Ein Blick auf die großen Krisen des Kapitalismus, deren Bewältigung immer zu Lasten der breiten Bevölkerung versucht wurde, legt zwar die Notwendigkeit von politischen Regulierungen nahe, hält aber an der Notwendigkeit eines System Changes fest.
Nach dem marxistischen Verständnis von Wirtschaft gehören Krisen zum Kapitalismus wie das Amen zum Gebet. Dafür ist die so genannte Anarchie der kapitalistischen Produktion verantwortlich, die einem Unternehmen egoistische Entscheidungen zur Gewinnmaximierung erlaubt, ohne auf die anderen Unternehmen oder die Bevölkerung Rücksicht zu nehmen. Bekannt wurde die Tulpenkrise in den Niederlanden zwischen 1634–1637. Im 19. Jahrhundert brachen die Wachstumsraten alle sieben bis zehn Jahre ein. Während diese Krisen eher lokale Auswirkungen hatten, kam es 1857 zur ersten Weltwirtschaftskrise, die ihren Ausgang von New York City nahm. Als dort eine Bank ihre Zahlungen einstellte, kam es zu einer Kettenreaktion von Zusammenbrüchen, die sich rasch über die gesamte Welt ausbreiteten. Die Finanzzentren Europas und Amerikas waren besonders stark betroffen.
In den 1870er-Jahren kam der nächste Krisenschub: Das Ende des Booms der Gründerzeit in Österreich und Deutschland, der zeitgleich mit einer US-amerikanischen Wirtschaftskrise erfolgte, führte zu einer langdauernden Stagnation in allen entwickelten Ländern der Erde.
Am Freitag, dem 25. Oktober 1929, der als »schwarzer Freitag« in die Geschichte einging, brachen die Börsenkurse an der New Yorker Wall Street zusammen und lösten in allen wichtigen Industrienationen eine Kette von Unternehmenszusammenbrüchen, Massenarbeitslosigkeit und Preisverfall aus. Es begann die »große Depression«, die erst nach vielen Jahren ein Ende fand. Aber immer wieder wurden die Krisen durch Wachstumsperioden abgelöst, die maximal 20 Jahre andauerten, oder – weniger günstig – von längeren Stagnationsperioden mit eher bescheidenen Wachstumsraten. Manche der Krisen brachten in ihrem Gefolge verstärkten Widerstand gegen das kapitalistische System, andere dagegen führten zu einer Modifikation des Kapitalismus selbst, aber alle verschlechterten die Lebensqualität weiter Bevölkerungskreise und bürdeten der Bevölkerung neue Lasten auf. Auf der politischen Ebene waren und sind Nationalismus und Rechtsentwicklung häufige Folgen.
Nur wenige ÖkonomInnen sahen voraus, dass schon bald nach der Jahrtausendwende eine weitere weltweite Krise im Ausmaß der »großen Depression« den Globus erschüttern würde. Ausnahmen bestätigten allerdings die Regel: Stephan Schulmeister, aber auch der »paläoliberale«1 Universitätsprofessor Erich Streissler von der Wiener Universität warnten schon einige Jahre vor dem großen Crash vor einem Zusammenbruch der US-Finanzmärkte, ohne den genauen Zeitpunkt vorhersagen zu können. Im Kreis der Fachleute war dennoch die Überraschung groß, als die New Yorker Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 tatsächlich Bankrott machte: Diese große Bank hatte einen Berg dubioser Wertpapiere (CDS – Credit Default Swaps) angeboten, der ihr Eigenkapital weit überstieg. Die Kombinationspapiere waren von Ratingagenturen als sehr gut eingestuft worden. Sie wurden von den Banken der ganzen Welt als sichere Anlage gekauft. Als einzelne Kunden begannen, ihre Einlagen abzuziehen, konnte sich Lehman nicht mehr selbst finanzieren und musste schließen. Das vorher Undenkbare war Wirklichkeit geworden. Die Finanzkrise zeigte aber erst in den folgenden Monaten ihr ganzes Ausmaß, als immer mehr Finanzinstitutionen zu schwanken begannen. Mittelgroße Banken wurden sogar verstaatlicht, in den USA ein echter Skandal, vier kleinere (Bear Stearns, Washington Mutual, Wachovia und Countrywide) verloren ihre eigenständige Existenz. Manche sprachen gar vom Ende des US-Kapitalismus.
