunehmen – doch anscheinend ist es für Europa seit Jahrhunderten sehr wohl möglich, die Reichtümer aus aller Welt aufzunehmen. Das, so Mbolela, muss sich grundlegend ändern! Im kommenden Januar jährt sich die Ermordung des großen kongolesischen und afrikanischen Hoffnungsträgers Patrice Lumumba zum sechzigsten Mal. Doch das Erbe Lumumbas lebt – nicht zuletzt im Freiheitswillen der Flüchtenden und Migrant*innen.
Wir freuen uns daher über Rückmeldungen und Einladungen zu Lesungen und Diskussionen mit dem Autor – Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!