Die Erwartung, dass linke Zeitgenoss*innen anders, sprich solidarischer und menschenfreundlicher miteinander sprechen, agieren oder sich gegenseitig unterstützen, ist mehr als berechtigt – und illusorisch zugleich.
VON BÄRBEL DANNEBERG
Linke sind die »besseren Menschen«? Der Anspruch ist edel und gut, kollidiert aber mit der Wirklichkeit. Moral und Vorsatz schlagen sich mit Irrtümern und Fehleinschätzungen herum. Umso heftiger fallen Enttäuschungen und unerfüllte Erwartungen aus. Wenn ich zurückblicke auf die unterschiedlichsten linken Kollektive meines 77-jährigen Lebens, dann komme ich zum Schluss, dass meine eigenen Erwartungen oft größer waren als die Augen real erblicken konnten.
Schule der Menschenkenntnis
Ende der 1960er, Anfang der -70er Jahre war es modern, sich in linken Kollektiven zu organisieren. Als ich meine gutgehende In-Kneipe in Westberlin, in welcher sich etliche K-Gruppen zu Demobesprechungen trafen, wegen sorglos wirtschaftlicher Nachlässigkeit verkauft hatte, investierte ich das Geld in ein Projekt für haftentlassene Jugendliche in einer aufgelassenen Fabrik unter den Bülowbögen, Handdrug store genannt. Wir waren jung, unbedarft und voll unschuldigem Idealismus, die Welt zu verbessern. Von Sozialarbeit hatten wir keine Ahnung, wirtschaftliche oder politische Einsichten waren uns fremd. Nach der ersten Messerstecherei und als meine linksradikaldemokratischen Genossen, männlich, von denen ich oft nur den Vornamen wusste, mit der Kasse durchgebrannt waren und mein Auto zu Schrott gefahren hatten, wurde ich realistischer.
Ich ließ die idealistischen Flausen mit finanziellem Verlust, aber um menschliche Erfahrungen reicher, hinter mir. Ich widmete mich der politischen Arbeit und Schulung in der SEW (Sozialistische Einheitspartei Westberlins, welche die marxistische Abendschule MASCH organisierte). Marxistische Philosophie, Dialektik und der Anspruch, einem kommunistischen Menschenbild zu entsprechen, waren für mich eine Schule kollektiven Miteinanders. Das hatte ich allerdings schon zuvor in der Evangelischen Jugendbewegung kennengelernt, deren hehre Ziele und Moralvorstellungen sich eigenartiger Weise in vielem mit denen der kommunistischen Ideale deckten, nur eben mit anderen Göttern.
Der Neue Mensch
In der MASCH lernten wir neben den ökonomischen Grundlagen einiges über das Menschenbild bei Karl Marx und Theoretisches über Lenins Staatstheorie. Dreh- und Angelpunkt war für Marx die Entfremdung, die sich in drei Bereichen des menschlichen Lebens abspielt: Ökonomie und Wirtschaft, Politik und Staatswesen und Ideologie und Religion. Nur indem der »wirkliche Mensch« durch zwischenmenschliche Beziehungen seine Entfremdung überwindet, kann er zum »wahren Menschen« werden. Im wirtschaftlichen Sektor findet die Entfremdung hauptsächlich durch den Besitz an Produktionsmitteln statt, der meist wenigen Firmenbesitzer*innen obliegt und eng verbunden ist mit der daraus folgenden Arbeitsteilung.
Das marxistisch-theoretische Menschenbild-Konzept, das durch Literatur, Spiel- oder Dokumentarfilme aus den 1920er Jahren nach der Revolution und vor dem Stalinismus idealisiert wurde, zeichnete das (Wunsch-)Bild des jungen Sowjetstaats: lebensfrohe, gesunde und arbeitsfähige Mitglieder der Gesellschaft werden als Typus des Neuen Menschen propagiert. Das Alte und Bourgeoise – ob Alkoholiker*innen, Bürokrat*innen oder Obdachlose – soll verschwinden. Ein neues Frauen- und Familienbild, zentrale Themen des Sowjetstaats wie Industrialisierung und kollektive Landwirtschaft, Alphabetisierung, Kampf gegen den Alkoholismus usw. spiegelten sich in diesen Alltags-Melodramen und -Komödien wider.
