Die institutionelle Krise Spaniens ist in ein neues Stadium getreten, am 10. November sind Neuwahlen. GERHARD STEINGRESS gibt einen Ein-und Überblick in den politischen Zerfallsprozess.
Die konservative Minderheitsregierung von Mariano Rajoy scheiterte im Juni 2018. Grund dafür war die langjährige institutionelle Krise im Gefolge der katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen, der zunehmend heftigeren Proteste gegen den Sozialabbau und der immer massiveren Korruptionsvorwürfe, die in einer Verurteilung der konservativen Partei (Partido Popular, PP) durch den obersten Gerichtshof gipfelten. Der in den letzten Jahren als Quereinsteiger bekannt gewordene und nach parteiinternen Querelen gestärkte Vorsitzende des Partido Socialista Obrero Español (PSOE, der spanischen sozialistischen Arbeiterpartei), Pedro Sánchez, übernahm nach einem von Podemos und anderen kleineren, regionalen Parteien unterstützten Misstrauensantrag die Regierungsgeschäfte. Rajoy schied aus der Politik aus, und der 37-jährige Pablo Casado folgte ihm als Parteivorsitzender. Eine für weite Bevölkerungskreise desaströse Ära war zu Ende gebracht, die politische Macht neu verteilt.
Neuformierung der Konservativen
Doch Sánchez stieß in weiterer Folge auf harten Widerstand. Dieser kam einerseits von jenen katalanischen Parteien, die auf ihrer Forderung nach Unabhängigkeit Kataloniens und der Freilassung der seit Oktober 2017 in U-Haft befindlichen Politiker der Region beharrten und die zwiespältige Haltung der Sozialisten zur katalanischen Frage kritisierten. Diese wagten keinerlei Zugeständnis für ein Referendum und vertraten eine nationalistisch-zentralistische Position, um der Propaganda von rechts entgegenzutreten, die ihnen Geheimgespräche mit den sogenannten Sezessionisten und damit Landesverrat vorwarfen. Während das linke Lager, bestehend aus PSOE und Unidos Podemos, nicht in der Lage war und ist, eine gemeinsame Linie zu finden, zerfiel das rechte Lager in drei größere Fraktionen, denen es nunmehr darum geht, aus machtpolitischen und wahltaktischen Überlegungen erneut zusammenzufinden. Es besteht seither insbesondere aus dem stark geschwächten Kern der rechtskonservativen PP unter der Führung von Pablo Casado und der 2006 in Barcelona gegründeten neoliberalen Partei Cuidadanos unter dem Vorsitz von Alberto Rivera, die als »saubere« Alternative im rechten Lager auftritt. Dazu kommt die aus dem zerfallenden PP entstandene erzreaktionäre Partei Vox unter Santiago Abascal, die den offen frankistisch orientierten Teil des PP repräsentiert. Sie wurde nun nach den Wahlen zum Zünglein an der Waage, das die beiden anderen konservativen Parteien zu einem verschärften nationalistischen, antifeministischen und migrantenfeindlichen Kurs drängt.
Die institutionelle Krise Spaniens trat damit in ein neues Stadium. Sánchez durfte den katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen nicht entgegenkommen, und aus Rücksicht auf den mächtigen rechten Flügel seiner Partei wahrt er Distanz zu Podemos, jener 2014 gegründeten und aus einer breiten sozialen Basisbewegung hervorgegangenen linken Partei unter Vorsitz von Pablo Iglesias, die zur massiven Konkurrenz für die Sozialisten wurde. In Koalition mit der kommunistischen Izquierda Unida hatte diese bei den Parlamentswahlen 2016 als Unidos Podemos mehr als 21 Prozent der Stimmen erhalten und war zur drittstärksten Fraktion geworden. Doch erhielt Sánchez nach seiner Regierungsübernahme im Juni 2018 wegen seiner zaghaften Reformpolitik weder von dieser noch von anderer Seite die erforderliche parlamentarische Unterstützung für das Budget 2019. Die Cortes Generales, bestehend aus dem Congreso de Diputados und dem Senat, wurden daher nach dem Scheitern der Budgetverhandlungen aufgelöst und vorgezogene Wahlen für den 28. April 2019 angesetzt.