Die Krise in Europa
Das Überschwappen der Krise auf Europa führte in der EU zu einem Rückgang des Brutto-Inlandsprodukts. Es erreichte wegen der dauerhaft niedrig bleibenden Investitionen erst 2016 wieder das Niveau des Vorkrisenjahrs 2007. Manche sprechen von einem »verlorenen Jahrzehnt«. Durch die Entwertung von Wertpapieren, Immobilien und Rohstoffen schrumpften die Vermögenswerte der europäischen Banken und damit ihr Eigenkapital.
Anders als beim Börsenkrach 1929 waren die Regierungen bereit, ihre großen Finanzinstitutionen zu retten. In Großbritannien brachte die eigene Notenbank die nötige Liquidität auf, in Deutschland und Österreich finanzierte sich der Staat am Anleihenmarkt zu niedrigen Zinssätzen. In den südlichen Mitgliedsländern der EU war die Beschaffung von zusätzlichem Geld viel schwieriger. Als Mitglieder der europäischen Währungsunion stand ihnen keine eigene Notenbank zur Verfügung (die Europäische Zentralbank darf keine Euros ausgeben). Wegen der Wetten von großen Spekulanten auf den Bankrott von einzelnen stark verschuldeten Euroländern waren überdies die Zinsen auf den Anleihemärkten gestiegen. Eine Refinanzierung der Schulden wurde vor allem für Griechenland praktisch unmöglich. Die von den Banken Südeuropas gehaltenen Anleihen verloren an Wert, sie brauchten mehr Staatshilfe, wodurch wieder die Staatsschulden wuchsen und die Anleihekurse weiter sanken – ein Teufelskreis, von dem 2012 auch Spanien und Italien erfasst wurden.
Da es in Euroland durch die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Lissabon bisher verboten war, dass die Europäische Zentralbank oder die Mitgliedsländer einander helfen, bedurfte es 2012 einer Ankündigung des EZB-Chefs Draghi, dass der Euro mit allen Mitteln verteidigt werden würde. Dadurch sanken die Zinsen für Staatsanleihen. Auch die Länder Südeuropas (mit Ausnahme Griechenlands) konnten sich so refinanzieren. Um einen Preisverfall zu verhindern und die Liquidität zu steigern, kaufte die EZB überdies von März 2015 bis Juli 2018 Staatsanleihen der Mitgliedsstaaten im Wert von zweitausendfünfhundert Milliarden Euro (!), wodurch sie zum größten Gläubiger der Mitgliedsländer wurde. Erst mit Ende 2019 sollen keine weiteren Käufe getätigt werden.
Griechenland war von diesem Programm ausgeschlossen. Es wurde unter den Europäischen Rettungsschirm gestellt, womit äußerst harte Sparmaßnahmen verbunden waren, die zu einem sozialen Desaster führten. Die Eurogruppe, ein informelles, demokratisch nicht abgesichertes Gremium, entsandte in kolonialer Manier Vertreter der Troika, die aus der Weltbank, dem Interntionalen Währungsfonds und der Europäischen Kommission bestand, nach Griechenland, die darauf achteten, dass alle Auflagen exakt eingehalten werden. Nur wenn diese erfüllt würden, könnten Milliardenkredite fließen, um den Staatsbankrott abzuwenden, der durch eine Überschuldung des Staatshausshalts drohte. Die Regierung Tsipras willigte letztlich in diese erpresserischen Auflagen ein. Das katastrophale Ergebnis: Ein Rückgang des BIP zwischen 2008 und 2016 um 26,2 Prozent, die Nachfrage nach Konsumgütern um 24,4 Prozent. Welche menschlichen Tragödien sich dahinter verbergen, lassen diese trockenen Zahlen kaum ahnen.