»Revolutionäre Maßnahmen können für die von ihnen Betroffenen hart sein, die Jakobiner waren nicht zimperlich, die Bolschewiki auch nicht. Wir hätten ja gar nicht bestritten, dass wir in einer Diktatur lebten, der Diktatur des Proletariats. Eine Übergangszeit, eine Inkubationszeit für den neuen Menschen, versteht ihr?« Ein harter Satz, den die Heldin in Christa Wolfs Roman »Stadt der Engel« spricht. Die Leitidee vom sozialistischen »Neuen Menschen« hat das Erziehungswesen der DDR – und auch die junge Christa Wolf – geprägt. Von heute aus rückblickend verbirgt die Autorin in ihrer autobiografischen Reflexion keineswegs die Herkunft: Der »Neue Mensch« war Heilsziel vor allem der Revolution von 1917 und der frühen Sowjetunion; es wurde mit pseudoreligiösen Hoffnungen verknüpft, die die Leiden und Schrecknisse einer Diktatur als zeitbedingt und begrenzt erträglich zu machen schienen. Ein Erlösungsschema. »Und wenn eine Revolution ihr Ziel verfehlt hat und am Ende ist, sagte ich, stellen diejenigen, die sie beerben, als erstes die alten Besitzverhältnisse wieder her.«
Lust und Last auf linken Schultern
Wir »68er« hatten andere Moral- und Freiheitsvorstellungen. Zwar galt es, Vertrauen, Solidarität, Weltoffenheit und ideologische Standhaftigkeit »für die Sache« zu zeigen und Egoismen wie Eigennutz und persönliche Vorteilssuche hintanzustellen. Die Verbrechen linker Menschheitsgeschichte wie der Stalinismus, die der Klassengegner uns immer wieder an den linken Kopf warf, ließen uns ideologisch kleinlaut werden. Doch das Parieren mit dem menschenfeindlichsten kapitalistischen Gegenbild, dem Faschismus, oder religiösen Geschichts- und Gegenwartsbildern war lediglich ein Schlagabtausch, ohne sich mit dem »Eigenen« zu beschäftigen. Für mich hieß das, sich auch mit den Dunkelkammern sozialistischer Menschenbilder auseinanderzusetzen. Die Erzählungen von Hass und Ausgrenzung quer durch KPÖ-Familien, die 1968ff wegen unterschiedlicher politischer Einschätzung des »Prager Frühlings« zur Parteispaltung führten, blieben mir immer unverständlich. Wie auch jene späteren (bis heute anhaltenden) Trennungskonflikte hierzulande nach dem Ende der Sowjetunion, in die ich selbst involviert war, und welchen die KPÖ, geschwächt nach der Enteignung durch die westdeutsche Kapitalmacht ›Treuhand‹, mit zumindest ernsthaft bemühter Erneuerung der Partei begegnete.
Vor allem die Frauenbewegung, ausgehend vom Hinterfragen des sog. Haupt- und Nebenwiderspruchs, schuf durch neuere soziologische und psychologische Fragen ein anderes, ein feministisches Solidaritätsverständnis. Texte von Rosa Luxemburg oder Alexandra Kollontai lasen sich neu für mich zu den marxistischen Klassikern und später zu denen der Frankfurter Schule und der Neuen Frauenbewegung. In diese Zeit fallen meine kollektiven Erfahrungen im »Arbeitskreis schreibende Frauen« im Wiener WUK, in welchem ich die Bereicherung linken Tuns und Gestaltens erlebte. Ebenso im Bund Demokratischer Frauen und in der Redaktion »stimme der frau«, deren Leitung ich lange Jahre ausübte. Fragen wie politischer Zusammenhalt, Solidarität, Umgang mit Andersdenkenden und vor allem: »Freund, wie gehst du um mit deiner Freundin?«, wie es meine Namensschwester Erika Danneberg in ihrem Gedicht »Fehlfronten« (siehe Seite 23) formulierte, bewegten uns.