Die Wahlbeteiligung war angesichts dieser zugespitzten Situation mit 75,75 Prozent sehr hoch und Pedro Sánchez wurde zum eindeutigen Sieger. Seine Partei erhielt 123 der 350 Sitze (28,68 % der abgegebenen gültigen Stimmen) im Parlament, gefolgt vom PP unter Pablo Casado mit 66 Sitzen (16,70 %), von Ciudadanos unter Alberto Rivera, 57 Sitze (15,86 %). Die als Unidas Podemos angetretene Formation unter Pablo Iglesias kam zusammen mit der verwandten lokalen Liste En Comú auf 42 Mandate (14,31 %). Die rechtsextreme Partei Vox zog mit 24 Sitzen (10,26 %) erstmals in das Parlament ein. Ebenfalls Sitze dazugewonnen haben Esquerra Republicana de Catalunya-Sobronanistas (ERC), eine der katalanischen Unabhängigkeitsformationen (+6), die linke baskische Koalition Bildu (+2) sowie die konservative nationalistische Partei des Baskenlands und Kleinparteien von den Kanaren, aus Navarra und Kantabrien mit jeweils ein bis zwei zusätzlichen Sitzen.
Statt linker Koalition unverbindliche »Kooperation«
Die Volkspartei verlor angesichts des Auftretens konkurrierender Rechtsparteien mehr als die Hälfte ihrer bisherigen Mandate. Deren Verluste ergaben den Stimmenzuwachs für Cuidadanos und die alarmierende Stärkung der rechtsextremen Formation Vox, die erstmals auf nationaler Ebene kandidierte. Zusammen verfügen diese drei Rechtsparteien also über 147 der 350 Sitze gegenüber den 173 Mandaten der linken Parteien (PSOE, Unidas Podemos, Esquerra Republicana und Bildu). Unidas Podemos verlor etwa ein Drittel der vorher erzielten Mandate an die Sozialisten, die angesichts des linken Konkurrenten für eine progressive Regierung geworben hatte. Das Ergebnis zeigt, dass die spanischen Wähler und Wählerinnen sich eindeutig für einen politischen Wechsel ausgesprochen hatten. Es lag daher an den Sozialisten und Podemos, eine linke Koalitionsregierung zu bilden, um die unter konservativer Herrschaft beschlossenen neoliberalen Maßnahmen zurückzunehmen und eine Politik im Interesse der Lohnabhängigen und Autonomen einzuleiten. Doch für eine stabile Regierung benötigt Sánchez nicht nur die parlamentarische Mehrheit von mindestens 176 Stimmen, also war er auf die Unterstützung von Unidas Podemos und der katalanischen sowie baskischen Nationalisten angewiesen, um im Rahmen der Investitur in einem zweiten Wahlgang die erforderliche einfache Mehrheit zu erreichen.
Der Möglichkeit, mit Unterstützung der ideologisch und programmatisch weit entfernten Cuidadanos zu regieren, erteilte Alberto Rivera eine entschiedene Absage. Der sozialistische Anwärter auf das Amt des Regierungschefs musste also versuchen, eine linke Koalition zu schmieden. Und genau an diesem Punkt setzte das momentane Katz-und-Maus Spiel an. Sánchez lavierte: Einerseits will er keine offene Koalition und damit Regierungsbeteiligung mit der linken Unidas Podemos, weil er damit innerhalb der sozialistischen Nomenklatura auf großen Widerstand stößt, andererseits braucht er diese Unterstützung, weil die breite Gefolgschaft seiner Partei auf Sozialreformen pocht, die nur durch den Druck von links durchzusetzen wären. So redet er statt von einer Koalition von einer unverbindlichen »Kooperation«, denn er will allein regieren und nur gelegentlich linke Forderungen berücksichtigen. Diese Unverbindlichkeit als Prinzip des Regierens sollte sich am linken Block in Portugal orientieren. Überdies setzt Sánchez auf punktuelle Unterstützung durch die beiden konservativen Parteien, die aber jegliche Zusammenarbeit mit den Sozialisten ablehnen.
