Eine Vierte Sozialdemokratie? Volksstimme Redaktion Foto: Wikipedia / CC BY 3.0
19 Juni

Eine Vierte Sozialdemokratie?

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In Kürze finden in Spanien wieder Parlamentswahlen statt. »Unidos Podemos«, der Zusammenschluss von »Podemos«, »Izquierda Unida« und anderen progressiven Komponenten der spanischen Gesellschaft, hat reale Chancen, zweitstärkste Partei zu werden. Die spanische Sozialdemokratie muss sich entscheiden, auf welcher Seite sie ihre Zukunft sieht. Im Folgenden ein Text zu diesem für Spanien bedeutenden politischen Moment von Pablo Iglesias.

Quelle: Publico, 8. Juni 2016, Übersetzt von Gerhard Steingress.

 

Wir sind eine marxistische Partei, weil wir die wissenschaftliche Methode zur Erkenntnis der Transformation der kapitalistischen Gesellschaft im Wege des Klassenkampfes als Motor der Geschichte verstehen. Wir begreifen den Marxismus als eine nicht-dogmatische Methode, die in Entwicklung begriffen ist und nichts mit der automatischen Anwendung der theoretischen oder praktischen Schemas bestimmter Erfahrungen der Arbeiterbewegung gemein hat. Wir akzeptieren in kritischer Weise die Beiträge sämtlicher Denker des Sozialismus und die verschiedenen historischen Erfahrungen des Klassenkampfes.
(Grundsatzerklärung des PSOE auf dem 27. Parteitag, 1976)

 

Wir stehen am Beginn des Wahlkampfes und dies erlaubt normalerweise keine ernsthaften ideologischen Debatten, selbst wenn es dabei um die deutlichste Darstellung des ideologischen Klassenkampfes handeln sollte. Die Wahlkämpfe sind jener Augenblick, in dem Strategien und kommunikative Techniken zur Anwendung gelangen, der Moment, in dem die Hegemonie der Ideen einer Epoche in Erscheinung tritt und zur begrifflichen Abgrenzung innerhalb des Austausches unterschiedlicher Standpunkte führt. Nur zu bestimmten Zeitpunkten, so wie heute, können neue Ideen in den Gedankenstreit eingebracht werden. Das, was einige bereits als Podemisierung des spanischen politischen Lebens nennen, ist Ausdruck der Hegemoniekrise.

Dennoch, die Notwendigkeit einer landesweiten ideologischen Debatte hat nichts mit der Logik des Wahlkampfes gemein, ebensowenig mit dem Streit um die Hegemonie, sondern mit der Tatsache, dass in Spanien ein neues politisches Feld im Entstehen begriffen ist, das die Möglichkeit zum Regieren einschließt und das das Parteiensystem bereits neu definiert hat.

Agustín Basave ist der Verfasser eines Buches, auf dessen Titel ich mich beziehe, und in dem er mit großem Scharfsinn auf die für die Linke entscheidende Bedeutung der aktuellen ideologischen Debatte verweist. Als Anhänger des ungerechterweise misshandelten Bernstein, der als einer der Begründer und Testamentsvollstrecker von Engels im Jahr 1914 gemeinsam mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegen die Kriegskredite stimmte, untersucht Basave das historische Werden des sozialdemokratischen Denkens und Handelns, seine Ursprünge im Marxismus und Anwendungen in der Arbeiterbewegung (der Ersten Sozialdemokratie), ihre teilweisen Erfolge nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einigen hochentwickelten europäischen Ländern – im Zusammenhang mit dem Wohlfahrtsstaat und der keynesianischen Politik (die Zweite Sozialdemokratie) – bis hin zu ihrer Krise im Gefolge des Endes des geopolitischen Gleichgewichts im Kalten Krieg sowie der durch die sogenannten sozialdemokratischen Parteien erfolgten Übernahme der neoliberalen Ideen und Programme (der Dritte Weg oder die Dritte Sozialdemokratie).

Ich stimme vielen der Wertungen und Bedenken des Autors nicht zu, aber Basave deutet mit Scharfsinn auf die Notwendigkeit der ideologischen Erneuerung einer Vierten Sozialdemokratie als unverzichtbare politische Option angesichts der Frontstellung gegenüber dem neoliberalen Desaster und der Herrschaft des Finanzkapitals hin.

Seit den Wahlen vom 26. Jänner dieses Jahres konsolidieren sich zwei neue politische Felder in Spanien. Eines davon, unter der Führung des Partido Popular, verkörpert ein klares politisches Projekt im Einklang mit den oligarchischen Eliten Europas, das es während der vergangenen Jahre umgesetzt hat. Dieses neoliberale Projekt, dessen Konsequenzen wir im Süden Europas sehr gut kennen, hatte die Eliminierung der Dritten Sozialdemokratie als Nebenwirkung, jener Sozialdemokratie des Dritten Weges, die sich als unfähig erwies, sich vom Neoliberalismus abzugrenzen, der sie vollständig aufgerieben hat. Jedes Mal, wenn der Partido Popular (PP) die sozialistische Partei (PSOE) zu einer grossen Koalition gegen uns einlädt, jedes Mal, wenn die Ideologien der alten Sozialdemokratie über die Medien versuchen, der Partei zu verbieten, eine Zukunft mit uns zu gestalten, sind wir mit dem politischen Feld jener Oligarchie konfrontiert, die uns als Widersacher definiert hat.