Der Zusammenbruch der real-sozialistischen Welt Ende der 1980er Jahre war eine Zäsur. Die Reibung an einem Gegenentwurf fiel weg, die neoliberale Wirtschaftsordnung kam unverhüllt zu sich selbst und schuf neue Moral- und Menschenbilder in einer »Ich-Welt«, die uns bis heute zurückwirft auf den harten Boden entsolidarisierter kapitalistischer Ausbeutung. Der Mensch wird nach Marx auf ein Rädchen im Getriebe herabgestuft und von seinem eigenen Wesen entfremdet. Das »Endprodukt«, ebenso seine Mitmenschen, bleiben ihm fremd. Haben wir Linken den philosophischen – nicht moralischen! – Unterschied von idealistischem und materialistischem Zugang zur Welt nicht begriffen? Für mich hat die Besetzung der KPÖ-Wielandschule, heute Ernst Kirchweger Haus (EKH), immer wieder die Frage aufgeworfen, weshalb Linke sich aggressiv gegen Linke wenden und nicht in erster Linie gegen ihren Klassenfeind; warum in linken Zusammenschlüssen bis hin zu manchen linken WGs oder alternativen Bauernhaus-Gemeinschaftsprojekten statt Solidarität der Aneignungs- und Selbstzerfleischungsprozess gewählt wird. Der Hass muss auch einem nicht eingelösten Heilsversprechen entspringen. Wir sind eben ein katholisches Land. Ähnliche Gedanken hatte ich bei meiner Reportage über die Mühl-Kommune am Friedrichshof: Welche Machtstrukturen und Menschenbilder formen sich in geschlossenen Denk- und Gesellschaftssystemen heraus? Ich verglich das Mühl-Dilemma mit der damals noch existierenden DDR, die demokratische Prozesse zwar am Programm hatte, aber grundlegende Kritik am System (ich will sagen: auch zurecht) als Bedrohung sah. Das vom Außen abgekapselte Innen schuf isolierte Moral-, Macht- und Lebenswelten in Untreue zum Entwurf. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.
Scheitern oder linke Verantwortung?
Die Mitbestimmungsmodelle, die ich persönlich erlebte, scheiterten letztlich am realen Leben (dialektischer Materialismus nach Marx: das Sein bestimmt das Bewusstsein), sei es aus ökonomischen Einschränkungen und Besitzstrukturen, ideologischen Widersprüchen oder persönlichem Unvermögen, Eigennutz oder Krisengewinnlerei im Frontenwechsel. Hinzu kommt, dass viele Menschen sehr gerne eigenverantwortliches Handeln ablehnen und sich gar keine selbstständige oder wenigstens selbstbestimmte Arbeit wünschen. Es gibt sog. alternative oder linke Arbeitsfelder im Gesundheits- oder Esoterikbereich, die sich den demokratischen Umgang mit Mitarbeiter*innen als verbales Sahnehäubchen aufsetzen, sich aber schlimmer als die ärgsten Ausbeuter*innenbuden über gewerkschaftliches Arbeitsrecht z. B. durch Kettenverträge hinwegsetzen, überhöhte Arbeitsanforderungen bei Unterbezahlung praktizieren und moralischen Druck bis hin zum Mobbing ausüben. Die Frage, die LINKS-Mitinitiator Kurto Wendt auf einem Facebook-Eintrag stellte, halte ich für berechtigt: Wieso setzen sich grüne Linke in Wien nicht offensiver und lautstark für ein anderes, z. B. digitales Wahlrecht ein, um kleineren Parteien das Sammeln von Unterstützungserklärungen für eine Kandidatur zu erleichtern und nicht in Österreich geborenen Menschen das Wahlrecht zu ermöglichen – rund ein Viertel aller in Wien lebenden Menschen im wahlfähigen Alter dürfen kein Kreuzchen für den Landtag und Gemeinderat machen.
Am meisten hat mich der Suizid einer jungen Frau betroffen gemacht, die in einer NGO gearbeitet hat und an ihrem Engagement »für die Sache« gescheitert ist. In ihrem Abschiedsbrief, der mir zugänglich wurde, schrieb sie ihren Weltschmerz nieder. Carla, so der Name der Frau, schreibt von Kränkung, mangelnder Wertschätzung, strukturellen Mängeln, unklaren Arbeitsfeldern, Überforderungen und psychischen Verstrickungen. »Ich weigere mich, diese Existenz akzeptieren zu müssen. Und ich weigere mich, in einer Welt leben zu müssen, in der mich die vermeintlichen Gutmenschen stärker zur Feindin machen als diejenigen, mit denen ich mich gerne anlege: den politischen und wirtschaftlichen Eliten weltweit.« Mit ihrem Freitod hat diese junge Frau eine Forderung im menschlichen Umgang in linken Zusammenhängen hinterlassen: achtsamer und verantwortungsvoller einander wahrzunehmen. Carlas letzter Appell: »Ihr Linken da draußen: Es macht einen Unterschied, wie ihr einander behandelt. Menschen sind nicht austauschbar, schätzt einander.«
Ich möchte meine Gedanken nicht so pessimistisch ausklingen lassen, sondern meiner Hoffnung Nachdruck verleihen, dass wir uns nicht selbst umbringen, sondern im Sinne von Bini Adamczak und im Sinne von Carla im Weitergehen lernen und im Erkennen Neues schaffen. An unserem linken Menschenbild sollten wir uns im urchristlich-marxistischen Sinn erkennen. Die Kandidatur von LINKS ist eine Einladung.