Unidas Podemos erlitt bei den Wahlen massive Verluste, zu stark war der Wunsch, Pedro Sánchez als sozialistischen Ministerpräsidenten abzusichern, was viele ehemalige sozialistische Wähler zur Rückkehr zu ihrer Stammpartei bewog. Podemos bzw. Unidas Podemos sind auch schwere Fehler unterlaufen: Regionale und ideologische Widersprüche führten zu Abspaltungen, es kam zu Konkurrenzkandidaturen wie in Madrid, die die Abwahl der seit 2015 amtierenden progressiven Bürgermeisterin Manuela Carmena nach sich zog. All das schwächte diese einst so hoffnungsvoll angetretene Formation, die von rechts als marxistische Truppe denunziert wird. Dennoch bleibt festzuhalten, dass das politische Auftreten von Podemos und schließlich Unidas Podemos seit 2014 maßgeblich zur Veränderung der politischen Verhältnisse in Spanien beigetragen hat.
Extrem rechtes Zünglein an der Waage
PP und Cuidadanos ringen derzeit um ihr Verhältnis zu Vox. Einerseits bestehen ideologische Affinitäten, andererseits will man sich nicht offen mit dieser extrem rechten Formation einlassen. Doch wenn es um die Macht in den einzelnen Regionen geht, gewinnt Vox immer wieder Gewicht als Zünglein an der Waage.
Die Verhandlungen der Sozialisten mit Unidas Podemos scheiterten. Einerseits waren sie seitens der Sozialisten zu kurzfristig angesetzt, andererseits waren die Auffassungsunterschiede zu groß. Sánchez’ Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Iglesias war halbherzig und immer wieder von Rückziehern durchsetzt. Schließlich stellte er sogar die Bedingung, Pablo Iglesias als Person von der Regierung auszuschließen. Um die Tag und Nacht laufenden Verhandlungen nicht zu gefährden, verzichtete Iglesias vier Tage vor der entscheidenden Abstimmung auf jedes Amt in der geplanten Koalitionsregierung: »Ich sollte nicht die Entschuldigung der Sozialisten sein, dass es keine Regierungskoalition der Linken gibt«, verlautete er auf Twitter. Doch Sánchez’ Wahl scheiterte am 25. Juli in zweiter Runde. Er verweigerte ein für Unidas Podemos akzeptables Programm für die von ihm propagierte »Regierung des Wandels«. Unidas Podemos enthielt sich, die rechten Fraktionen stimmten gegen ihn, der Rest (bis auf die Stimme des kantabrischen Abgeordneten) enthielt sich ebenfalls.
Seither drängen viele zivilgesellschaftliche Organisationen, inklusive Gewerkschaften, auf eine neue Gesprächs- und Verhandlungsgrundlage der zwei linken Parteien, denn die ansonsten fälligen Neuwahlen wollen beide nicht riskieren. Doch auch diese Initiativen blieben erfolglos. Kategorisch erklärte Sánchez sein Programm für verpflichtend.
Julio Anguita, von 1988 bis 1998 amtierende Generalsekretär der Kommunistischen Partei Spaniens und Koordinator der Vereinigten Linken, hatte das Scheitern längst vorhergesehen. Es sei logisch, betonte er, dass in einer Koalitionsregierung Vertreter aller daran beteiligten Kräfte vertreten sind. Die PSOE werde jedoch dem Konkurrenten Unidas Podemos kein Regierungsamt zugestehen. Dies würden weder die EU noch das im Iberia Index, kurz IBEX, konzentrierte Finanzkapital zulassen; ebenso wenig die mächtige Rechte innerhalb der sozialistischen Partei; und schließlich gebe es in Spanien keine Kultur der politischen Pakte wie im übrigen Europa. Diese Situation sei im Wesentlichen eine Folge der nach dem Ende der Franco-Diktatur weiter bestehenden reaktionären Strukturen in der Gesellschaft.