Das politische Feld wird nicht von heiliggesprochenen Theoretikern definiert, und genausowenig von Schlagworten, sondern von den historischen Gegebenheiten. Die 21 Grundsätze von 1920 waren kein ideologisches Manifest, sondern das Ergebnis der Ereignisse von 1917 in einem unterentwickelten Land wie Russland, ebenso war dies die Volksfrontpolitik des 7. Kominternkongresses, die die verhasste Politik des Kampfes Klasse gegen Klasse angesichts des aufkommenden Faschismus beendete. Wenn die Regierungsprogramme der eurokommunistischen Parteien gegen Ende der 70er Jahre eher jenen der nordeuropäischen Ländern glichen als den der realsozialistischen Länder, so entsprach dies keiner theoretischen Abweichung, sondern den historischen Erfordernissen, die die Bedingungen der ideologischen Möglichkeit vorgeben für den Fall, dass diese in ein Regierungsprogramm umgesetzt werden müssen.

Enrico Berlinguer, jener italienische Generalsekretär der Partei mit höchster Loyalität der Republik und dem Staat gegenüber, der erklärte, sich unter dem Schutzschirm der NATO wohlzufühlen, berief sich in jenem legendären Interview im Corriere della sera nicht auf seine spezifische „Ideologie“, sondern drückte seinen pragmatischen Willen als politischer Führer aus, eine in einem westlichen Land anwendbare Regierungsideologie zu formulieren. Der historische Zusammenbruch des Eurokommunismus, der im Fall Spaniens katastrophal war, mindert nicht den Wert einer Haltung in einem Moment, als es darum ging, eine landesweite ideologische Debatte zu führen (wobei ich jetzt an Italien denke), die nicht nur die italienischen Sozialisten, sondern auch die Democracia Cristiana einschliessen sollte.

Die chilenische Erfahrung – eine der fortgeschrittensten des demokratischen Sozialismus – war, dass der Erfolg von Allende auf seiner Fähigkeit beruhte, wichtige Sektoren der chilenischen Christdemokraten in seine politische Logik und sein Programm einzubinden. Nur der Druck seitens der Vereinigten Staaten und dessen Durchsetzung im Rahmen des Staatsstreichs konnten den ideologischen Erfolg Allendes bremsen, der die US-Regierung herausgefordert hatte.

Heute werden die Ideologien und internationalen Beziehungen nicht mehr im Rahmen des Kalten Krieges definiert und es ist daher notwendig, den politischen Raum der Linken und der Sozialdemokratie zu überdenken. Trotz der möglichen Zerbrechlichkeit der historischen Metaphern, mit denen die politischen Felder eingestuft werden mögen, erweisen sich die möglichen Regierungsprogramme als fundamental und grenzen sehr wohl die verschiedenen realen politischen Felder voneinander ab. Die „Linke“ ist eine Metapher im Rahmen der parlamentarischen Logik der französischen Revolution und der Abgrenzung des Kommunismus von der Sozialdemokratie; sie ist nur im Zusammenhang mit den Ereignissen des 20. Jahrhunderts eines Eric Hobsbawm verständlich. Angesichts der aktuellen Situation unseres Landes und Europas ist es erforderlich, die Debatte hinsichtlich der konkreten Analyse der konkreten Situation zu eröffnen, und das heißt zu überlegen, was in einer Regierung eines Landes im Süden Europas zu tun wäre.

Die Grenzen der eigenstaatlichen Kapazitäten der Nationalstaaten und ihrer administrativen Mittel im Rahmen der Globalisierung, die Definition des europäischen Projekts selbst, die internationale Wirtschaftskonkurrenz, die Sicherheit sowie die militärischen und geostrategischen Bündnisse, die Begrenzung der unkontrollierten Umweltbelastung sind Inhalte einer Debatte, die unumgänglich ist.

Wir wollen Spanien regieren und wissen, dass wir dies nicht alleine tun können. Die von uns vorgeschlagene Steuerpolitik, der Übergang zu dem von uns vorgesehenen Energiemodell, die Reindustriealisierung, die Anpassung der Institutionen an die plurinationale Realität unseres Landes, der Vorschlag zur Steigerung der Investitionen in Wissenschaft, Forschung und Technik sind Themen, die über den Wahlkampf hinausreichen. Aus diesem Grund brauchen wir eine ideologische Debatte über die Politik des Staates, über die Notwendigkeit einer gerechteren Gesellschaft, über Zusammenarbeit in Europa, um das europäische Projekt aus sozialer Sicht neu zu definieren, über die europäische Geopolitik und die Verteidigungspolitik, die erforderlich ist.

Daher laden wir den Partido Socialista ein, mit uns ernsthafte Gespräche zu führen. Wenn diese Partei kein Harakiri riskieren will, zu dem sie einige schlechte Ratgeber und Eigentümer von Tageszeitungen animieren, wird sie weiterhin eine entscheidende politische Kraft bleiben, die notwendig ist für die Konstituierung des neuen politischen Raums, als Alternative zu den Konservativen in Spanien.

Es besteht kein Zweifel daran, dass Bedeutungen immer hinterfragbar sind, aber ich glaube keinesfalls, dass die Sozialdemokratie ein Etikett der Vergangenheit ist. Eine Vierte Sozialdemokratie – im Sinne der Möglichkeit der Durchsetzung verteilungsgerechter Politik im Rahmen der Marktwirtschaft, der Sicherung des sozialen Netzes und der Steuergerechtigkeit als Antriebskräfte der wirtschaftlichen Entwicklung auf Grundlage der internen Nachfrage als Motor zur Veränderung des produktiven und industriellen Modells sowie Stimulus für einen sozialen und unabhängigen Europäismus – erscheint mir als die beste Option für Spanien und Voraussetzung für den politischen Raum, der den politischen Kräften zukommt, die die Konservativen besiegen können.

Es hängt von uns ab, eine landesweite ideologische Debatte zu führen, aber wir wollen dies nicht alleine tun, wir wollen es nicht ohne die alte sozialistische Partei tun.

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