»Die neuen politischen Führer träumen nicht von einer Veränderung der Gesellschaft.« Ivan Krastev, Europadämmerung
Er ist tief in der Politik verwickelt, er ist kein Politiker (geschweige denn ein politischer Führer), er ist klug und doch ein Träumer, er war und ist noch immer: Peter Kreisky.
VON RADOVAN GRAHOVAC.
Es ist nicht sicher, ob die politischen Führer je etwas erträumten, im Sinne von Ivan Krastev. Um ein Politiker oder, noch schlimmer, ein politischer Führer zu sein, muss man ein Pragmatiker, ein kompromissbereiter Mensch sein. Peter Kreisky war das alles gewiss nicht.
Die Themen, die Peter Kreisky sein Leben lang leidenschaftlich beschäftigten, die Zukunft des Sozialstaats, Feminismus, Flüchtlingsfragen, das Zusammenschrumpfen der linken Szene und die damit verbundenen Fragen der Organisierung einer »neuen linken« Gemeinschaft, um nur einige aus dem großen Umfang der großen ihn umtreibenden Fragen zu nennen, sind höchst aktuell.
Eva Brenner hat als Herausgeberin und Autorin dieses Buches eine Hommage an Peter Kreisky, den Träumer, geschaffen. Als erfahrene Theaterfrau wählte sie für die Dramaturgie ihres Buches eine klassische Sonatensatzform: ABA. Sie zögerte nicht, sich auf ihre intimen Gefühle und in die intime Psyche Peters einzulassen. Auch ihre MitautorInnen fragt sie nach deren Gefühlen Peter gegenüber, nicht nur nach deren rationale Gedanken über ihn aus.
Peter Kreisky war ein Mensch, der niemanden kalt lassen konnte. Das Buch »Den Bruch wagen« ist der beste Beweis dafür. Alle AutorInnen, die ihre Beiträge im Buch veröffentlicht haben, sind in einem einig: Peter Kreisky war ein außerordentlicher Mensch, ein Mensch, bei dem Privates von Politischem nicht getrennt werden kann.
Teil A
In diesem ersten A findet man ein Gedicht, das Konstantin Kaiser Peter Kreisky gewidmet hat: Etwas Schwingendes ging von dir aus / Sätze, die in ihrer Mitte Platz ließen / für die Einwürfe der anderen …
In einem Auszug aus dem Roman Herr Groll im Schatten der Karawanken von Erwin Riess treffen wir Peter als Romanfigur. Sind die surrealen Situationen der Romanhandlung eine schriftstellerische Erfindung? Leider nein.
In kühnerem und etwas kälterem Ton geht es weiter: Hannes Swoboda, Walter Baier, Irmtraut Karlsson, Leo Gabriel, Michael Genner und Margit Hahn analysieren einige von Peters schon erwähnten Interessen und seine Aktivitäten und fragen: Was hat sich in den letzten zehn Jahren, seit Peters Tod, geändert? Wie weit sind wir gekommen?
Teil B
Yuval Noah Harar: »We humans know more truths than any species on earth. Yet we also believe the most falsehoods.« (The big Ideas: What is Power, www.nytimes.com)
Die vier Texte von Petar Kreisky zeigen, warum er nicht Politiker sein konnte. In klarem, fast trocken wissenschaftlichem Stil analysiert Kreisky Linkssozialismus und »Neue Linke« (2007), Two »Welfare States« (2008), Gesundheitssicherung als Problem des politisch-administrativen Systems (1978) und Undogmatische Linke zwischen »Tauwetter« und neuer autoritärer Wende (2002).
Aus Gesprächen mit Eva Brenner weiß ich, dass die Auswahl der Texte durch Verfügbarkeit und Verlagsrechte bedingt ist. Dennoch kann man aus den vorhandenen Texten eine konsequente Art und Weise des Denkens und der Darstellung sehen. Sein Schreiben ergibt sich entlang zweier Bewegungen. Die Analysen folgen einer horizontalen Achse der Zeit und parallel einer räumlichen Betrachtung der untersuchten Phänomene.
Seine Analysen sind nie nur auf Gegenwart oder Vergangenheit oder auf Zukunft gerichtet.
Er wusste genau, dass die gesellschaftlichen Ereignisse Prozesse sind, deren Verständnis nicht zu gewinnen ist ohne Kenntnis ihrer Genese.
Er analysierte Probleme nie isoliert. Immer ist dabei auch ein anderer Raum zu betrachten, um so vergleichend unseren Raum besser darstellen und verstehen zu können.
Dieses Verfahren erhellt der Text Gesundheitssicherung als Problem des politisch-administrativen Systems (1978). Es scheint sich auf den ersten Blick um eine strenge Expertenanalyse zu handeln. Doch durch Peter Kreiskys Werdegang öffnet sich dieses Thema zu einer Kritik des gesamten Systems. Aus diesem Ausschnitt eines Themenfeldes heraus hat er uns einen tiefen Einblick und eine profunde Analyse des Systems ermöglicht.
Sein dialektisch geprägter Zugang birgt zugleich eine Hürde für die Praxis der Politik. Pragmatische PolitikerInnen brauchen keine breiteren und tieferen Analysen für ihre Taten. Sie müssen sicher, einfach auf das Ziel gerichtet sein. Sie dürfen nicht zweifeln und sie dürfen nicht zeigen, dass ein Problem mehrere Lösungen haben könnte.
Peter betrachtete und beleuchtete jedes Thema aus mehreren Perspektiven. Das bringt keine einfachen und schnellen Resultate. Er wusste, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist und hält immer eine Reserve für Enttäuschungen offen. Trotzdem blieb er bis zum Ende seines Lebens ein optimistischer Mensch. Im Text Links sozialismus und »Neue Linke« (2007) trägt ein Kapitel den Titel: Die langen Zyklen der Demokratisierung – Demokratie braucht einen langen Atem.
Das zweite A – der dritte Teil des Buches
Neben Erinnerungen an Peter von Lore Heurmann, Oliver Rathkolb, Tineke Ritmeester und Rudolf Gelbard findet man von Peter Fleissner eine sehr passende Beschreibung von Peters Arbeit an dem oben erwähnten Text Gesundheitssicherung als Problem des politisch-administrativen Systems aus 1978 von damaligen Forschungsassistenten am Institut für Höhere Studien und Wissenschaftliche Forschung, wo Peter Kreisky postgradual Politikwissenschaften studierte. Dieser Text wurde im Rahmen des Studiums geschrieben.
Ein persönliches Geständnis der reziproken Beziehung von Herausgeberin Eva Brenner beschließt das Buch. Darin heißt es: Mit dem Titel »Den Bruch wagen« ist der Ton angeschlagen, der die Frage aufwirft, ob Peter Kreisky, hätte er länger gelebt und wäre er weniger belastet vom politischen Erbe des großen Vaters gewesen, den Bruch mit den traditionellen Parteien und Institutionen gewagt hätte.
Für alle, die sich für die Probleme der Zeit interessieren, ist das Buch Den Bruch wagen ein ausgezeichnetes »Kompendium«, um für sich selbst die Wege zum Bruch zu finden.
Ich erinnere mich gut an ein Jumbo- Plakat aus den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts: Wenn du die Welt ändern möchtest, ändere zuerst dich selbst!
Eva Brenner (Hg.): Den Bruch wagen. Texte von und über Peter Kreisky. Wien: Mandelbaum Verlag 2019, 253 Seiten, 25 Euro