Ähnlich äußerte sich jüngst Vincenz Navarro, ein renommierter katalanischer Politikwissenschaftler. Die fehlende Bereitschaft der Sozialdemokraten zu einer Koalition bringe zusätzliche enorme Kosten für die breiten Volksschichten und frustriere ihre Wähler und Wählerinnen. Dies fördere den europaweiten Rechtsruck. Die Ablehnung einer Koalitionsregierung mit Unidas Podemos sei nicht programmatisch oder mit einer angeblichen Inkompetenz seiner Vertreter begründbar, sondern dahinter stecke der Verzicht der Sozialisten auf ihren bloß wahltaktisch propagierten Reformwillen. Dies wiederum sei die Konsequenz ihrer Unterordnung unter die neoliberalen Kräfte des Landes und in der EU. Deshalb werde Pablo Iglesias, der Generalsekretär von Unidas Podemos, medial verteufelt und herablassend behandelt, trete doch allein diese Formation – nicht zuletzt wegen ihrer Fähigkeit, andere oppositionelle Gruppen einzubinden – ernsthaft gegen das Establishment auf.
Und nun: Neuwahlen mit ungewissem Ausgang
Eine Koalition mit Unidas Podemos wird von Sánchez und dem PSOE daher als Gefahr und Konkurrenz wahrgenommen und abgelehnt, weil sie bedeuten würde, eine Kraft in der Regierung zu haben, die Druck in Richtung tiefgreifender Reformen ausübt. Doch damit wird die Rückkehr der 1978 unter Druck der postfrankistischen Kräfte etablierten konstitutionellen Monarchie wahrscheinlich. Die zahlreichen Korruptionsskandale, das skandalöse Verhalten der Königsfamilie, der Machtmissbrauch und die Verbrechen des »tiefen Staates«, die unzulängliche, ja boykottierte Aufarbeitung der Verbrechen während der Francoherrschaft zeugen dafür und bereiten den Boden für eine zunehmende Polarisierung der politischen Kräfte, die durch das Auftreten der neofaschistischen Partei Vox und durch den zunehmenden zentralspanischen Nationalismus in den konservativen Parteien akzentuiert wird. Insbesondere im Zusammenhang mit den katalanischen und baskischen Unabhängigkeitsbestrebungen geht es um die Überwindung der korrupten und morbiden, aus dem faschistischen Erbe Spaniens übernommenen Bourbonenherrschaft und die Wiederherstellung der Spanischen Republik sowie die Befreiung der im Oligarchentum gefangenen Demokratie.
Pedro Sánchez weiß, dass er ohne die Unterstützung von Unidas Podemos nicht nächster spanischer Regierungspräsident werden kann. Doch er will allein regieren und ohne die Unterstützung seitens Iglesias bräuchte er dazu zumindest die Stimmenthaltung seiner beiden größten Gegner, dem äußerst rechten PP und dessen Ableger Cuidadanos. Würde er dies erreichen, wäre sein Ruf als reformwilliger sozialistischer Politiker zerstört.
Es war klar gewesen, dass Sánchez’ Katz-und-Maus-Spiel mit 23. September befristet war. Sollte er bis dahin nicht die erforderliche Mehrheit schaffen, würden für den 10. November Neuwahlen anzusetzen sein. Wie nun am 17. September, nach Ablauf der Konsultationen bekannt wurde, ist es zu keiner Einigung gekommen, weshalb der spanische König mangels parlamentarischer Unterstützung keinen Kandidaten für eine neuerliche Investitur benannt hat. Somit steht fest: Am 10. November gibt es Neuwahlen.
Gerhard Steingress ist emeritierter Universitätsprofessor für Soziologie an der Universität Sevilla.