Zehn Jahre später
Zehn Jahre später ist alles anders. Scheinbar keine Rede mehr von Problemen mit dem Finanzkapital. Der Nettoumsatz der global agierenden Investmentbanken lag 2017 bei etwa 85 Milliarden Dollar und damit höher als die 80 Mrd. im Jahr 2006 und nur unwesentlich weniger als die 90 Mrd. im Vorkrisenjahr 2007. Die fünf größten Geschäftsbanken der USA sind die gleichen geblieben wie vor elf Jahren. Die Bereinigung der Banken hatte überraschender Weise überall das gleiche Resultat: Die größten Banken wurden noch größer, der Anteil der fünf größten Banken des Sektors wuchs. Allerdings hat sich der Bankenanteil an den 500 Unternehmen, die im Standard & Poors Index notieren, von 10 auf 6 Prozent reduziert.
Die renommierte Wirtschaftszeitschrift Economist stellt zum zehnjährigen Jahrestag des Bankenkrachs fest, dass sich »die Wolken verziehen«. Es ließen sich wieder »maßvolle Gewinne machen«, die Wirtschaft expandiere, die Qualität bei Krediten wäre gut, die regulierenden Eingriffe gingen zurück. Also alles wieder wie vor der Krise? Man könnte es beinahe annehmen, denn an die Topmanager werden nach wie vor Spitzengehälter bezahlt, an den Chef von AIG, Brian Duperreault, 43 Millionen Dollar, an James Dimon von JPMorgan »nur« magere 29,5 Millionen Dollar, während sich Lloyd Blankfein von Goldman Sachs mit 24 Millionen Dollar, und Brian Moynihan von der Bank of Amerika mit 23 Millionen Dollar begnügen.
Die Beharrlichkeit der Finanzwelt zeigt sich aber am stärksten bei den Immobilienkrediten. Immerhin waren in den USA neun Millionen Familien im Zuge der Krise gezwungen worden, ihre Wohnstätten zu verlassen. Oft waren ihnen wieder besseres Wissen uneinbringliche Hypothekarkredite aufgeschwatzt worden. Bis heute sind die beiden dafür mitverantwortlichen Unternehmen, Fannie Mae und Freddie Mac, die nach ihrer Verstaatlichung kurz vor dem Fall von Lehman abgewickelt, privatisiert oder aufgelöst hätten werden sollen, in ihrem fragwürdigen Geschäft tätig.
Ist nach der Krise vor der Krise?
Obwohl sowohl die USA als auch die EU die Regulierung des Bankensektors verstärkten und eine Erhöhung des Eigenkapitals vorschrieben, ist das Risiko einer weiteren Krise nicht gebannt. Zwar ist das Kernkapital, das die Banken zur Eigenfinanzierung verwenden, in der Eurozone um rund zwei Drittel (von 8,8 % auf 14,7 %), in den USA um rund ein Drittel (von 9,8 % auf 12,9 %) gewachsen, aber die USA schleppen einen Rucksack von Staatsschulden in der Höhe von »21 Billionen Dollar mit, durch die Steuerreform der Trump-Regierung steigt die Verschuldung um eine weitere Billion Dollar pro Jahr an. Das Haushaltsdefizit liegt laut IWF-Prognosen in den kommenden drei Jahren bei fünf Prozent der Wirtschaftsleistung, die staatliche Schuldenquote im Jahr 2023 voraussichtlich bei 117 Prozent. Stärker verschuldet sind dann nur noch Japan (250 %) und Griechenland (165 %), selbst Italien (116 %) wird von den USA überholt«.2 In Deutschland glauben 61 Prozent, dass eine Finanzkrise die größte Bedrohung ihres Wohlstands ist. Immerhin denkt ein wachsender Teil der Bevölkerung in die richtige Richtung: »Eine gar nicht so kleine Minderheit von 15 Prozent stimmt der traditionellen marxistischen Einschätzung zu, das kapitalistische Eigentum sei Quelle der Ausbeutung und der Entfremdung der Arbeiter.«3 Hier kann ich mich anschließen: Obwohl eine verstärkte Regulierung des Finanzkapitals gegenüber dem Realkapital nötig ist – wie Stephan Schulmeister nie müde wird zu betonen, muss letztlich das kapitalistische System durch eine bessere Alternative ersetzt werden.
1 So bezeichnete er sich selbst: alt-liberal, nicht neoliberal
2 Business No 2 2018: 21.
3 https://diepresse.com/home/wirtschaft/economist/5440336/ Kommt-eine-neue-Finanzkrise